Kapitel 10

Mein ganz dem Trübsinn ergebener Bruder war froh, mich zu sehen. Dass seine neue »Familie« ihm nicht über den Weg traute, fraß bereits den ganzen Tag an Jason. Sogar die Werpantherin Crystal, seine Freundin, machte es nervös, sich mit ihm zu treffen, solange die schwarze Wolke des Verdachtes über ihm hing. Als er heute Abend einfach vor ihrer Tür aufgetaucht war, hatte sie ihn nach Hause geschickt. Nachdem ich begriffen hatte, dass er tatsächlich nach Hotshot gefahren war, explodierte ich. Ich erklärte meinem Bruder unmissverständlich, dass er wohl offenbar eine Todessehnsucht hegte und ich mich nicht dafür verantwortlich machen ließe, wenn ihm etwas zustoßen würde - was auch immer. Jason hielt dagegen, ich hätte doch sowieso noch nie die Verantwortung für das gehabt, was er tat; und wieso wollte ich sie gerade jetzt übernehmen?

So ging es noch eine ganze Weile weiter.

Nachdem er mir grollend versichert hatte, dass er einen Bogen um seine Werpanther-Freunde machen würde, trug ich meine Tasche die kurze Diele hinunter ins Gästezimmer. Hier standen sein Computer, seine alten Highschool-Pokale vom Baseball und Football sowie ein uraltes ausklappbares Sofa, das in erster Linie für Besucher gedacht war, die zu viel getrunken hatten und nicht mehr nach Hause fahren konnten. Ich machte mir nicht mal die Mühe, es auseinander zu klappen, verdeckte aber den speckigen Bezug mit einer uralten Steppdecke. Mit einer anderen deckte ich mich zu.

Ich sprach meine Gebete und ließ danach meinen Tag Revue passieren. Er war so ereignisreich gewesen, dass ich unglaublich müde wurde bei dem Versuch, mich an jedes Detail zu erinnern. Nach etwa drei Minuten dämmerte ich weg. In dieser Nacht träumte ich von knurrenden Tieren: Sie schlichen alle im Nebel um mich herum, und ich hatte schreckliche Angst. Irgendwo in den Schwaden hörte ich Jason schreien, obwohl ich ihn nirgends fand, um ihn verteidigen zu können.

Manchmal braucht man nicht mal einen Psychologen, um einen Traum zu analysieren.

Als Jason morgens zur Arbeit ging, hörte ich zwar, wie die Tür knallend ins Schloss fiel, wurde aber gar nicht richtig wach. Ich schlief noch eine Stunde weiter, und als ich dann aufstand, war ich hellwach. Terry wollte heute Morgen zu meinem Haus kommen und mit dem Abriss beginnen, und ich musste unbedingt dort sein und schauen, ob noch irgendwelche Küchensachen zu retten waren.

Weil das ganz sicher eine ziemlich schmutzige Arbeit werden würde, zog ich Jasons alten Blaumann an, den er immer trug, wenn er an seinem Wagen schraubte. Ich sah in seinen Schrank hinein und fand die alte Lederjacke, die Jason für grobe Arbeiten benutzte. Außerdem .griff ich mir einen ganzen Packen Mülltüten. Als ich Taras Wagen anließ, fragte ich mich, wie ich ihre Großzügigkeit eigentlich jemals wieder gutmachen könnte. Ich nahm mir fest vor, auf jeden Fall ihr Kostüm abzuholen. Und weil ich gerade daran gedacht hatte, machte ich gleich einen kleinen Umweg und fuhr bei der Reinigung vorbei.

Zu meiner großen Erleichterung war Terry heute bester Laune. Lächelnd schlug er mit einem Vorschlaghammer die verkohlten Holzbohlen der hinteren Veranda weg. Obwohl der Morgen recht frisch war, trug Terry nur ein ärmelloses T-Shirt, das er in die Jeans gestopft hatte. Es bedeckte die meisten seiner schrecklichen Narben. Nachdem ich ihn begrüßt und bemerkt hatte, dass er nicht zum Reden aufgelegt war, ging ich durch die Vordertür ins Haus. Es zog mich geradezu die Diele entlang zur Küche, wo ich mir den Schaden noch einmal ansah.

Die Feuerwehrleute hatten gesagt, dass der Fußboden stabil sei. Es war mir ganz unheimlich, das verschmorte Linoleum zu betreten, aber nach ein, zwei Minuten fühlte ich mich schon besser. Ich zog Handschuhe über und begann, mich durch Schränke, Ablagen und Schubladen zu arbeiten. Einige Sachen waren geschmolzen oder von der Hitze verzogen. Andere, wie mein Plastiksieb, waren derart verformt, dass ich einen Augenblick brauchte, um zu erkennen, was ich da in Händen hielt.

Die kaputten Dinge warf ich direkt aus dem Fenster auf der südlichen Seite, wo sie Terry nicht im Weg waren.

Den Lebensmitteln, die sich in den Schränken an der Außenwand befanden, traute ich nicht mehr so recht. Mehl, Reis, Zucker - das war alles in Tupperdosen verwahrt, aber auch wenn die Behälter dem Feuer standgehalten hatten, wollte ich deren Inhalt doch nicht mehr benutzen. Und das Gleiche galt für die Vorräte in Dosen; aus irgendeinem Grund fand ich es eklig, Konserven zu benutzen, die so heiß geworden waren.

Zum Glück hatten das Steingutgeschirr, das ich jeden Tag benutzte, und das edle Knochenporzellan meiner Ururgroßmutter den Brand überstanden, weil der Schrank mit diesem Geschirr am weitesten von den Flammen entfernt gewesen war. Das Silberbesteck war auch in gutem Zustand. Mein viel nützlicheres Edelstahlbesteck, das dem Feuer näher gewesen war, hatte sich dagegen stark verformt. Einige der Töpfe und Pfannen konnte ich noch benutzen.

Zwei oder drei Stunden lang arbeitete ich mich vorwärts, wobei ich die Dinge entweder dem anwachsenden Haufen vor dem Fenster anvertraute oder sie in Jasons Mülltüten versenkte, um sie später in meiner neuen Küche wieder zu gebrauchen. Terry arbeitete auch sehr hart und machte nur hin und wieder eine Pause, um sich auf die Ladefläche seines Pick-up zu setzen und Mineralwasser zu trinken. Die Temperatur stieg zeitweise bis auf zwanzig Grad. Wir würden vielleicht noch ein paar Mal Nachtfrost haben, und es bestand immer die Gefahr eines Eissturms, aber der Frühling würde schon sehr bald kommen.

Es war kein schlechter Tag. Ich fühlte mich, als würde ich mir mein Zuhause wieder zurückerobern. Terry war ein anspruchsloser Gefährte, der sich nicht unterhalten wollte und seine Dämonen mit harter Arbeit austrieb. Er war jetzt Ende fünfzig. Das Brusthaar, das ich im Ausschnitt seines T-Shirts sah, war schon angegraut. Und sein Haar auf dem Kopf, das einst goldbraun gewesen war, lichtete sich mit zunehmendem Alter langsam. Doch er war ein starker Mann, der den Vorschlaghammer kraftvoll schwang und die verkohlten Holzbohlen ohne sichtliche Anstrengung auf die Ladefläche seines Pick-up lud.

Terry brachte eine erste Fuhre auf die Müllkippe. Während er weg war, ging ich in mein Schlafzimmer und machte mein Bett - etwas seltsam und albern, zugegeben. Ich würde Laken und Bettwäsche sowieso abziehen und waschen müssen; genaugenommen würde ich jedes Stückchen Stoff im Haus waschen müssen, um endgültig den Brandgeruch loszuwerden. Ich würde sogar die Wände der Diele abwaschen und neu streichen müssen, wenn auch der Anstrich in den restlichen Zimmern noch gut aussah.

Ich machte gerade eine Pause draußen vorm Haus, als ich einen Wagen heranfahren hörte, kurz bevor er zwischen den die Auffahrt säumenden Bäumen sichtbar wurde. Zu meinem Erstaunen erkannte ich den Pick-up von Alcide und war bestürzt. Ich hatte ihm gesagt, er solle wegbleiben.

Er schien sich über etwas zu ärgern, als er ausstieg. Ich saß auf einem meiner Aluminiumgartenstühle in der Sonne und hatte mich gerade gefragt, wie spät es wohl sei und wann der Bauunternehmer kommen würde. Außerdem hatte ich nach meiner rundum unbequemen Nacht bei Jason darüber nachgedacht, wo ich sonst noch unterkommen könnte. Für mich war das Haus einfach nicht bewohnbar, solange nicht alle Arbeiten an der Küche abgeschlossen waren, und das konnte noch Monate dauern. Jason wollte sicher nicht, dass ich so lange bei ihm wohnte. Wenn ich bleiben wollte, würde er sich zwar mit meiner Anwesenheit abfinden müssen - immerhin war er mein Bruder -, aber ich wollte seine brüderliche Gesinnung nicht überstrapazieren. Es gab überhaupt niemanden, bei dem ich ein paar Monate lang wohnen wollte, wenn ich es mir recht überlegte.

»Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?«, bellte Alcide, kaum dass sein Fuß den Boden berührte.

Ich seufzte. Noch ein wütender Mann.

»Momentan sind wir nicht die besten Freunde«, erinnerte ich ihn. »Aber ich hätte es schon noch getan. Es ist ja erst zwei Tage her.«

»Du hättest mich sofort anrufen sollen«, belehrte er mich und schritt ums Haus, um den Schaden in Augenschein zu nehmen. Genau vor mir blieb er stehen. »Du hättest sterben können.« Er klang, als würde er eine sensationelle Nachricht verkünden.

»Ja, ich weiß.«

»Ein Vampir musste dich retten.« Abscheu lag in seinem Tonfall. Vampire und Werwölfe kamen einfach nicht miteinander aus.

»Ja«, bestätigte ich, auch wenn eigentlich Claudine meine Retterin gewesen war. Aber Charles hatte den Brandstifter umgebracht. »Oh, wär's dir etwa lieber gewesen, wenn ich verbrannt wäre?«

»Nein, natürlich nicht!« Er wandte sich ab und sah zu den Resten der fast vollständig abgetragenen hinteren Veranda hinüber. »Hier schafft schon jemand die Trümmer weg?«

»Ja.«

»Ich hätte ein ganzes Team hierher schicken können.«

»Terry hat mir seine Hilfe angeboten.«

»Ich kann dir einen fairen Preis für den Neubau machen.«

»Ich habe schon einen Bauunternehmer beauftragt.«

»Ich kann dir Geld leihen für den Neubau.«

»Ich habe genug Geld, vielen Dank.«

Das verblüffte ihn. »Wirklich? Woher hast du -« Er hielt inne, ehe er etwas Unverzeihliches aussprach. »Deine Großmutter besaß doch fast nichts, was sie dir hinterlassen konnte«, sagte er stattdessen, und das war beinahe genauso schlimm.

»Ich habe mir Geld verdient.«

»Hast du das Geld bei Eric verdient?« Da hatte Alcide völlig richtig geraten. Seine grünen Augen glühten vor Wut.

»Beruhig dich einfach wieder, Alcide Herveaux«, fuhr ich ihn scharf an. »Wie ich es verdient habe, geht dich verdammt noch mal gar nichts an. Ich bin nur froh, dass ich es habe. Wenn du mal von deinem hohen Ross herunterkommst, erzähle ich dir gern, wie sehr ich mich freue, dass du dir Sorgen um mich machst, und wie dankbar ich bin, dass du mir deine Hilfe anbietest. Aber behandle mich nicht wie eine Zurückgebliebene.«

Alcide sah zu mir hinunter, während meine Worte langsam in ihm nachwirkten. »Es tut mir leid. Ich dachte, du - ich dachte, wir wären gut genug befreundet, dass du mich gleich nachts noch anrufst. Ich dachte ... du bräuchtest vielleicht Hilfe.«

Er spielte die Karte »Du hast meine Gefühle verletzt«.

»Ich habe kein Problem damit, um Hilfe zu bitten, wenn ich welche brauche. So stolz bin ich nun auch wieder nicht«, sagte ich. »Und ich freue mich, dich zu sehen.« (Nicht ganz aufrichtig.) »Aber tu nicht so, als könnte ich die Dinge nicht selbst in die Hand nehmen. Denn das kann ich, und das mache ich auch.«

»Haben die Vampire dich dafür bezahlt, dass du Eric aufgenommen hast, während die Hexen in Shreveport waren?«

»Ja«, erwiderte ich. »Die Idee hatte mein Bruder. Mir war es eher unangenehm, aber jetzt bin ich dankbar für das Geld. So muss ich keinen Kredit aufnehmen, um das Haus renovieren zu lassen.«

In diesem Augenblick kam Terry Bellefleur mit seinem Pick-up zurück, und ich stellte die beiden Männer einander vor. Terry schien es überhaupt nicht zu beeindrucken, dass er Alcide kennen lernte. Alcide musterte Terry skeptisch.

»Wo wohnst du jetzt?« Alcide hatte beschlossen, keine Fragen wegen Terrys Narben zu stellen, Gott sei Dank.

»Bei Jason«, antwortete ich, allerdings ohne zu erwähnen, dass das hoffentlich nur vorübergehend der Fall war.

»Wie lange wird der Neubau dauern?«

»Da kommt der Mann, der mir das sagen kann«, entgegnete ich dankbar. Randall Shurtliff fuhr ebenfalls einen Pick-up, und er kam in Begleitung seiner Ehefrau und Geschäftspartnerin. Delia Shurtliff war jünger als Randall, bildschön und beinhart. Sie war Randalls zweite Frau. Als er sich von seiner »Familienfrau«, mit der er drei Kinder hatte und die zwölf Jahre lang sein Haus sauber hielt, scheiden ließ, hatte Delia bereits für Randall gearbeitet und Schritt für Schritt begonnen, seine Firma zu leiten - sehr viel effizienter, als es ihm je gelungen war. Seine zweite Frau verdiente so viel Geld für ihn, dass seine erste Frau und seine Söhne finanziell besser gestellt waren, als wenn sie verheiratet geblieben wären. Es war ein offenes Geheimnis (was heißen soll, es wussten auch noch andere außer mir), dass es Delia nur allzu recht wäre, wenn Mary Helen wieder heiratete und die drei Shurtliff-Söhne so schnell wie möglich die Highschool abschlossen.

Ich verschloss mich Delias Gedanken mit dem festen Vorsatz, meine Schutzbarrieren aufrecht zu halten. Randall freute sich, Alcide kennen zu lernen, den er bisher nur vom Sehen kannte, und er bemühte sich noch eifriger um den Auftrag für den Neubau der Küche, nachdem er erfahren hatte, dass Alcide ein Freund von mir war. Die Familie Herveaux hatte in der Baubranche einen sehr guten Namen und galt als finanziell grundsolide. Zu meinem Ärger begann Randall, all seine Bemerkungen an Alcide zu richten anstatt an mich. Alcide nahm das als völlig normal hin.

Ich sah Delia an. Delia sah mich an. Wir waren uns sehr unähnlich, doch in diesem Moment waren wir einer Meinung.

»Was glauben Sie, Delia? Wie lange wird's dauern?«

»Tja, wenn er erst mal redet«, sagte sie. Dank der Kunst eines Schönheitssalons waren ihre Haare heller als meine und ihre Augen ausdrucksvoll geschminkt. Aber gekleidet war sie ganz praktisch, sie trug Khakihosen und ein Poloshirt mit dem geschwungenen Logo »Baufirma Shurtliff« über der linken Brust. »Er muss noch das Haus drüben bei Robin Egg fertig stellen. Aber er kann Ihre Küche bauen, ehe er in Clarice mit einem Haus beginnt. Also, sagen wir mal, in drei bis vier Monaten haben Sie eine funktionstüchtige Küche.«

»Danke, Delia. Muss ich irgendetwas unterschreiben?«

»Wir machen Ihnen einen Kostenvoranschlag. Den bringe ich Ihnen ins Merlotte's, dann können Sie alles noch mal durchgehen. Die neuen Küchengeräte sind im Preis bereits mit drin, weil wir einen Händlerrabatt bekommen. Und ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass es ungefähr darauf hinausläuft.«

Sie zeigte mir den Kostenvoranschlag für die Renovierung einer Küche, die sie vor einem Monat gemacht hatten.

»Das geht«, sagte ich, auch wenn ich innerlich einen langen Schrei ausstieß. Selbst wenn ich das Geld der Versicherung dazurechnete, würde es einen ganz schönen Batzen der Summe auffressen, die ich auf der Bank hatte.

Ich sollte dankbar sein, ermahnte ich mich selbst streng, dass Eric mir so viel Geld gezahlt hatte. So musste ich jetzt keinen Kredit bei der Bank aufnehmen, Land verkaufen oder mir eine andere drastische Maßnahme ausdenken. Dieses Geld war auf meinem Konto eben nur auf der Durchreise, statt dort sesshaft zu werden. Es hatte mir eigentlich nie richtig gehört. Ich hatte es quasi nur eine Weile in Gewahrsam.

»Sind Sie mit Alcide gut befreundet?«, fragte Delia nach Abschluss der geschäftlichen Dinge.

Ich dachte kurz nach. »Früher mal«, sagte ich ehrlich.

Sie lachte, ein raues, kehliges Lachen, das irgendwie sexy klang. Beide Männer drehten sich um, Randall lächelnd, Alcide spöttisch. Sie waren zu weit weg, um zu verstehen, worüber wir sprachen.

»Haben Sie schon gehört?«, fragte Delia Shurtliff dennoch leise. »Nur ganz unter uns natürlich. Die Sekretärin von Jackson Herveaux, Connie Babcock - kennen Sie sie?«

Ich nickte. Zumindest hatte ich sie schon mal gesehen und kurz mit ihr gesprochen, als ich Alcide in seinem Büro in Shreveport aufsuchte.

»Sie wurde heute Morgen verhaftet, wegen Diebstahls bei Herveaux & Sohn.«

»Was hat sie denn gestohlen?« Ich war ganz Ohr.

»Genau das verstehe ich nicht. Sie wurde dabei ertappt, wie sie Unterlagen aus Jackson Herveaux' Büro klaute. Aber keine geschäftlichen, sondern private, wie ich gehört habe. Sie sagt, sie wurde dafür bezahlt.«

»Von wem?«

»Irgend so einem Kerl, dem ein Motorradhandel gehört. Verstehen Sie das?«

Ich verstand es, weil ich wusste, das Connie Babcock nicht nur in Jackson Herveaux' Firma arbeitete, sondern auch mit ihm ins Bett ging. Und weil ich plötzlich begriff, dass Jackson Herveaux lieber die reinrassige und einflussreiche Werwolffrau Christine Larrabee auf die Beerdigung von Colonel Flood mitgenommen hatte statt der machtlosen Menschenfrau Connie Babcock.

Während Delia die Geschichte weiter durchkaute, stand ich in Gedanken versunken da. Jackson Herveaux war mit Sicherheit ein cleverer Geschäftsmann, aber er erwies sich gerade als ein äußerst dummer Politiker. Connie einsperren zu lassen war einfach nur dämlich. Das zog Aufmerksamkeit auf die Werwölfe und barg die Gefahr einer Aufdeckung ihrer Existenz. Eine so verschwiegene Gemeinde würde kaum einen Leitwolf wählen, der ein solches Problem nicht mit etwas mehr Raffinesse zu lösen verstand.

Und ganz nüchtern betrachtet - Alcide diskutierte den Neubau meiner Küche ja auch mit Randall, statt das mir zu überlassen - schien ein gewisser Mangel an Raffinesse durchaus in der Familie Herveaux zu liegen.

Ich runzelte die Stirn. Mir kam der Gedanke, dass Patrick Furnan verschlagen und clever genug sein könnte, um die ganze Sache eingefädelt zu haben - vielleicht hatte er die verschmähte Connie bestochen, Jacksons private Unterlagen zu stehlen, und dann dafür gesorgt, dass sie erwischt wurde -, weil er genau gewusst hatte, dass Jackson Herveaux wie ein Hitzkopf reagieren würde. Patrick Furnan war womöglich viel klüger, als er aussah, und Jackson Herveaux viel dümmer - jedenfalls in der Hinsicht, auf die es ankam, wenn er Leitwolf werden wollte. Ich versuchte, diese beunruhigenden Spekulationen abzuschütteln. Alcide hatte kein Wort über Connies Verhaftung verloren, und daher nahm ich an, dass es mich in seinen Augen nichts anging. Okay, vielleicht dachte er, ich hätte schon genug eigene Sorgen. Was definitiv stimmte. Ich konzentrierte mich wieder auf die Gegenwart.

»Meinen Sie, es würde den beiden überhaupt auffallen, wenn wir weg wären?«, fragte ich Delia.

»Oh, klar«, erwiderte Delia selbstsicher. »Es dauert vielleicht eine Minute, aber dann würde Randall nach mir suchen. Er wäre ganz verloren, wenn er mich nicht wiederfinden würde.«

Das war mal eine Frau, die ihren eigenen Wert kannte. Ich seufzte und erwog ernsthaft, in meinen geliehenen Wagen zu steigen und wegzufahren. Alcide, der zufällig meinen Gesichtsausdruck sah, brach das Gespräch mit meinem Bauunternehmer ab und blickte schuldbewusst drein. »Tut mir leid«, rief er. »Reine Gewohnheit.«

Randall kam eilig zu mir herüber. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Wir haben übers Geschäft geredet. Was haben Sie sich denn vorgestellt, Sookie?«

»Ich möchte, dass die Küche genauso groß wird wie vorher.« Meine Pläne, sie zu vergrößern, hatte ich angesichts des Kostenvoranschlags aufgegeben. »Aber die hintere Veranda soll genauso breit sein wie die Küche, und ich möchte sie komplett einfassen lassen.«

Randall zog ein Klemmbrett hervor und ich machte eine Skizze von dem, was ich mir vorstellte.

»Sie möchten die Spüle dort haben, wo sie war, und auch all die anderen Küchengeräte?«

Wir besprachen die Dinge eine Weile, dann hatte ich alles aufgezeichnet, was ich wollte, und Randall sagte, er würde mich anrufen, sobald ich die Schränke, die Spüle und all die anderen Gerätschaften aussuchen könnte.

»Würden Sie eins bitte gleich heute oder morgen erledigen? Die Tür von der Diele zur Küche muss repariert werden, damit ich das Haus abschließen kann.«

Randall kramte ein, zwei Minuten lang geräuschvoll im hinteren Teil seines Pick-up und tauchte schließlich mit einem brandneuen, noch originalverpackten Türknauf samt Schloss in der Hand wieder auf. »Das hier hält keinen auf, der es wirklich ernst meint«, sagte er, immer noch ganz auf dem Entschuldigungstrip, »ist aber besser als nichts.« Innerhalb einer Viertelstunde hatte er es eingebaut, und ich konnte endlich den unversehrten Teil des Hauses vom abgebrannten, unabschließbaren Teil trennen. Danach fühlte ich mich gleich viel besser, auch wenn ich wusste, dass das neue Schloss nicht viel taugte. Am besten würde ich an der Tür von innen noch einen Riegel anbringen. Ich fragte mich, ob ich das wohl selbst machen könnte, aber dazu würde ich einen Teil des Türrahmens bearbeiten müssen, und ein Schreiner war wirklich nicht an mir verloren gegangen. Nun, auch für diese Aufgabe würde ich jemanden finden.

Randall und Delia fuhren ab, nachdem sie mir mehrmals versichert hatten, dass ich die nächste Kundin auf ihrer Liste sei. Terry nahm seine Arbeit wieder auf, und Alcide sagte: »Du bist auch nie allein«, in leicht angesäuertem Ton.

»Worüber möchtest du denn reden? Terry kann uns von da drüben aus nicht verstehen.« Wir gingen zu meinem Aluminiumstuhl zurück, der unter einem Baum stand. Ein zweiter lehnte an der rauen Rinde der Eiche, und Alcide klappte ihn auf. Der Stuhl quietschte ein bisschen unter seinem Gewicht, als Alcide sich niederließ. Ich nahm an, er würde mir von Connie Babcocks Verhaftung erzählen.

»Ich habe dich bei unserem letzten Treffen ziemlich verärgert«, begann er sehr direkt.

Ich musste gedanklich zunächst einmal umschalten nach seinen unerwarteten Worten. Okay, und mir gefiel es, wenn ein Mann sich entschuldigen konnte. »Ja, das hast du.«

»Du wolltest wohl nicht hören, dass ich von dieser Sache mit Debbie weiß?«

»Ich ertrage kaum, dass das Ganze überhaupt passiert ist. Ich ertrage kaum, wie schwer ihre Familie es nimmt. Und ich ertrage kaum, dass sie von nichts wissen und so sehr darunter leiden. Aber ich bin froh, am Leben zu sein, und ich denke gar nicht daran, ins Gefängnis zu gehen, nur weil ich mich selbst verteidigt habe.«

»Falls dich das irgendwie erleichtert, Debbie stand ihrer Familie gar nicht so nah. Ihre Eltern zogen immer ihre jüngere Schwester vor, auch wenn sie die Eigenschaften der Gestaltwandler nicht geerbt hat. Sandra ist ihr Sonnenschein, und sie verfolgen diese ganze Angelegenheit nur aus dem einzigen Grund, weil Sandra es von ihnen erwartet.«

»Glaubst du, sie beenden die Suche bald?«

»Sie denken, ich war es«, sagte Alcide. »Die Pelts denken, dass ich Debbie umgebracht habe, weil sie sich mit einem anderen Mann verlobt hat. Das hat Sandra mir per E-Mail geschrieben auf meine Frage nach den Privatdetektiven.«

Ich konnte ihn nur ungläubig anstarren. Die entsetzliche Vision trat vor mein Auge, dass ich schon bald zur Polizei gehen und alles würde zugeben müssen, um Alcide vor einer Gefängnisstrafe zu bewahren. Selbst dass er eines Mordes verdächtigt wurde, den er nicht begangen hatte, war fürchterlich, und das durfte ich so nicht stehen lassen. Mir war vorher noch nie der Gedanke gekommen, dass jemand anders meiner Tat beschuldigt werden könnte.

»Aber«, fuhr Alcide fort, »ich kann beweisen, dass ich es nicht war. Vier Rudelmitglieder haben geschworen, ich sei die ganze Zeit bei Pam gewesen, nachdem Debbie abgefahren ist. Und eine Frau wird noch aussagen, dass sie die Nacht mit mir verbracht hat.«

Er war tatsächlich mit den Rudelmitgliedern zusammen gewesen, wenn auch ganz woanders. Erleichtert sank ich in meinen Stuhl zurück. Und nein, ich würde keinen Eifersuchtsanfall erleiden wegen dieser anderen Frau. Er hätte sie wenigstens beim Namen genannt, wenn er wirklich Sex mit ihr gehabt hätte.

»Die Pelts werden sich also einen anderen Verdächtigen suchen müssen. Aber darüber wollte ich eigentlich gar nicht mit dir reden.«

Alcide ergriff meine Hand. Seine Hand war groß und rau und umschloss meine, als hielte er einen kleinen Wildvogel fest, der wegfliegen würde, sobald er den Griff lockerte. »Ich möchte, dass du noch mal darüber nachdenkst, ob wir uns nicht regelmäßiger sehen sollten«, sagte Alcide. »Ich meine, jeden Tag.«

Und wieder schien sich die Welt um mich herum neu zu ordnen. »Hm?«, machte ich.

»Ich mag dich sehr«, fuhr Alcide fort, »und ich glaube, du magst mich auch. Wir wollen es doch beide.« Er beugte sich vor, um mich auf die Wange zu küssen, und als ich einfach reglos sitzen blieb, küsste er mich auf den Mund. Ich war viel zu überrascht, um darauf einzugehen, und auch gar nicht sicher, ob ich das überhaupt wollte. Es passiert einer Gedankenleserin nicht oft, dass sie überrascht wird, aber Alcide hatte es geschafft.

Er holte tief Atem und sprach weiter. »Wir haben viel Spaß miteinander. Und ich möchte so gern mit dir ins Bett, dass es schon wehtut. Ich hätte nicht so bald davon angefangen, zumal wir gar nicht zusammen sind. Aber du musst jetzt doch irgendwo wohnen. Ich habe eine Eigentumswohnung in Shreveport, und warum denkst du nicht mal darüber nach, zu mir zu ziehen?«

Wenn er mir mit dem Schraubenschlüssel auf den Kopf gehauen hätte, wäre ich kaum betäubter gewesen. Statt so viel Mühe darauf zu verschwenden, mich vor den Gedanken der Leute zu verschließen, sollte ich besser mal wieder versuchen, ihre Gedanken zu lesen. Ich probierte verschiedene Satzanfänge im Kopf durch, verwarf sie aber alle. Seine Wärme, seine große attraktive Gestalt - dagegen musste ich mich zur Wehr setzen, als ich mühsam meine Gedanken ordnete.

»Alcide«, begann ich schließlich und sprach gegen den Lärm von Terrys Vorschlaghammer an, mit dem er den Fußboden meiner abgebrannten Küche zerlegte, »es stimmt, dass ich dich mag. Und ich empfinde sogar noch mehr für dich.« Ich konnte ihm nicht ins Gesicht sehen. Stattdessen starrte ich auf seine großen Hände mit den feinen schwarzen Haaren auf den Handrücken. Wenn ich meinen Blick von seinen Händen weiter hinunter schweifen ließ, sähe ich seine muskulösen Oberschenkel und seinen... Okay, zurück zu seinen Händen. »Aber es ist einfach nicht der richtige Moment. Ich finde, du brauchst erst mal Zeit und musst über deine Beziehung mit Debbie hinwegkommen. Schließlich hast du ziemlich sklavisch an ihr gehangen. Du magst ja vielleicht meinen, dass du mit den Worten >Ich sage mich von dir los< auch all deine Gefühle für Debbie abgestreift hast. Aber mich überzeugt das nicht.«

»Es ist ein machtvolles Ritual der Werwölfe«, sagte Alcide eigensinnig, und ich riskierte einen schnellen Blick in sein Gesicht.

»Dass es ein machtvolles Ritual ist, kann ich nur bestätigen«, versicherte ich ihm, »und es hat auf alle Anwesenden großen Eindruck gemacht. Aber ich kann einfach nicht glauben, dass du mit einem Schlag all deine Gefühle für Debbie verloren hast, nur weil du diese Worte gesprochen hast. So funktionieren Menschen nicht.«

»Werwölfe schon.« Er wirkte starrsinnig. Und entschlossen.

Ich dachte gründlich darüber nach, was ich sagen wollte.

»Es wäre mir schon sehr lieb, wenn jemand all meine Probleme für mich lösen würde«, begann ich. »Aber ich möchte dein Angebot nicht annehmen, nur weil ich irgendwo unterkommen muss und wir beide gerade heiß aufeinander sind. Wenn mein Haus renoviert ist, sprechen wir uns wieder und sehen mal, ob du immer noch so denkst.«

»Aber jetzt brauchst du mich am allermeisten«, protestierte er vehement. »Du brauchst mich jetzt. Ich brauche dich jetzt. Wir passen gut zusammen. Und das weißt du auch.«

»Nein, das weiß ich nicht. Ich weiß, dass du dir zurzeit über sehr viele Dinge Sorgen machst. Du hast deine Freundin verloren, wie auch immer. Und du hast wahrscheinlich noch nicht richtig begriffen, dass du sie nie wiedersehen wirst.«

Er wich zurück.

»Ich habe sie erschossen, Alcide. Mit einem Gewehr.«

Sein Gesicht nahm einen angespannten Ausdruck an.

»Siehst du? Alcide, ich habe gesehen, wie du in deiner Wolfsgestalt einem Menschen die Zähne ins Fleisch geschlagen hast. Und trotzdem habe ich keine Angst vor dir. Weil ich auf deiner Seite stehe. Du hast Debbie geliebt, zumindest zeitweise. Wenn wir jetzt eine Beziehung beginnen, wirst du mich später irgendwann ansehen und sagen: >Sie ist diejenige, die ihr das Leben genommen hat.<«

Alcide öffnete den Mund, um zu protestieren, doch ich hob eine Hand. Ich wollte das Ganze beenden.

»Und außerdem, Alcide, dein Vater kämpft gerade um die Nachfolge. Er will die Wahl gewinnen. Vielleicht würde es seinem Ehrgeiz entgegenkommen, wenn du eine feste Beziehung hättest. Das weiß ich nicht. Aber ich will auf keinen Fall etwas mit dieser Werwolf-Politik zu tun haben. Es hat mir gar nicht gefallen, dass du mich letzte Woche auf der Beerdigung unvorbereitet da hineingezogen hast. Die Entscheidung hättest du mir überlassen müssen.«

»Sie sollten sich alle an den Anblick gewöhnen, dass du jetzt an meiner Seite bist«, sagte Alcide angriffslustig. »Es war als Ehre für dich gedacht.«

»Und ich hätte die Ehre vielleicht besser zu schätzen gewusst, wenn ich davon erfahren hätte«, erwiderte ich mit einer gewissen Schärfe. Zum Glück hörten wir in dem Moment einen anderen Wagen heranfahren. Andy Bellefleur stieg aus seinem Ford und sah zu seinem Cousin hinüber, der immer noch mit dem Abreißen meiner Küche beschäftigt war. Zum ersten Mal seit Monaten war ich froh, Andy zu sehen.

Ich stellte Andy und Alcide einander vor und beobachtete, wie sie sich gegenseitig abschätzten. Im Allgemeinen mag ich Männer, und einige sogar ganz besonders. Doch als ich jetzt sah, wie sie sich umkreisten und beschnüffelten, konnte ich einfach nur noch den Kopf schütteln. Alcide war gute zehn Zentimeter größer, doch Andy Bellefleur war in der Ringer-Mannschaft seines Colleges gewesen und immer noch muskelbepackt. Sie waren ungefähr im gleichen Alter. In einem Kampf würde ich ihnen die gleichen Chancen einräumen, vorausgesetzt, Alcide blieb in seiner menschlichen Gestalt.

»Sookie, du hast darum gebeten, über den Toten auf dem Laufenden gehalten zu werden«, begann Andy.

Richtig, aber ich hätte im Leben nicht damit gerechnet, dass er es wirklich tun würde. Andy hatte noch nie eine besonders hohe Meinung von mir gehabt, obwohl er immer ein großer Fan meines Hinterns gewesen war. Toll, telepathisch veranlagt zu sein, was?

»Bei der Polizei gibt's keine Akte über ihn«, fuhr Andy fort und sah in das kleine Notizbuch, das er aufgeschlagen hatte. »Und über eine Verbindung zur Bruderschaft der Sonne ist nichts bekannt.«

»Dann verstehe ich es nicht«, sagte ich. »Warum hätte er sonst mein Haus in Brand setzen sollen?«

»Und ich hatte gehofft, genau das könntest du mir sagen.« Andys klare graue Augen fingen meinen Blick auf.

Jetzt hatte ich genug von Andy, ganz plötzlich und endgültig. Über viele Jahre hinweg hatte er mich in verschiedenen Angelegenheiten immer wieder angegriffen und verletzt, und jetzt platzte mir der Kragen.

»Hör zu, Andy«, sagte ich und erwiderte seinen Blick ganz direkt. »Soweit ich weiß, habe ich dir nie irgendetwas getan. Ich saß noch nie im Gefängnis. Ich habe noch nie ein Rotlicht überfahren, meine Steuern zu spät gezahlt oder Alkohol an Jugendliche ausgeschenkt. Ich habe nicht mal einen Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit gekriegt. Jetzt hat jemand versucht, mich in meinem eigenen Haus zu grillen. Was fällt dir eigentlich ein, so zu tun, als hätte ich etwas verbrochen?« Abgesehen von dem Mord an Debbie Pelt, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Die Stimme meines Gewissens.

»In der Vergangenheit dieses Kerls deutet nichts darauf hin, warum er dir das angetan haben sollte.«

»Na, prima! Dann finde heraus, wer's getan hat! Denn irgendeiner hat mein Haus angezündet, und ich war's bestimmt nicht!« Die letzten Sätze schrie ich geradezu, hauptsächlich, um jene Stimme zu übertönen.

Mich umzudrehen und wegzugehen war die einzige Zuflucht, die mir blieb, und mit schnellen Schritten ging ich ums Haus herum, bis ich außer Sichtweite von Andy war. Terry sah mich von der Seite an, hörte aber nicht auf, den Vorschlaghammer zu schwingen.

Einen Augenblick später hörte ich, wie jemand sich hinter mir einen Weg durch den Schutt bahnte. »Er ist weg«, sagte Alcide mit einem ganz leicht amüsierten Unterton. »Unser Gespräch von vorhin willst du wohl nicht weiterführen, oder?«

»Stimmt«, erwiderte ich knapp.

»Dann fahre ich jetzt nach Shreveport zurück. Ruf an, wenn du mich brauchst.«

»Klar.« Ich zwang mich zu etwas mehr Höflichkeit. »Danke, dass du mir deine Hilfe angeboten hast.«

»Hilfe? Ich habe dich gefragt, ob du mit mir zusammenleben willst!«

»Dann also danke, dass du mich gefragt hast, ob ich mit dir zusammenleben will.« Ich merkte selbst, dass es nicht völlig ernsthaft klang. Plötzlich hörte ich die Stimme meiner Großmutter in meinem Kopf, die mir sagte, ich würde mich wie eine Siebenjährige aufführen. Ich zwang mich, es noch einmal zu versuchen.

»Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du ... deine Zuneigung«, sagte ich und sah zu Alcides Gesicht hinauf. Sogar schon so früh im Frühling hatte die Sonne einen leichten Rand hinterlassen, wo gewöhnlich sein Schutzhelm saß. In ein paar Wochen würde seine olivenfarbene Haut um einige Nuancen dunkler sein. »Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du ...« Ich verstummte, weil ich nicht wusste, wie ich es formulieren sollte. Ich wusste sehr zu schätzen, dass er bereit war, in mir eine begehrenswerte Frau und geeignete Ehefrau zu sehen - was nicht viele Männer taten, und dass er mich trotzdem auch als gute Freundin betrachtete. So formuliert kam es dem, was ich meinte, noch am nächsten.

»Aber du empfindest keine Zuneigung für mich.« Seine grünen Augen ruhten auf mir.

»Das habe ich nicht gesagt.« Ich holte tief Luft. »Ich habe gesagt, dass es nicht der richtige Moment für eine Beziehung zwischen uns ist.« Auch wenn ich nichts dagegen hätte, dich jetzt anzuspringen, fügte ich nur für mich selbst sehnsüchtig hinzu.

Aber das würde ich nicht einfach so aus Jux und Tollerei tun, und schon gar nicht mit einem Mann wie Alcide. Die neue Sookie, die abgeklärte Sookie, würde den gleichen Fehler nicht zweimal nacheinander machen. Ich war sogar doppelt abgeklärt. (Wenn ich mich über die zwei Männer, mit denen ich bislang zusammen war, hinweggetröstet habe, gelte ich dann eigentlich wieder als Jungfrau? Oder in welche Kategorie falle ich, wenn ich alles abgeklärt habe? Schließlich bin ich dann doch wieder am Ausgangspunkt.) Alcide schloss mich fest in die Arme und drückte mir einen Kuss auf die Wange. Er fuhr ab, während ich noch immer darüber nachdachte. Kurz darauf beendete Terry für diesen Tag seine Arbeit.

Ich zog den Blaumann aus und machte mich für die Arbeit zurecht. Am Nachmittag war es kühler geworden, also streifte ich die Jacke über, die ich in Jasons Schrank gefunden hatte. An ihr haftete ein Hauch von Jasons Geruch.

Auf dem Weg zur Arbeit machte ich einen Umweg und fuhr bei Tara vorbei, um ihr das schwarze Kostüm mit den rosa Paspeln zurückzubringen.

Ihr Wagen stand nicht vor dem Haus, und so nahm ich an, dass sie noch in ihrem Laden war. Ich schloss mir selbst auf und ging wieder direkt zu ihrem Schlafzimmer durch, wo ich den Kleidersack in den begehbaren Schrank hängte. Im Haus war es dämmrig, und bedrohliche Schatten lagen in den Räumen. Draußen war es schon fast dunkel. Plötzlich fuhr mir der Schreck in die Glieder. Ich sollte nicht hier sein. Ich verließ den Schrank und sah mich im Zimmer um. Als mein Blick auf den Türrahmen fiel, füllte ihn eine schlanke Gestalt. Ich schnappte nach Luft, ehe ich es verhindern konnte. Wer ihnen seine Angst zeigte, konnte auch gleich mit einem roten Tuch vor einem Stier herumwedeln.

Ich konnte Mickeys Gesicht nicht sehen und daher seine Miene nicht deuten, falls sie denn überhaupt irgendeinen Aufschluss gegeben hätte.

»Wo ist dieser neue Barkeeper des Merlotte's hergekommen?«, fragte er.

Was auch immer ich erwartet hatte, das nicht.

»Als Sam angeschossen wurde, brauchten wir sofort einen Ersatz. Er arbeitet nur leihweise für uns, eigentlich gehört er zu einer Vampir-Bar in Shreveport.«

»War er da schon lange?«

»Nein«, erwiderte ich und war trotz meiner schleichenden Angst überrascht. »Ganz im Gegenteil.«

Mickey nickte, als würde ich etwas bestätigen, was er sich schon gedacht hatte. »Verschwinde hier.« Seine tiefe Stimme klang ziemlich ruhig. »Du hast einen schlechten Einfluss auf Tara. Sie braucht niemanden außer mir, bis ich ihrer überdrüssig bin. Tauch hier nie wieder auf.«

Der einzige Weg hinaus führte durch den Türrahmen, in dem er immer noch stand. Ich traute meiner Stimme nicht und sagte lieber nichts. So zuversichtlich, wie ich nur irgend konnte, ging ich auf ihn zu und überlegte, ob er mir wohl den Weg freimachen würde. Mir schienen drei Stunden vergangen zu sein, als ich endlich Taras Bett und ihre Frisierkommode umrundet hatte. Als ich keine Anstalten machte, stehen zu bleiben, trat der Vampir zur Seite. Ich konnte es mir nicht verkneifen, im Vorbeigehen in sein Gesicht zu sehen - er hatte die Fangzähne ausgefahren. Mich schauderte. Ich war so angewidert, dass es mich fast schüttelte. Wie konnte Tara so etwas bloß passieren?

Als er meinen Ekel bemerkte, lächelte er.

Ich packte das Problem mit Tara zu den Dingen, über die ich später nachdenken würde. Vielleicht fiele mir ja etwas ein, das ich für Tara tun konnte; doch solange sie anscheinend freiwillig mit dieser abscheulichen Kreatur zusammen war, hatte ich wohl nicht viele Möglichkeiten, zu helfen.

Sweetie Des Arts stand draußen und rauchte eine Zigarette, als ich den Wagen hinter dem Merlotte's parkte. Sie sah ziemlich gut aus, mal abgesehen von der fleckigen weißen Kochschürze. Die grelle Außenbeleuchtung machte jede kleine Falte ihrer Haut sichtbar und ließ erkennen, dass Sweetie ein bisschen älter war, als ich gedacht hatte; aber für jemanden, der fast den ganzen Tag in der Küche stand, sah sie immer noch sehr passabel aus. Und wenn nicht die weiße Schürze sie verhüllt und ein Geruch von Bratfett sie umgeben hätte, hätte Sweetie jederzeit als Frau mit Sexappeal gelten können. Sweetie war mit Sicherheit eine Frau, die es gewöhnt war, aufzufallen.

Wir hatten in letzter Zeit so viele Köche gehabt, dass ich mich kaum bemüht hatte, sie richtig kennen zu lernen. Ich ging davon aus, dass sie sich früher oder später sowieso einen anderen Job suchen würde - wahrscheinlich eher früher. Doch sie hob eine Hand und begrüßte mich, als ob sie mich sprechen wollte, und so blieb ich stehen.

»Das mit deinem Haus tut mir wirklich leid«, sagte sie. Ihre Augen glänzten in dem künstlichen Licht. Es roch nicht gerade lieblich hier gleich neben den Müllcontainern, aber Sweetie wirkte so gelassen, als wäre sie an einem Strand in Acapulco.

»Danke«, entgegnete ich bloß, denn ich wollte nicht darüber reden. »Wie geht's dir denn so?«

»Prima, danke.« Mit der Zigarette in der Hand beschrieb sie mit dem Arm einen Halbkreis über den Parkplatz. »Ich genieße die Aussicht. Hey, du hast da was an der Jacke.« Damit ich keine Asche abbekam, streckte sie die Hand mit der Zigarette sorgsam weg, beugte sich zu mir vor - für meinen Geschmack viel zu nah - und schnippte etwas von meiner Schulter. Sie schnupperte. Vielleicht haftete mir trotz all meiner Bemühungen doch noch ein Hauch von verbranntem Holz an.

»Ich muss jetzt rein. Meine Schicht beginnt.«

»Ja, ich muss auch wieder in die Küche. Ganz schön viel los heute Abend.« Doch Sweetie blieb, wo sie war. »Sam ist ganz verrückt nach dir, weißt du das?«

»Ich arbeite schon ziemlich lange für ihn.«

»Nein, das geht weit darüber hinaus.«

»Ach, das glaube ich nicht, Sweetie.« Mir wollte einfach nichts einfallen, womit ich dieses Gespräch, das mir viel zu persönlich war, höflich beenden konnte.

»Du warst bei ihm, als er angeschossen wurde, stimmt's?«

»Ja, er war auf dem Weg zu seinem Wohnwagen und ich war auf dem Weg zu meinem Auto.« Ich wollte eindeutig festhalten, dass wir unterschiedliche Ziele hatten.

»Und du hast nichts bemerkt?« Sweetie lehnte sich an die Hauswand und neigte den Kopf nach hinten, die Augen geschlossen, so als würde sie sich sonnen.

»Nein, leider nicht. Wenn die Polizei den, der das tut, nur endlich finden würde.«

»Hast du schon mal darüber nachgedacht, ob es einen Grund gibt, warum gerade auf diese Leute geschossen wurde?«

»Nein«, sagte ich. Eine handfeste Lüge. »Heather, Sam und Calvin haben keine Gemeinsamkeit.«

Sweetie öffnete eins ihrer braunen Augen und spähte mich an. »Wenn das ein Krimi wäre, würden sie alle dasselbe Geheimnis kennen oder wären Zeugen eines bestimmten Unfalls oder so was. Oder die Polizei würde herausfinden, dass sie alle Kunden ein und derselben Reinigung waren.« Sweetie schnippte die Asche von ihrer Zigarette.

Ich entspannte mich etwas. »Ich verstehe, worauf du hinaus willst. Aber ich glaube, die Realität kennt keine so eindeutigen Muster wie ein Krimi über einen Serienmörder. Meiner Meinung nach wurden sie alle wahllos herausgepickt.«

Sweetie zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich hast du Recht.«

Ich sah, dass sie einen Kriminalroman von Tami Hoag gelesen hatte, der in einer Tasche ihrer Schürze steckte. Sie tippte mit einem Finger auf das Buch. »Erfundene Geschichten sind einfach viel interessanter. Die Wahrheit ist so langweilig.«

»Nicht in der Welt, in der ich lebe«, sagte ich.