Kapitel 6

Man sollte sich gut überlegen, was man zu einer Beerdigung anzieht, eigentlich bei jedem gesellschaftlichen Anlass, selbst wenn Kleidung das Letzte ist, woran man einen Gedanken verschwenden will. Ich hatte Colonel Flood während unserer kurzen Bekanntschaft gemocht und bewundert, und so wollte ich zu seiner Beisetzung angemessen gekleidet erscheinen, zumal Alcide mich noch einmal speziell darauf aufmerksam gemacht hatte.

In meinem Schrank fand ich einfach nichts Passendes. Also rief ich am nächsten Morgen um acht bei Tara an, die mir sagte, wo ihr Ersatzschlüssel lag. »Nimm dir aus meinem Schrank, was immer du brauchst. Geh nur in keins der anderen Zimmer, okay? Geh von der Hintertür direkt in mein Schlafzimmer und dann auf demselben Weg zurück.«

»Das würde ich sowieso tun«, sagte ich und versuchte, nicht beleidigt zu klingen. Dachte Tara etwa, ich würde in ihrem Haus neugierig herumschnüffeln?

»Ja, natürlich, ich fühlte mich nur verpflichtet, es dir zu sagen.«

Plötzlich begriff ich, was Tara mir eigentlich mitteilen wollte: Ein Vampir schlief in ihrem Haus. Der Bodyguard Mickey vielleicht oder auch Franklin. Seit Erics Warnung wollte ich Mickey am liebsten ganz weit aus dem Weg gehen. Nur die allerältesten Vampire konnten bereits in der Dämmerung aufstehen, aber den Gedanken, auf einen schlafenden Vampir zu stoßen, fand ich auch ziemlich schlimm.

»Okay, verstehe«, sagte ich hastig. Die Vorstellung, mit Mickey allein zu sein, ließ mich erschauern, und nicht gerade aus großer Vorfreude. »Direkt rein, direkt raus.« Da ich keine Zeit zu verlieren hatte, sprang ich in meinen Wagen und fuhr in die Stadt zu Taras kleinem Haus. Es war ein einfaches Haus in einem einfachen Stadtviertel, doch dass Tara überhaupt ein Haus besaß, erschien mir wie ein Wunder, wenn ich daran dachte, wie sie aufgewachsen war.

Manche Leute sollten einfach keine Kinder kriegen; oder wenn Kindern doch das Unglück widerfuhr, solche Eltern zu haben, sollten sie diesen sofort nach der Geburt weggenommen werden. Das ist in unserem Land wie auch in jedem anderen, soweit ich weiß, verboten, und in meinen helleren Momenten finde ich das auch gut so. Doch die Thorntons, beide Alkoholiker, waren bösartige Menschen gewesen, die besser schon viele Jahre früher gestorben wären. (Wenn ich an die beiden denke, vergesse ich sogar meine religiösen Werte.) Ich erinnere mich noch, wie Myrna Thornton auf der Suche nach Tara einmal das Haus meiner Großmutter auf den Kopf stellte und dabei alle ihre Einwände einfach ignorierte, bis Großmutter schließlich die Polizei rief, die Myrna aus dem Haus zerrte. Tara war fluchtartig durch die Hintertür im Wald hinter unserem Haus verschwunden, als sie die Gestalt ihrer Mutter heranwanken sah, Gott sei Dank. Da waren Tara und ich dreizehn gewesen.

Ich sehe noch den Gesichtsausdruck meiner Großmutter vor mir, während sie mit dem stellvertretenden Sheriff sprach, der soeben Myrna Thornton auf den Rücksitz des Streifenwagens gedrängt hatte, in Handschellen und laut schreiend.

»Zu schade, dass ich sie auf dem Rückweg in die Stadt nicht einfach im Sumpf versenken kann«, sagte der stellvertretende Sheriff. Ich erinnere mich nicht an seinen Namen, aber seine Worte hinterließen einen bleibenden Eindruck bei mir. Es dauerte einen Moment, bis ich wirklich begriffen hatte, was er meinte. Doch dann wurde mir klar, dass auch andere Leute wussten, was Tara und ihre Geschwister durchmachten. Und diese anderen Leute waren Erwachsene in machtvollen Positionen. Wenn sie davon wussten, warum lösten sie das Problem dann nicht?

Jetzt verstand ich natürlich irgendwie, dass das nicht so einfach war; aber ich bin immer noch der Überzeugung, dass den Thornton-Kindern einige Jahre Leid hätten erspart werden können.

Nun hatte Tara zumindest dieses kleine ordentliche Haus mit all den neuen Haushaltsgeräten, einen Schrank voller Kleider und einen reichen Freund. Ich hatte das ungute Gefühl, dass ich nicht von allem wusste, was sich in Taras Leben abspielte, doch von außen betrachtet war sie meilenweit von allen schlechten Sozialprognosen entfernt.

Ihrem Wunsch entsprechend ging ich durch die blitzblanke Küche, bog nach rechts ab und durchquerte eine Ecke ihres Wohnzimmers, um zur Tür ihres Schlafzimmers zu gelangen. Tara hatte an diesem Morgen keine Zeit gehabt, ihr Bett zu machen. Im Nu zog ich die Laken glatt und richtete alles schön her. (Ich konnte einfach nicht anders.) Mir war selbst nicht genau klar, ob ich ihr nun einen Gefallen getan hatte, denn jetzt wusste sie, dass ich etwas gegen ungemachte Betten hatte. Aber ich brachte es einfach nicht fertig, alles wieder durcheinander zu bringen.

Ich öffnete ihren begehbaren Kleiderschrank und entdeckte sofort, was ich brauchte. An der hinteren Kleiderstange hing ein Wollkostüm. Das Jackett war schwarz mit pastellrosa Paspeln an den Ärmelaufschlägen und passte zu der darunter hängenden, farblich abgestimmten rosa Bluse. Dazu gehörte ein schwarzer Faltenrock. Tara hatte ihn kürzen lassen; das Etikett der Änderungsschneiderei hing noch an dem durchsichtigen Kleidersack, der das Kostüm umhüllte. Ich hielt mir den Rock vor den Körper und sah in Taras mannshohen Spiegel. Tara war fünf oder sieben Zentimeter größer als ich, so dass der Rock gut meine Knie bedeckte - die ideale Länge für eine Beerdigung. Die Ärmel des Jacketts waren etwas zu lang, aber das fiel nicht weiter auf. Ich besaß schwarze Pumps, eine schwarze Tasche und sogar schwarze Handschuhe, die ich für besondere Gelegenheiten aufbewahrte.

Die Aufgabe war ausgeführt, in Rekordzeit.

Ich legte das Jackett und die Bluse zum Rock in den Kleidersack und verließ Taras Haus auf direktem Weg. Ich war keine zehn Minuten drin gewesen. In aller Eile, weil ich um zehn ja noch eine Verabredung hatte, machte ich mich zurecht. Ich flocht mir einen französischen Zopf, rollte das lose Ende darunter und steckte alles mit ein paar altmodischen Haarnadeln meiner Großmutter fest. Zum Glück fand ich noch eine schwarze Strumpfhose und auch ein schwarzes Unterkleid, und das Dunkelrot meiner Fingernägel harmonierte zumindest mit dem Pastellrosa des Jacketts und der Bluse. Als es um zehn an meiner Vordertür klopfte, war ich fertig, nur die Schuhe fehlten noch. Auf dem Weg zur Tür schlüpfte ich in meine Pumps.

Jack Leeds sah mich ob meiner Verwandlung offen erstaunt an, während Lily die Augenbrauen hob.

»Kommen Sie doch herein. Ich muss noch auf eine Beerdigung, daher mein Aufzug.«

»Hoffentlich müssen Sie keinen Freund zu Grabe tragen«, sagte Jack Leeds. Das Gesicht seiner Gefährtin hätte aus weißem Marmor gemeißelt sein können. Hatte diese Frau noch nie etwas von einem Solarium gehört?

»Kein enger Freund. Wollen Sie nicht Platz nehmen? Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee?«

»Nein, danke«, erwiderte er mit einem Lächeln, das sein Gesicht veränderte.

Die beiden Privatdetektive saßen auf dem Sofa, während ich auf der Kante des alten Lehnsessels Platz nahm. Irgendwie fühlte ich mich durch meinen ungewohnt schicken Aufzug mutiger.

»Also, der Abend, an dem Miss Pelt verschwand«, begann Jack Leeds. »Haben Sie sie in Shreveport gesehen?«

»Ja, ich war auf dieselbe Party eingeladen wie sie. Bei Pam zu Hause.« Alle, die den Hexenkrieg miterleben mussten - Pam, Eric, Clancy, die drei Wiccas und die noch lebenden Werwölfe -, hatten sich auf eine gemeinsame Geschichte verständigt: Anstatt der Polizei zu sagen, dass Debbie von dem verfallenen und leerstehenden Geschäftshaus, dem Unterschlupf der Hexen, weggefahren war, erzählten wir, dass wir den ganzen Abend bei Pam zu Hause verbracht hatten und Debbie von dort mit dem Auto abgefahren war. Die Nachbarn hätten natürlich bezeugen können, dass alle viel früher gegangen waren, wenn die Wiccas nicht mit ein bisschen Magie ihre Erinnerungen an diesen Abend getrübt hätten.

»Colonel Flood war auch da«, sagte ich. »Es ist seine Beerdigung, auf die ich gehe.«

Lily sah mich fragend an.

»Colonel Flood starb vor zwei Tagen bei einem Autounfall«, erklärte ich.

Sie warfen sich einen kurzen Blick zu. »Also waren da eine ganze Menge Leute auf dieser Party?«, hakte Jack Leeds nach. Ich hätte schwören können, dass er eine vollständige Namensliste all der Leute besaß, die in Pams Wohnzimmer gesessen und in Wirklichkeit Kriegsrat abgehalten hatten.

»Oh ja. Ziemlich viele. Alle habe ich nicht gekannt. Leute aus Shreveport.« Die drei Wiccas hatte ich an dem Abend erst kennen gelernt, die meisten Werwölfe hatte ich zumindest schon mal gesehen, und die Vampire waren mir alle vertraut gewesen.

»Aber Debbie Pelt kannten Sie bereits vorher?«

»Ja.«

»Aus der Zeit, als Sie sich öfter mit Alcide Herveaux getroffen haben?«

Tja, ihre Hausaufgaben hatten sie ganz offensichtlich gemacht.

»Ja, aus der Zeit mit Alcide.« Mein Gesichtsausdruck war so ruhig und gelassen wie Lilys. Ich hatte eine Menge Übung darin, Geheimnisse zu bewahren.

»Haben Sie auch mal bei Alcide Herveaux übernachtet, in seinem Apartment in Jackson?«

Ich wollte schon herausplatzen, dass wir in verschiedenen Zimmern geschlafen hatten, aber das ging sie nun wirklich überhaupt nichts an. »Ja«, sagte ich in leicht gereiztem Tonfall.

»Und Sie beide haben Miss Pelt eines Abends in Jackson in einem Nachtclub namens Josephine's getroffen?«

»Ja, sie feierte ihre Verlobung mit einem Typen namens Clausen.«

»Ist an dem Abend zwischen Ihnen beiden etwas vorgefallen?«

»Ja.« Ich fragte mich, mit wem sie wohl gesprochen hatten. Irgendjemand hatte den Privatdetektiven eine Menge Informationen gegeben, die sie nicht haben sollten. »Sie kam zu uns an den Tisch und ließ ein paar Bemerkungen fallen.«

»Und vor ein paar Wochen haben Sie Alcide auch in seinem Büro der Firma Herveaux besucht? Sind Sie beide an diesem Nachmittag nicht sogar Zeuge eines Kriminalfalls geworden?«

Sie hatten ihre Hausaufgaben eindeutig zu gründlich gemacht.

»Ja«, sagte ich.

»Und den Polizisten dort haben Sie erzählt, dass Sie mit Alcide Herveaux verlobt sind?«

Lügen haben kurze Beine. »Das hat, glaube ich, Alcide gesagt«, erwiderte ich und versuchte, nachdenklich zu wirken.

»Und entsprach das der Wahrheit?«

Jack Leeds dachte, dass ich die unberechenbarste Frau war, die er je getroffen hatte, und verstand überhaupt nicht, wie jemand, der so routiniert Verlobungen einging und löste wie ich, die vernünftige und hart arbeitende Kellnerin sein konnte, die er gestern kennen gelernt hatte.

Lily dachte, dass mein Haus enorm sauber war. (Komisch, wie?) Außerdem meinte sie, dass ich durchaus als Mörderin von Debbie Pelt in Frage kam, denn ihrer Erfahrung nach waren Menschen zu den entsetzlichsten Dingen fähig. Da hatten sie und ich mehr gemeinsam, als sie je wissen würde. Ich hatte genau dieselbe Erfahrung gemacht, schließlich konnte ich die ungefilterten Gedanken der Leute lesen.

»Ja. Zu jenem Zeitpunkt ist es wahr gewesen. Wir waren verlobt, etwa zehn Minuten lang. Nennen Sie mich einfach Britney.« Ich hasste es, zu lügen. Ich selbst merkte fast immer, wenn mich jemand anlog, und hatte das Gefühl, als stünde »Lügner« in Großbuchstaben auf meine Stirn geschrieben.

Jack Leeds verzog den Mund zu einem Grinsen, doch meine Anspielung auf die 55-Stunden-Ehe der Popsängerin hinterließ nicht die geringste Spur bei Lily Bard Leeds.

»Hatte Miss Pelt etwas dagegen, dass Sie sich mit Alcide trafen?«

»Oh ja.« Ich war nur froh darüber, dass ich seit so vielen Jahren darin geübt war, meine Gefühle zu verbergen. »Aber Alcide wollte sie nicht heiraten.«

»War sie wütend auf Sie?«

»Ja«, sagte ich, da sie offensichtlich die ganze Wahrheit darüber wussten. »Ja, so können Sie das wohl ausdrücken. Sie beschimpfte mich. Wahrscheinlich haben Sie auch gehört, dass Debbie ihre Gefühle schlecht verbergen konnte.«

»Wann haben Sie sie denn zum letzten Mal gesehen?«

»Zum letzten Mal gesehen habe ich sie ... (mit halb weggeschossenem Kopf, hingestreckt auf meinen Küchenboden, ihre Beine in den Stuhlbeinen verheddert) ... lassen Sie mich nachdenken ... als sie an jenem Abend die Party verließ. Sie ging ganz allein in die dunkle Nacht hinaus.« Wenn auch nicht wirklich von Pams Haus aus, sondern von einem anderen Ort - voller lebloser Körper und blutbespritzter Wände. »Ich nahm an, dass sie einfach nach Jackson zurückfahren würde«, fügte ich achselzuckend hinzu.

»Sie ist nicht mehr nach Bon Temps gefahren? Auf ihrem Weg nach Hause liegt das doch gleich neben der Autobahn.«

»Warum hätte sie das tun sollen? Bei mir hat sie nicht an die Tür geklopft.« Sie war eingebrochen.

»Nach der Party haben Sie sie nicht mehr gesehen?«

»Seit dem Abend habe ich sie gar nicht mehr gesehen.« Nun, das entsprach absolut der Wahrheit.

»Und Mr Herveaux?«

»Den schon.«

»Sind Sie jetzt mit ihm verlobt?«

Ich lächelte. »Nicht, dass ich wüsste.«

Es überraschte mich nicht, als Lily Bard Leeds mich fragte, ob sie mein Badezimmer benutzen dürfe. Ich hatte meine Schutzbarrieren fallen lassen, um zu erfahren, wie stark die beiden Privatdetektive mich verdächtigten. Daher wusste ich, dass sie sich etwas intensiver in meinem Haus umsehen wollte. Ich zeigte ihr das Badezimmer, das von der Diele abging, nicht das an mein Schlafzimmer angrenzende. Was nicht heißen soll, dass sie hier oder dort irgendwas Verdächtiges hätte finden können.

»Was ist eigentlich mit ihrem Auto?«, fragte Jack Leeds mich plötzlich. Ich hatte versucht, einen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims zu erhaschen, weil ich sichergehen wollte, dass die beiden verschwunden waren, wenn Alcide mich zu der Beerdigung abholen kam.

»Hm?« Ich hatte den Gesprächsfaden verloren.

»Was ist mit Debbie Pelts Auto?«

»Was soll damit sein?«

»Haben Sie eine Vorstellung, wo es sein könnte?«

»Nicht die geringste«, sagte ich absolut aufrichtig.

Als Lily ins Wohnzimmer zurückkam, fragte Jack: »Nur so aus Neugier: Was meinen Sie, was Debbie Pelt widerfahren ist?«

Ich dachte: Genau das, was sie verdient hatte. Und war selbst ein bisschen schockiert über mich. Manchmal bin ich wirklich kein besonders netter Mensch, und daran scheint sich auch nicht viel zu ändern. »Keine Ahnung, Mr Leeds«, erwiderte ich. »Und ich sollte Ihnen wohl besser sagen, dass mir das auch ziemlich egal ist, wenn ich mal von ihrer Familie absehe. Wir mochten uns nicht. Sie hat mir ein Loch in den Schal gebrannt, mich eine Hure genannt und sich Alcide gegenüber furchtbar aufgeführt. Aber das ist sein Problem, schließlich ist er erwachsen. Es hat ihr gefallen, die Leute herumzukommandieren und sie nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen.« Jack Leeds wirkte etwas benommen von dieser Flut an Informationen. »So sehe ich die Sache nun mal«, sagte ich abschließend.

»Vielen Dank für Ihre Offenheit«, entgegnete er, während seine Frau mich mit ihren hellblauen Augen fixierte. Hätte ich irgendeinen Zweifel daran gehabt, so wurde jetzt überdeutlich klar, dass sie die Talentiertere der beiden war. Und in Anbetracht der tiefgreifenden Ermittlungen, die Jack Leeds durchgeführt haben musste, hieß das einiges.

»Ihr Kragen hat sich verkrempelt«, sagte sie ganz ruhig. »Warten Sie, ich mache das.« Ich hielt still, während sie mir mit geschickten Fingern hinten unter den Kragen fuhr und leicht am Jackett zupfte, bis alles richtig saß.

Danach gingen sie. Als ihr Wagen meine Auffahrt hinunterfuhr, zog ich das Jackett aus und untersuchte es sehr sorgfältig. Obwohl ich keine solche Absicht in ihren Gedanken vernommen hatte, war es doch möglich, dass sie mir eine Wanze untergejubelt hatte, oder? Vielleicht waren die Leeds sehr viel misstrauischer, als sie erkennen ließen. Nein, ich stellte fest: Lily war genau der penible Freak, als der sie erschien, und hatte meinen verkrempelten Kragen einfach nicht länger ertragen können. Solange ich allerdings noch misstrauisch war, inspizierte ich mein Badezimmer. Seit ich es vor einer Woche geputzt hatte, war ich nicht mehr drin gewesen, und es sah so ordentlich und frisch und blitzend aus, wie ein sehr altes Badezimmer in einem sehr alten Haus nur aussehen konnte. Das Waschbecken war feucht und das

Handtuch benutzt und wieder zusammengefaltet worden, das war alles. Nichts Zusätzliches war zu entdecken, und es fehlte auch nichts. Und sollte die Privatdetektivin in den Badezimmerschrank hineingesehen haben, so war es mir schlichtweg egal.

Mit dem Absatz blieb ich in einer größeren Ritze hängen, der Fußbodenbelag war an einigen Stellen schon ziemlich zerschlissen. Zum ungefähr hundertsten Mal fragte ich mich, ob ich mir das Verlegen von Linoleum nicht selbst beibringen könnte, denn der Boden hatte wirklich einen neuen Belag nötig. Und außerdem fragte ich mich, wie ich bloß in der einen Minute meinen Mord an Debbie Pelt vertuschen und schon in der nächsten meine Sorge dem aufgebrochenen Linoleum im Badezimmer widmen konnte.

»Sie war böse«, sagte ich laut heraus. »Sie war gemein und böse, und sie wollte, dass ich starb, ohne dass sie irgendeinen triftigen Grund dafür gehabt hätte.«

Genau, so ging es. Ich hatte gelebt in einem Panzer von Schuld, doch jetzt war er aufgebrochen und auseinander gefallen. Ich hatte diese ständige Angst so satt, und dann auch noch wegen einer Frau, die mich innerhalb von Sekunden umgebracht hätte, wegen einer Frau, die für meinen Tod alles zu geben bereit war. Ich hätte mich nie auf die Lauer gelegt und Debbie aus dem Hinterhalt angegriffen, aber ich hatte auch nie vorgehabt, mich von ihr umbringen zu lassen, bloß weil ihr mein Tod gerade in den Kram passte.

Zur Hölle mit dem ganzen Thema. Sie würden sie finden, oder auch nicht. Völlig sinnlos, sich deswegen das Hirn zu zermartern, so oder so.

Plötzlich fühlte ich mich viel besser.

Ich hörte einen Wagen durch den Wald heranfahren. Alcide war pünktlich. Ich erwartete, seinen Dodge Ram zu sehen, doch zu meiner Überraschung kam er in einem dunkelblauen Lincoln. Sein Haar war so glatt gekämmt wie irgend möglich, was nicht viel bedeutete, und er trug einen dezenten anthrazitgrauen Anzug und eine weinrote Krawatte. Ich starrte ihn durchs Fenster an, während er die Trittsteine zu meiner vorderen Veranda entlanglief. Er sah richtig zum Anbeißen aus, und ich versuchte, nicht zu kichern, als ich mir das vor meinem geistigen Auge bildlich vorstellte.

Als ich die Tür öffnete, schien er ebenso verblüfft. »Du siehst wundervoll aus«, sagte er nach einem langen forschenden Blick.

»Du auch«, erwiderte ich fast schüchtern.

»Wir sollten besser gleich losfahren.«

»Ja, wenn wir pünktlich ankommen wollen.«

»Wir müssen zehn Minuten früher da sein«, sagte Alcide.

»Warum das denn?« Ich griff nach meiner schwarzen Unterarmtasche, warf einen Blick in den Spiegel, um meinen Lippenstift zu kontrollieren, und schloss die Vordertür hinter mir ab. Zum Glück war es warm genug, dass ich an diesem Tag meinen Mantel zu Hause lassen konnte. Ich wollte mein Outfit nicht verdecken.

»Das ist die Beerdigung eines Werwolfs«, sagte er bedeutsam.

»Und wie unterscheidet sich die von einer normalen Beerdigung?«

»Es ist die Beerdigung eines Leitwolfs, und das macht sie... förmlicher.«

Okay, das hatte er mir gestern schon erzählt. »Und wie schafft ihr es, dass das den normalen Leuten nicht auffällt?«

»Du wirst schon sehen.«

Ich hatte so meine Befürchtungen in dieser Sache. »Bist du sicher, dass ich da hingehen sollte?«

»Er hat dich zur Freundin des Rudels ernannt.«

Daran erinnerte ich mich, obwohl mir zu dem Zeitpunkt nicht klar gewesen war, dass das ein Titel war, so wie es jetzt aus Alcides Mund klang: Freundin des Rudels.

Ich hatte das ungute Gefühl, es gäbe da noch sehr viel mehr über Colonel Floods Beisetzung zu wissen. Normalerweise besaß ich über jede erdenkliche Angelegenheit mehr Informationen, als zu bewältigen waren, da ich Gedanken lesen konnte; aber in Bon Temps gab es keine Werwölfe, und die anderen Gestaltwandler waren nicht organisiert wie die Werwölfe. Auch wenn ich Alcides Gedanken nur schwer lesen konnte, so hatte ich doch verstanden, dass ihn das mögliche Geschehen in der Kirche sehr beschäftigte und er sich Sorgen machte wegen eines Werwolfs namens Patrick.

Der Gottesdienst sollte in der Episkopalkirche »Unsere Gnadenreiche« stattfinden, die in einem älteren, gediegenen Stadtviertel von Shreveport stand. Das Kirchengebäude war sehr traditionell gehalten, in grauem Stein und mit spitzem Kirchturm. In Bon Temps gab es keine Episkopalkirche, doch ich wusste, dass die Gottesdienste denen der katholischen Kirche glichen. Alcide hatte erzählt, dass sein Vater ebenfalls zu der Beerdigung kam und uns seinen Wagen überlassen hatte. »Mein Pick-up ist dem würdevollen Anlass nicht angemessen, fand mein Vater«, sagte Alcide. Und seinen Gedanken entnahm ich, dass sein Vater ihn vor allen anderen beschäftigte.

»Wie kommt dein Vater denn dann dorthin?«, fragte ich.

»Mit seinem anderen Wagen«, sagte Alcide geistesabwesend, als hätte er mir gar nicht richtig zugehört. Die Vorstellung, dass ein Mann zwei Autos besaß, schockierte mich ein bisschen. Meiner Erfahrung nach hatten Männer allenfalls einen Familienwagen und einen Pick-up oder einen Pick-up und einen mit Allradantrieb. Aber die kleinen Schocks dieses Tages hatten für mich erst ihren Anfang genommen. Als wir die Autobahn erreichten und in Richtung Westen abbogen, hatte sich Alcides schlechte Laune im Auto ausgebreitet. Keine Ahnung, was los war, aber es führte zu anhaltendem Schweigen.

»Sookie«, begann Alcide plötzlich abrupt und umklammerte das Lenkrad, bis seine Knöchel weiß hervortraten.

»Ja?« Jetzt würden unschöne Dinge zur Sprache kommen, das war so klar, dass es Alcide auch in blinkenden Buchstaben auf die Stirn hätte geschrieben sein können. Mr Innerer Konflikt.

»Ich muss mit dir über etwas reden.«

»Worüber? Ist irgendwas an Colonel Floods Tod suspekt?«

Sollte mich nicht wundern!, sagte ich zu mir selbst. Aber auf die anderen Gestaltwandler war geschossen worden. Ein Verkehrsunfall war doch etwas ganz anderes.

»Nein«, erwiderte Alcide. »Soweit ich weiß, war der Unfall einfach bloß ein Unfall. Der andere Typ hat eine rote Ampel überfahren.«

Ich lehnte mich in den Ledersitz zurück. »Also, worum geht's?«

»Gibt es irgendetwas, was du mir erzählen möchtest?«

Ich gefror. »Was ich dir erzählen möchte? Was meinst du?«

»Jenen Abend. Der Abend, an dem der Hexenkrieg stattfand.«

Meine jahrelange Selbstkontrolle war meine einzige Rettung. »Nein, gar nichts«, sagte ich ruhig, obwohl ich meine Hände zu Fäusten geballt hatte, während ich sprach.

Alcide sagte kein weiteres Wort. Er parkte den Wagen und kam an meine Tür, um mir herauszuhelfen, was zwar unnötig, aber sehr aufmerksam war. Ich hatte beschlossen, dass ich meine Tasche in der Kirche nicht brauchen würde, legte sie unter den Sitz, und Alcide schloss ab. Gemeinsam gingen wir auf die Kirche zu. Alcide ergriff meine Hand, eine ziemliche Überraschung für mich. Ich mochte ja eine Freundin des Rudels sein, aber offensichtlich wurde von mir erwartet, dass ich einem bestimmten Rudelmitglied noch mehr war als nur eine Freundin.

»Da ist Dad«, sagte Alcide, als wir uns ein paar zusammenstehenden Trauernden näherten. Alcides Vater war etwas kleiner, aber er war ein ebenso bärenstarker Mann wie sein Sohn. Jackson Herveaux hatte stahlgraues statt schwarzes Haar und eine kühnere Nase. Seine Haut war olivenfarben, wie Alcides. Jackson wirkte nur viel dunkler, weil er neben einer blassen, zierlichen Frau mit schimmerndem weißem Haar stand.

»Vater«, sagte Alcide förmlich, »darf ich vorstellen, das ist Sookie Stackhouse.«

»Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen, Sookie.« Jackson Herveaux machte mit dem Vorstellen gleich weiter. »Das ist Christine Larrabee.« Christine, die genauso gut siebenundfünfzig wie siebenundsechzig sein konnte, sah aus wie ein Gemälde ganz in Pastelltönen. Ihre Augen waren von einem ausgewaschenen Blau, ihre feine Haut war magnolienweiß mit einem verschwindenden Anflug von Rosé und ihr weißes Haar war makellos frisiert. Sie trug ein hellblaues Kostüm, das ich persönlich erst angezogen hätte, wenn der Winter endgültig vorbei war. Aber es stand ihr hervorragend, so viel war sicher.

»Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Ich fragte mich tatsächlich, ob ich einen Knicks machen sollte. Alcides Vater hatte ich die Hand gegeben, aber Christine streckte ihre nicht aus. Sie nickte mir zu und lächelte liebenswürdig. Wahrscheinlich wollte sie mir keine blauen Flecken verpassen mit ihren großen Diamantringen, schloss ich nach einem verstohlenen Blick auf ihre Finger. Natürlich passten die zu ihren Ohrringen. Ich war deklassiert, keine Frage. Vergiss es, dachte ich. Es schien ein Tag zu sein, an dem ich alle unangenehmen Dinge am besten mit einem Achselzucken abtat.

»So ein trauriger Anlass«, sagte Christine.

Wenn sie höflich Konversation treiben wollte, damit konnte ich dienen. »Ja, Colonel Flood war ein wunderbarer Mensch.«

»Oh, Sie kannten ihn, meine Liebe?«

»Ja«, erwiderte ich. Ich hatte ihn sogar nackt gesehen, aber unter entschieden unerotischen Umständen.

An meine kurze Antwort konnte sie schlecht anknüpfen. In ihren Augen sah ich aufrichtiges Amüsement aufblitzen. Alcide und sein Dad tauschten leise flüsternd ein paar Worte, was wir anscheinend einfach zu ignorieren hatten.

»Sie und ich, wir sind hier heute zweifellos nur Staffage«, sagte Christine.

»Dann wissen Sie mehr als ich.«

»Das hoffe ich. Sie sind kein zweigestaltiges Geschöpf, nicht wahr?«

»Nein.« Christine war natürlich eins. Sie gehörte zu den reinrassigen Werwölfen, wie Jackson und Alcide. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, wie sich diese elegante Dame in eine Werwölfin verwandelte, vor allem weil die Werwölfe in der Welt der Gestaltwandler als besonders skrupellos galten. Aber der Eindruck, den mir ihre Gedanken vermittelten, war unmissverständlich.

»Die Beerdigung des Leitwolfs markiert zugleich den Beginn der Suche nach einem neuen«, erzählte Christine. Da das handfestere Informationen waren, als ich in zwei Stunden von Alcide erhalten hatte, fühlte ich mich der alten Dame sogleich freundlich verbunden.

»Sie müssen etwas ganz Außergewöhnliches sein, wenn sich Alcide für Sie als Begleiterin für den heutigen Tag entschieden hat«, fuhr Christine fort.

»Ach, ich weiß nicht. Ich habe allerdings Extras, die nicht jeder hat.«

»Hexe?«, fragte Christine. »Elfe? Kobold?«

Wow. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nichts davon. Was wird denn da drin passieren?«

»Es sind sehr viel mehr Kirchenbänke als sonst abgeteilt worden. Das ganze Rudel sitzt vorne in den ersten Reihen, Ehepaare natürlich zusammen mit ihren Kindern. Die Kandidaten der Wahl zum Leitwolf kommen als Letzte herein.«

»Wie werden die ausgesucht?«

»Sie bewerben sich selbst«, antwortete Christine. »Aber sie müssen eine Prüfung durchlaufen, und dann geben alle Mitglieder ihre Stimme ab.«

»Warum ist Alcides Vater in Ihrer Begleitung hier, oder ist das eine zu persönliche Frage?«

»Ich bin die Witwe des Leitwolfs vor Colonel Flood«, sagte Christine gelassen. »Das verschafft mir einen gewissen Einfluss.«

Ich nickte. »Ist der Leitwolf immer ein Mann?«

»Nein. Da aber körperliche Kraft in der Prüfung ausschlaggebend ist, gewinnt meistens ein Mann.«

»Wie viele Kandidaten gibt es?«

»Zwei. Jackson, natürlich, und Patrick Furnan.« Sie neigte ihren vornehmen Patrizierkopf leicht nach rechts, und ich sah mir das Paar näher an, das meiner Aufmerksamkeit bislang weitgehend entgangen war.

Patrick Furnan war Mitte vierzig, also irgendwo zwischen Alcide und seinem Vater. Er war ein stämmiger Mann mit einem hellbraunen Bürstenhaarschnitt und einem sehr kurz gestutzten, modischen Bart. Sein Anzug war ebenfalls braun, und er hatte wohl Schwierigkeiten gehabt, sein Jackett richtig zuzuknöpfen. Ihn begleitete eine hübsche Frau, deren fester Glaube an Lippenstift und Schmuck nicht zu übersehen war. Auch sie hatte kurzes braunes Haar, das aber von hellen Strähnen durchzogen und kunstvoll gestylt war. Ihre Absätze waren mindestens sieben Zentimeter hoch. Ich betrachtete die Schuhe mit Schrecken. Wenn ich in so was zu laufen versuchte, würde ich mir den Hals brechen. Doch diese Frau lächelte unentwegt und fand für jeden, der sich ihr näherte, ein freundliches Wort. Patrick Furnan war deutlich kühler. Mit seinen schmalen Augen taxierte und beurteilte er jeden der anwesenden Werwölfe.

»Ist diese Elizabeth Arden da seine Frau?«, fragte ich Christine sehr diskret und leise.

Christine gab einen Laut von sich, den ich bei jeder weniger vornehmen Person für ein Kichern gehalten hätte. »Sie hat ein bisschen viel Make-up aufgelegt, stimmt«, sagte Christine. »Ihr Name ist Libby. Ja, sie ist mit ihm verheiratet und außerdem eine reinrassige Werwölfin, und sie haben zwei Kinder. Er hat also schon zum Rudel beigetragen.«

Nur das älteste Kind würde in der Pubertät zum Werwolf werden.

»Was macht er beruflich?«, fragte ich.

»Er ist Vertragshändler für Harley-Davidson«, sagte Christine.

»Das passt.« Werwölfe hatten eine Vorliebe für Motorräder.

Christine lächelte; sehr viel näher kam sie einem lauten Lachen wohl nie.

»Wer liegt vorne?« Ich war da mitten in ein Spiel hineingeraten, dessen Regeln ich erst lernen musste. Alcide würde ich später noch deutlich die Meinung geigen. Jetzt wollte ich zunächst die Beerdigung hinter mich bringen, deswegen war ich schließlich hier.

»Schwer zu sagen«, murmelte Christine. »Ich hätte mich für keinen der beiden stark gemacht, wenn ich die Wahl gehabt hätte. Aber Jackson hat an unsere alte Freundschaft appelliert, und so musste ich mich einfach auf seine Seite stellen.«

»Das ist nicht sehr nett von ihm.«

»Nein, aber zweckmäßig«, sagte sie amüsiert. »Er braucht alle Unterstützung, die er kriegen kann. Hat Alcide Sie gebeten, für seinen Vater zu werben?«

»Nein. Ich wüsste gar nichts von der ganzen Sache, wenn Sie nicht so freundlich gewesen wären, mich aufzuklären.« Dankbar nickte ich ihr zu.

»Wenn Sie keine Werwölfin sind - entschuldigen Sie, meine Liebe, ich versuche nur, das zu verstehen -, was können Sie dann für Alcide tun? Warum hat er Sie da mit hineingezogen?«

»Diese Fragen wird er mir sehr bald schon beantworten müssen«, erwiderte ich. Und ich versuchte gar nicht zu verhindern, dass meine Stimme kühl und bedrohlich klang.

»Seine letzte Freundin ist spurlos verschwunden«, sagte Christine nachdenklich. »Zwischen den beiden ging es stets auf und ab, mal zusammen, mal getrennt, laut Jackson. Wenn Alcides Feinde etwas damit zu tun haben, sollten Sie auf sich Acht geben.«

»Ich glaube nicht, dass ich in Gefahr bin.«

»Oh?«

Ich hatte genug gesagt.

»Hmmm«, machte Christine, nachdem sie mich lange gemustert hatte. »Nun ja, diese Freundin war viel zu sehr Diva für eine Person, die nicht mal Werwolf ist.« Christines Tonfall drückte all die Verachtung aus, die Werwölfe anderen Gestaltwandlern gegenüber empfanden. (»Warum sich überhaupt verwandeln, wenn du dich nicht in einen Werwolf verwandeln kannst?«, hatte ich mal einen Werwolf sagen hören.)

Ein matt schimmernder rasierter Kopf erregte meine Aufmerksamkeit, und ich trat einen Schritt nach links, um bessere Sicht zu haben. Diesen Mann hatte ich noch nie gesehen. Und ich hätte mich sicher an ihn erinnert; er war sehr groß, größer als Alcide, und sogar größer als Eric, dachte ich. Er hatte breite Schultern, und seine Arme strotzten vor Muskeln. Seine Haut war braun wie die eines Kaukasiers, der in der Sonne gelegen hatte. Ich konnte das so genau erkennen, weil er ein ärmelloses schwarzes Seidenshirt anhatte, das in schwarzen Hosen steckte, zu denen er blankpolierte Abendschuhe trug. Es war ein kühler Tag Ende Januar, aber die Kälte schien ihm überhaupt nichts auszumachen. Die Leute um ihn herum hielten deutlich Abstand zu ihm.

Als ich ihn interessiert betrachtete, drehte er sich um und sah mich an, als ob er meine Aufmerksamkeit gespürt hätte. Er machte einen arroganten Eindruck, sein Gesicht war ebenso glatt wie sein rasierter Kopf. Aus dieser Entfernung wirkten seine Augen schwarz.

»Wer ist das?«, fragte ich Christine. Meine Stimme wurde vom aufkommenden Wind davongetragen, der an den Blättern der Stechpalmenbüsche vor der Kirche zerrte.

Christine warf einen Blick auf den Mann; sie wusste eindeutig, wen ich meinte, antwortete aber nicht.

Hier und da waren auch ganz normale Menschen in der Werwolf-Menge zu sehen, die die Stufen hinauf in die Kirche gingen. Jetzt erschienen an den Türen zwei Männer in schwarzen Anzügen. Sie kreuzten die Arme vor ihrem Körper, und der rechte nickte Jackson Herveaux und Patrick Furnan zu.

Am Fuß der Treppe stellten sich die beiden Kandidaten, jeweils mit ihrer Begleiterin, einander gegenüber auf. Die Werwölfe, die sich an einer Stelle gesammelt hatten, schritten durch diesen Gang in die Kirche hinein. Einige nickten dem einen, einige dem anderen zu und manche sogar beiden. Alles Zaungäste. Obwohl der Hexenkrieg kürzlich ihre Anzahl reduziert hatte, zählte ich immer noch fünfundzwanzig reinrassige erwachsene Werwölfe aus Shreveport. Für so eine kleine Stadt ein ziemlich großes Rudel. Das war vermutlich auf den Luftwaffenstützpunkt zurückzuführen, überlegte ich.

Jeder, der zwischen den beiden Kandidaten hindurchschritt, war ein reinrassiger Werwolf. Ich sah nur zwei Kinder. Manche Eltern hatten ihre Kinder vielleicht einfach nicht mitgenommen, sondern sie in die Schule geschickt. Aber dennoch sah ich hier mit Sicherheit das, wovon Alcide mir erzählt hatte: Unfruchtbarkeit und eine hohe Kindersterblichkeit plagten die Werwolf-Gemeinde.

Alcides jüngere Schwester Janice hatte einen normalen Mann geheiratet. Sie selbst konnte ihre Gestalt nicht verwandeln, da sie nicht das erstgeborene Kind war. Die genetisch zurückgedrängten Werwolfanlagen ihres Sohnes, so hatte Alcide gesagt, würden sich vielleicht als gesteigerte Vitalität oder große Heilkraft ausprägen. Viele Profisportler stammten aus Familien, in deren genetischen Anlagen sich ein gewisser Prozentsatz Werwolfblut befand.

»Eine Sekunde noch«, murmelte Alcide, der neben mir stand und die Gesichter musterte, die vorüberkamen.

»Ich werde dich umbringen nachher«, sagte ich zu ihm mit völlig gelassener Miene, schließlich gingen all die Werwölfe an uns vorüber. »Warum hast du mir das hier nicht erklärt?«

Der große Mann kam die Stufen hinauf, seine Arme schwangen beim Gehen hin und her, und er bewegte seinen kräftigen Körper entschlossen und würdevoll. Er drehte seinen Kopf zu mir herum, als er vorbeiging, und ich sah ihm in die Augen. Sie waren auffallend dunkel, aber die Farbe konnte ich immer noch nicht erkennen. Er lächelte mich an.

Alcide berührte meine Hand, als wüsste er, dass meine Aufmerksamkeit abgeschweift war. Er beugte sich herab, um mir ins Ohr zu flüstern. »Ich brauche deine Hilfe. Ich brauche dich, weil ich nach der Beerdigung unbedingt wissen muss, was in Patricks Gedanken vor sich geht. Er hat irgendwas vor, um meinen Vater zu sabotieren.«

»Warum hast du mich nicht einfach darum gebeten?« Ich war verwirrt, aber vor allem war ich verletzt.

»Ich dachte, du wärst auch der Meinung, dass du mir noch einen Gefallen schuldest!«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Ich weiß, dass du Debbie getötet hast.«

Eine Ohrfeige von ihm hätte mich nicht stärker schockieren können. Keine Ahnung, was für eine Miene ich machte. Nachdem der erste Schock und das unwillkürlich folgende Schuldgefühl etwas abgeklungen waren, sagte ich: »Du hattest dich von ihr losgesagt. Was hat das also mit dir zu tun?«

»Nichts«, erwiderte Alcide. »Nichts. Für mich war sie bereits tot.« Das nahm ich ihm keine Sekunde lang ab. »Aber du dachtest, es würde mir sehr viel ausmachen, und hast es vertuscht. Ich dachte, du kämst selbst darauf, dass du mir einen Gefallen schuldest.«

Wenn ich eine Pistole in der Handtasche gehabt hätte (die im Übrigen im Auto lag), wäre ich in diesem Moment versucht gewesen, sie zu ziehen. »Ich schulde dir gar nichts. Du hast mich doch nur mit dem Wagen deines Vaters abgeholt, weil du wusstest dass ich sofort wegfahre, wenn du's mir erzählst.«

»Nein«, sagte Alcide. Wir flüsterten immer noch miteinander. Den Seitenblicken, die wir ernteten, entnahm ich ein gesteigertes Interesse an unserem intensiven Gespräch. »Na ja, vielleicht. Vergiss diese Sache mit dem Gefallen bitte einfach. Tatsache ist, dass mein Vater in Schwierigkeiten steckt, und ich würde alles tun, um ihn da herauszuholen. Und du kannst dabei helfen.«

»Wenn du das nächste Mal meine Hilfe brauchst, bitte mich einfach darum. Und versuch nicht, mich zu erpressen oder mich in etwas hineinzumanövrieren. Ich helfe gern Leuten. Aber ich hasse es, gedrängt oder ausgetrickst zu werden.« Er hatte die Augen niedergeschlagen, also griff ich ihm ans Kinn und zwang ihn, mir in die Augen zu sehen. »Ich hasse es

Ich spähte zum Ende der Stufen hinauf, um abzuschätzen, wie viel Aufmerksamkeit unser Streit auf sich gezogen hatte. Der große Mann war wieder herausgekommen. Ohne merkliche Regung sah er zu uns hinunter. Aber ich wusste, dass wir seiner Aufmerksamkeit sicher sein konnten.

Alcide blickte ebenfalls hinauf, mit gerötetem Gesicht. »Wir müssen jetzt reingehen. Kommst du mit?«

»Was bedeutet es, wenn ich mit dir da hineingehe?«

»Es bedeutet, dass du die Kandidatur meines Vaters zum Leitwolf unterstützt.«

»Wozu verpflichtet mich das?«

»Zu nichts.«

»Warum ist es dann so wichtig, dass ich es tue?«

»Auch wenn die Wahl zum Leitwolf Angelegenheit des Rudels ist, beeinflusst es doch vielleicht manche, die wissen, was du im Hexenkrieg für das Rudel getan hast.«

Hexenkampf wäre präziser gewesen, denn obwohl es natürlich »wir gegen die« hieß, war die Gesamtzahl der Teilnehmer doch eher klein gewesen - ungefähr vierzig oder fünfzig. Aber in der Geschichte des Shreveport-Rudels hatte sich das Ganze wohl zu einem Ereignis von epischen Ausmaßen ausgewachsen.

Ich starrte auf meine schwarzen Pumps hinunter. Denn ich hatte mit widerstreitenden Gefühlen zu kämpfen. Sie schienen gleich stark zu sein. Das eine sagte: »Du bist auf einer Beerdigung. Mach keine Szene. Alcide ist auch schon gut zu dir gewesen, und es kostet dich nichts, ihm diesen Gefallen zu tun.« Das andere sagte: »Alcide hat dir in Jackson nur geholfen, weil er seinen Vater aus den Schwierigkeiten mit den Vampiren befreien wollte. Und jetzt versucht er wieder, dich wegen seines Vaters in etwas Gefährliches hineinzuziehen.« Die erste Stimme warf ein: »Er wusste, das Debbie böse war, und hat versucht, sich von ihr zurückzuziehen. Und dann hat er sich sogar von ihr losgesagt.« Die zweite entgegnete: »Warum hat er so ein Miststück wie Debbie überhaupt geliebt? Wie konnte er bloß auf den Gedanken kommen, bei ihr zu bleiben, als er von ihrer Gemeinheit erfuhr? Kein anderer hat je behauptet, sie hätte magische Fähigkeiten. Das ist doch nur eine billige Ausrede.« Ich fühlte mich wie Linda Blair in >Der Exorzist<, wenn ihr Kopf auf dem Hals rotierte.

Stimme Nummer eins hat letztlich gesiegt. Ich hakte mich bei Alcide ein, der mir den Arm geboten hatte, und ging mit ihm die Stufen hinauf und in die Kirche hinein.

Die Kirchenbänke waren voller normaler Menschen. Die vorderen drei Reihen zu beiden Seiten waren für das Rudel reserviert. Doch der große Mann, der überall herausragen würde, saß in der letzten Reihe. Flüchtig nahm ich seine breiten Schultern wahr, ehe ich mich ganz auf die Feierlichkeiten konzentrierte. Die Furnan-Kinder, beide süße kleine Teufelchen, gingen mit todernster Miene den Gang entlang zur ersten Reihe auf der rechten Seite. Dann traten Alcide und ich ein, vor den zwei Kandidaten für das Amt des Leitwolfs. Die Zeremonie des feierlichen Einzugs gestaltete sich fast ebenso seltsam wie auf einer Hochzeit, mit Alcide und mir als Trauzeuge und Brautjungfer. Jackson und Christine sowie Patrick und Libby Furnan folgten, quasi als Eltern von Braut und Bräutigam.

Keine Ahnung, was die normalen Trauergäste wohl davon halten mochten.

Ich wusste, dass sie uns alle anstarrten, aber das war mir nichts Neues. Wenn ich mich als Kellnerin an eins gewöhnt hatte, dann daran, dass ich ständig gemustert wurde. Ich war angemessen gekleidet, und ich sah so gut aus, wie meine Möglichkeiten es zuließen, und Alcide ebenfalls - also sollten sie doch starren. Alcide und ich setzten uns in die erste Reihe auf der linken Seite und rückten durch. Patrick Furnan und seine Frau Libby rutschten in dieselbe Reihe auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs. Dann drehte ich mich um und sah Jackson und Christine gemessenen, feierlichen Schrittes hereinkommen. Eine kleine Unruhe entstand, Köpfe drehten sich, Finger zeigten, Stimmen wisperten, und schließlich setzte sich Christine in die erste Reihe und Jackson setzte sich neben sie.

Nach den verschiedenen Gebeten, die Alcide mir im Gebetbuch zeigen musste, fragte der Geistliche, ob jemand ein paar Worte über Colonel Flood sagen wollte. Einer seiner Freunde vom Luftwaffenstützpunkt begann und sprach von Colonel Floods ausgeprägtem Pflicht- und Ehrgefühl während seiner aktiven Zeit als Befehlshaber. Einer seiner Mitstreiter in der Kirchengemeinde war der Nächste und pries die Großzügigkeit des Colonels, der so viel Zeit in die Bilanzbuchhaltung der Kirche investiert hatte.

Dann verließ Patrick Furnan seine Sitzbank und schritt auf die Kanzel zu. Sein Schreiten wirkte nicht gerade elegant, dafür war er zu stämmig. Doch seine Rede war auf jeden Fall eine Abwechslung nach den beiden vorangegangenen Lobeshymnen. »John Flood war ein bemerkenswerter Mann und eine gute Führungspersönlichkeit«, begann Furnan. Er war ein sehr viel besserer Redner, als ich erwartet hatte. Auch wenn ich nicht wusste, wer seine Rede geschrieben hatte, so stammte sie doch eindeutig von einer gebildeten Person. »In der Bruderschaft, der wir gemeinsam angehörten, war er stets derjenige, der uns den Weg wies und die Ziele aufzeigte. Je älter er wurde, desto öfter sagte er, dass sein Amt einen Jüngeren erfordern würde.«

Eine Kehrtwendung von der Trauerrede zur Wahlkampfrede. Ich war nicht die Einzige, der das auffiel; überall um mich herum gab es Bewegung, hörte ich geflüsterte Kommentare.

Verblüfft über die Reaktion, die er hervorgerufen hatte, sprach Patrick Furnan dennoch unbeirrt weiter. »Ich sagte zu John, dass er der beste Mann sei, den wir in diesem Amt je hatten, und das glaube ich auch heute noch. Wer auch immer in seine Fußstapfen treten wird, John Flood ist nicht zu ersetzen, und wir werden ihn nie vergessen. Der Nächste kann nur hoffen, seine Arbeit ebenso gut zu machen wie John. Ich werde stets stolz darauf sein, dass John mehr als einmal sein Vertrauen in mich setzte, ja, mich sogar als seine rechte Hand bezeichnete.« Mit diesen Worten unterstrich der Harley-Davidson-Händler seinen Anspruch darauf, Colonel Flood im Amt des Leitwolfs (oder, wie ich es nannte, des Rudelführers) zu folgen.

Alcide, rechts neben mir, kochte vor Wut. Hätte er nicht bei einer Beerdigung in der ersten Reihe gesessen, wäre er sicher liebend gern ein paar deftige Bemerkungen zum Thema Patrick Furnan losgeworden. Christine, die an Alcides anderer Seite saß, konnte ich kaum sehen, aber ihr Gesicht wirkte wie aus Elfenbein geschnitzt. Und sogar sie unterdrückte anscheinend den einen oder anderen Kommentar.

Alcides Dad wartete einen Augenblick, ehe er sich auf den Weg zur Kanzel begab. Offensichtlich sollten die Zuhörer sich geistig erst reinigen, bevor er seine Rede hielt.

Jackson Herveaux, wohlhabender Besitzer einer Baufirma und Werwolf, gab uns die Gelegenheit, sein schönes reifes Gesicht zu betrachten. Dann begann er. »Einen wie John Flood werden wir so bald nicht wieder unter uns haben. Seine Weisheit, die in all den Jahren oft gefordert war und vielen Prüfungen standgehalten hat... «

Autsch. Das klang nicht, als würde er irgendwas auf den Punkt bringen oder so. No, Sir!

Aus dem Rest des Gottesdienstes klinkte ich mich aus, um meinen Gedanken nachzuhängen. Es gab mehr als genug, worüber sich nachzudenken lohnte. Wir erhoben uns, als John Flood, Colonel der Luftwaffe und Leitwolf, zum letzten Mal diese Kirche verließ. Auf der Fahrt zum Friedhof schwieg ich, stand am Grab während der Beisetzung neben Alcide und ging zum Wagen zurück, als es vorbei war und all das Händeschütteln endlich ein Ende genommen hatte.

Ich sah mich nach dem großen Mann um, aber er war nicht auf dem Friedhof gewesen.

Auf unserer Fahrt zurück nach Bon Temps erhielt Alcide das Schweigen ganz bewusst aufrecht, doch jetzt war es an der Zeit, ein paar Fragen zu beantworten.

»Woher weißt du es?«, fragte ich.

Er tat nicht mal so, als würde er nicht verstehen, wovon ich sprach. »Als ich gestern zu dir nach Hause kam, konnte ich einen sehr, sehr feinen Hauch ihres Geruchs an deiner Vordertür wittern«, sagte Alcide. »Hat eine Weile gedauert, bis ich mir darüber klar wurde.«

Diese Möglichkeit hatte ich nie in Betracht gezogen.

»Wahrscheinlich wäre es mir auch gar nicht aufgefallen, wenn ich sie nicht so gut gekannt hätte«, fuhr er fort. »Allerdings habe ich sonst nirgends im Haus etwas gerochen.«

Also war all mein Geschrubbe und Gewienere doch nicht ganz umsonst gewesen. Was hatte ich für ein Glück, dass Jack und Lily Leeds keine zweigestaltigen Geschöpfe waren. »Möchtest du wissen, was passiert ist?«

»Ich glaube nicht«, erwiderte er nach einer deutlichen Pause. »Da ich Debbie kannte, gehe ich davon aus, dass du nur getan hast, was du tun musstest. Immerhin, es war ihr Geruch an deinem Haus. Dort hatte sie nichts zu suchen.«

Das war meilenweit entfernt von rückhaltlosem Einverständnis.

»Und zu der Zeit war ja auch noch Eric in deinem Haus, oder nicht? Vielleicht war es Eric?« Alcide klang fast hoffnungsvoll.

»Nein«, sagte ich.

»Vielleicht möchte ich doch die ganze Geschichte hören.«

»Und vielleicht habe ich gerade meine Meinung geändert. Entweder glaubst du an mich, oder du tust es nicht. Entweder glaubst du, ich wäre die Sorte Mensch, die eine Frau ohne triftigen Grund tötet, oder du weißt, dass ich nicht zu der Sorte Mensch gehöre.« Ehrlich, ich war weit mehr verletzt, als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich musste sehr aufpassen, um mich nicht in Alcides Gedanken zu schleichen, denn ich befürchtete, dass ich da etwas entdecken könnte, das noch weitaus schmerzlicher wäre.

Alcide versuchte noch mehrmals ein anderes Gesprächsthema anzuschneiden, aber die Fahrt konnte für mich gar nicht früh genug enden. Als er auf meine Auffahrt abbog und ich nur noch wenige Meter von zu Hause entfernt war, spürte ich eine überwältigende Erleichterung. Ich konnte kaum schnell genug aus diesem schicken Wagen herauskommen.

Alcide stand direkt hinter mir.

»Es ist mir egal«, sagte er mit einer Stimme, die beinahe ein Knurren war.

»Was?« Ich stand schon vor der Vordertür, und der Schlüssel steckte im Schloss.

»Es ist mir egal.«

»Daran glaube ich keine Sekunde lang.«

»Was?«

»Ich kann deine Gedanken nicht so gut lesen wie die eines normalen Menschen, Alcide, aber ich erkenne Zurückhaltung, wenn ich sie wahrnehme. Da ich dir in dieser Angelegenheit mit deinem Dad ja helfen sollte, sage ich dir: Dieser Patrick will die Probleme deines Dads in Sachen Glücksspiel als Argument dafür benutzen, dass er als Leitwolf ungeeignet ist.« Es war doch nichts tückischer und übernatürlicher als die Wahrheit. »Ich hatte seine Gedanken schon gelesen, ehe du mich darum gebeten hast. Und ich möchte dich jetzt für eine sehr, sehr, sehr lange Zeit nicht mehr sehen.«

»Was?«, sagte Alcide erneut. Er machte den Eindruck, als hätte ich ihm eine Eisenstange über den Kopf gezogen.

»Dich zu sehen ... deine Gedanken zu lesen ... das macht mich krank.« Natürlich gab es viele verschiedene Gründe dafür, aber ich hatte keine Lust, sie alle aufzuzählen. »Also, danke für die Fahrt zur Beerdigung.« (Meine Stimme mag ein wenig höhnisch geklungen haben.) »Sehr nett, dass du an mich gedacht hast.« (Hier war die Wahrscheinlichkeit eines höhnischen Tonfalls sogar noch höher.) Ich trat ins Haus, schlug ihm die Tür vor dem verdutzten Gesicht zu und schloss ab, um endgültig auf der sicheren Seite zu sein. Dann ging ich quer durchs Wohnzimmer, damit er meine Schritte vernahm, blieb aber in der Diele stehen und wartete darauf, dass ich ihn zu seinem Lincoln zurückgehen hörte. Ich lauschte auf das sich entfernende Geräusch des großen Wagens, der meine Auffahrt entlangraste und wahrscheinlich tiefe Spuren in meinem schön aufgestreuten Kies hinterließ.

Als ich Taras Kostüm auszog und zurück in den Kleidersack legte, um es später zur Reinigung zu bringen, war ich - zugegeben - trübseliger Stimmung. Die Leute sagen immer, wenn eine Tür zugeht, öffnet sich eine andere. Aber sie haben eben noch nie in meinem Haus gewohnt.

Und hinter den meisten Türen, die ich öffne, lauert sowieso etwas ziemlich Furchterregendes.