Kapitel 14

Ich schlief Stunde um Stunde um Stunde.

Und als ich endlich aufwachte, war Tara weg.

Panik packte mich, bis ich bemerkte, dass sie die Decke zusammengelegt, ihr Gesicht im Badezimmer gewaschen (feuchter Waschlappen) und ihre Schuhe angezogen hatte. Außerdem hatte sie eine kleine Notiz hinterlassen, auf einem alten Briefumschlag, auf dem bereits die ersten Dinge meiner Einkaufsliste standen. »Ich rufe dich später an. T« - eine äußerst knappe Notiz, die nicht gerade von schwesterlicher Liebe zeugte.

Ich war ein bisschen traurig. Denn jetzt würde Tara mich eine Zeit lang wohl nicht mehr als ihre beste Freundin betrachten. Sie hatte sich selbst deutlicher ins Gesicht sehen müssen, als ihr lieb gewesen war.

Es gibt produktive Tage, an denen ich viel nachdenke, und es gibt unproduktive Tage. Heute war ein unproduktiver Tag. Meine Schulter fühlte sich schon viel besser an, und ich beschloss, in den Wal-Mart in Clarice zu fahren, wo ich all meine Einkäufe auf einmal erledigen konnte. Außerdem würde ich dort nicht so viele Leute treffen, die ich kannte und mit denen ich über meine Schusswunde würde sprechen müssen.

Es tat gut, anonym in dem großen Supermarkt herumzulaufen. Ich ließ mir Zeit, sah mir vieles genauer an und suchte mir sogar einen Duschvorhang für das Badezimmer im Doppelhaus aus. Ganz gemächlich arbeitete ich meine Einkaufsliste ab. Als ich die Tüten vom Einkaufswagen in den Kofferraum packte, versuchte ich, alles konsequent mit dem rechten Arm zu erledigen. Ich war die personifizierte Vernunft, als ich zurück nach Hause in die Berry Street kam.

Der Lieferwagen des Blumenhändlers von Bon Temps stand in der Auffahrt. Das Herz jeder Frau schlägt etwas schneller, wenn der Lieferwagen des Blumenhändlers auftaucht, und ich machte da keine Ausnahme.

»Ich habe gleich mehrere Lieferungen für diese Adresse«, sagte Bud Dearborns Frau Greta. Wie der Sheriff hatte auch Greta ein flaches Gesicht und war untersetzt, aber sie war von fröhlichem Wesen und arglos. »Was haben Sie für ein Glück, Sookie.«

»Ja, Ma'am, das habe ich«, stimmte ich ihr zu, und es klang auch nur ein winziger Hauch Ironie mit. Nachdem Greta mir geholfen hatte, die Einkaufstüten hineinzutragen, begann sie, Blumen zu holen.

Tara hatte mir eine kleine Vase mit Margeriten und Nelken geschickt. Margeriten sind meine Lieblingsblumen, und das Gelb mit dem Weiß machte sich sehr gut in meiner kleinen Küche. Auf der Karte stand einfach nur »Von Tara«.

Von Calvin kam ein kleiner Gardenienstrauch, eingehüllt in Zellophan und mit einer großen Schleife versehen. Er sprengte schon fast den Plastiktopf und konnte draußen eingepflanzt werden, sobald kein Nachtfrost mehr zu befürchten war. Ich war ganz beeindruckt, mit welcher Weitsicht dieses Geschenk ausgesucht worden war, denn der Gardenienstrauch würde meinen Garten jahrelang mit seinem Duft erfüllen. Weil Calvin den Auftrag telefonisch aufgegeben hatte, trug die Karte nur die übliche Aufschrift »Mit den besten Wünschen - Calvin«.

Pam hatte einen bunten Blumenstrauß gesandt, und auf der Karte las ich: »Keine weiteren Schießereien! Von der Fangtasia-Gang.« Darüber musste ich tatsächlich lachen. Ganz automatisch dachte ich daran, Dankesantworten zu schreiben, aber natürlich hatte ich mein Briefpapier nicht mitgebracht. Ich würde noch mal bei der Apotheke vorbeifahren müssen.

Die Apotheke in der Innenstadt hatte eine Ecke, in der Papier und Schreibbedarf verkauft wurde; und außerdem nahmen sie dort auch Pakete für den UPS-Versand entgegen. Tja, in Bon Temps muss jeder flexibel sein.

Ich verstaute meine Einkäufe, hängte ziemlich ungeschickt den Duschvorhang auf und machte mich für die Arbeit fertig.

Sweetie Des Arts war die Erste, die ich sah, als ich durch die Hintertür für Angestellte kam. Sie hatte den Arm voller Geschirrhandtücher und bereits ihre Schürze umgebunden. »Du bist ja wirklich nicht totzukriegen«, sagte sie. »Wie geht's dir denn?«

»Ganz gut«, erwiderte ich. Es kam mir so vor, als hätte Sweetie auf mich gewartet, und das wusste ich zu schätzen.

»Wie ich höre, hast du dich gerade noch rechtzeitig geduckt«, fuhr Sweetie fort. »Wie ist dir das denn gelungen? Hast du etwas gehört?«

»Das eigentlich nicht«, sagte ich. In dem Moment humpelte Sam am Stock aus seinem Büro. Er blickte finster drein. Ich wollte Sweetie meine kleine Macke garantiert nicht während meiner Arbeitszeit erklären und entgegnete: »Ich hatte das irgendwie im Gefühl.« Dann zuckte ich die Achseln, was wider Erwarten enorm schmerzhaft war.

Sweetie schüttelte den Kopf über meine letzte Bemerkung, drehte sich um und ging zurück in die Küche.

Sam machte mir mit dem Kopf ein Zeichen, mit ihm ins Büro zu kommen, und mit sinkendem Mut folgte ich seiner Aufforderung. Er schloss die Tür hinter uns. »Was hast du getan, ehe du angeschossen wurdest?«, fragte er. In seinen Augen stand Verärgerung.

Ich hatte nicht vor, mir auch noch vorwerfen zu lassen, was mir zugestoßen war. Ich richtete mich kerzengerade auf und sah Sam direkt ins Gesicht. »Ich habe mir in der Bücherei neue Bücher ausgeliehen«, sagte ich mit leicht verbissener Miene.

»Warum also hätte der Schütze annehmen sollen, dass du eine Gestaltwandlerin bist?«

»Keine Ahnung.«

»Mit wem hattest du zu tun?«

»Ich hatte Calvin besucht, und ich hatte ...« Meine Stimme erstarb, als ich das Ende eines Gedankens zu fassen bekam. »Wer kann eigentlich sagen, dass jemand wie ein Gestaltwandler riecht? Nur ein Gestaltwandler selbst, stimmt's? Oder einer mit Gestaltwandlerblut. Oder ein Vampir. Ein übernatürliches Geschöpf, ein Supra.«

»Aber in letzter Zeit gab's hier in der Gegend keine seltsamen Gestaltwandler.«

»Bist du mal dorthin gegangen, wo der Schütze gestanden haben muss, um seinen Geruch zu wittern?«

»Nein. Ich war nur einmal bei einer dieser Schießereien dabei, und da hatte ich genug damit zu tun, schreiend auf dem Boden zu liegen, während mir das Blut aus dem Bein strömte.«

»Aber jetzt könntest du doch vielleicht etwas wahrnehmen?«

Zweifelnd sah Sam auf sein Bein hinunter. »Es hat geregnet, aber einen Versuch könnte es schon wert sein«, räumte er ein. »Daran hätte ich selbst denken sollen. Okay, heute Abend, nach der Arbeit.«

»Das ist eine feste Verabredung«, sagte ich leichthin, als Sam auf seinen quietschenden Stuhl sank. Ich legte meine Tasche in die Kommodenschublade, die Sam extra freihielt, und ging in die Bar, um nach meinen Tischen zu sehen.

Charles war gut beschäftigt und nickte mir lächelnd zu, ehe er sich wieder auf den Pegel des Bierkrugs konzentrierte, den er unter den Zapfhahn hielt. Jane Bodehouse, die sich im Merlotte's ständig betrank, saß am Bartresen und hatte Charles fest im Visier. Dem Vampir schien das nichts weiter auszumachen. In der Bar ging, wie ich feststellte, alles wieder seinen gewohnten Gang; der neue Barkeeper war in den Hintergrund getreten.

Als ich bereits eine Stunde gearbeitet hatte, kam Jason herein. Er hielt Crystal im Arm, die sich an ihn schmiegte, und er war so glücklich, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Sein neues Leben war aufregend für ihn, und seine Beziehung mit Crystal gefiel ihm sehr. Ich fragte mich, wie lange das wohl dauern würde. Und Crystal selbst schien sich diese Frage auch zu stellen.

Sie erzählte mir, dass Calvin morgen aus dem Krankenhaus entlassen und nach Hotshot zurückkehren werde. Ich beeilte mich, die Blumen zu erwähnen, und sagte, ich würde für Calvin zur Feier seiner Entlassung ein Essen kochen.

Crystal war sich ziemlich sicher, dass sie schwanger war. Auch wenn die Gedanken von Gestaltwandlern ein einziges Gewirr sind, konnte ich diese Überlegung doch glasklar erkennen. Es war nicht das erste Mal, dass ein Mädchen, das mit Jason »zusammen« war, ihn schon als den Dad ihrer Kinder betrachtete. Und ich hoffte, dass es sich diesmal genauso um einen Irrtum handelte wie das letzte Mal. Nicht dass ich irgendetwas gegen Crystal gehabt hätte ... Tja, das war eine handfeste Lüge, sagte ich mir selbst. Ich hatte etwas gegen Crystal. Crystal war ein Teil von Hotshot, und sie würde es nie verlassen. Ich wollte einfach nicht, dass meine Nichten und Neffen in dieser seltsamen Gemeinde aufwuchsen, beständig unter dem magischen Einfluss jener Wegkreuzung, die ihren Mittelpunkt bildete.

Im Augenblick verheimlichte Crystal Jason noch, dass ihre Periode ausgeblieben war, und das wollte sie auch so lange tun, bis sie sich Klarheit verschafft hatte. Sehr vernünftig, wie ich fand. Sie nippte an einem Bier, während Jason zwei kippte, und dann gingen sie wieder, nach Clarice ins Kino. Jason nahm mich zum Abschied in den Arm, als ich gerade Drinks an einen ganzen Haufen Gesetzeshüter verteilte. Alcee Beck, Bud Dearborn, Andy Bellefleur, Kevin Pryor und Kenya Jones plus Arlenes neuer Schwarm, Brandexperte Dennis Pettibone, saßen alle gedrängt an zwei Tischen, die in einer Ecke zusammengeschoben worden waren. Unter ihnen waren auch noch zwei Fremde, aber ich bekam schnell mit, dass die beiden ebenfalls Polizisten waren, die irgendeinem Sonderkommando angehörten.

Arlene hätte sie sicher gern bedient, aber sie saßen ganz eindeutig in meinem Bereich, und sie sprachen ganz eindeutig über eine ungeheuer wichtig Sache. Als ich ihre Bestellungen aufnahm, verstummten alle, und als ich davonging, führten sie ihr Gespräch fort. Für mich machte es natürlich keinen Unterschied, was sie laut aussprachen oder auch nicht, denn ich wusste genau, was jeder Einzelne von ihnen dachte.

Und sie alle wussten das sehr gut; und sie alle vergaßen es stets. Vor allem Alcee Beck hatte sich vor mir zu Tode gefürchtet, doch selbst er blendete meine Fähigkeiten jetzt vollkommen aus - obwohl ich sie ihm bereits vorgeführt hatte. Und das Gleiche galt für Andy Bellefleur.

»Was brütet denn der Kongress der Gesetzeshüter da hinten in der Ecke aus?«, fragte Charles. Jane war auf die Damentoilette getorkelt, so dass er ganz allein an der Bar war.

»Mal sehen«, sagte ich und schloss die Augen, um mich besser konzentrieren zu können. »Also, sie überlegen, heute Abend einen anderen Parkplatz zu überwachen; und sie sind überzeugt davon, dass der Brandexperte mit den Schießereien zu tun hat und dass Jeff Marriots Tod irgendwie mit allem zusammenhängt. Sie fragen sich sogar, ob das Verschwinden von Debbie Pelt zu diesen Verbrechen dazugezählt werden muss; zumal sie das letzte Mal gesehen wurde, als sie ihren Wagen an der Autobahntankstelle, die am dichtesten an Bon Temps liegt, voll tankte. Und mein Bruder Jason, der vor ein paar Wochen eine Zeit lang verschwunden war, könnte eventuell auch in dieses Bild hineinpassen.« Ich schüttelte den Kopf und öffnete die Augen, nur um festzustellen, dass Charles mir beunruhigend nah war. Sein gesundes Auge, das rechte, starrte angestrengt in mein linkes.

»Du hast höchst ungewöhnliche Gaben, junge Frau«, sagte er nach einem Augenblick. »Mein letzter Arbeitgeber hat ungewöhnliche Geschöpfe gesammelt.«

»Für wen hast du gearbeitet, bevor du in Erics Bezirk gekommen bist?«, fragte ich. Er drehte sich um und griff nach der Flasche Jack Daniel's.

»Für den König von Mississippi«, erwiderte er.

Ich fühlte mich, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. »Und warum bist du aus Mississippi weggegangen und hierhergekommen?«, fragte ich weiter und ignorierte die Rufe vom Tisch zwei Meter entfernt.

Der König von Mississippi, Russell Edgington, kannte mich als Alcides Freundin, wusste aber nichts von meinen telepathischen Fähigkeiten und dass ich sie gelegentlich für Vampire einsetzte. Es war sehr gut möglich, dass Edgington einen Groll gegen mich hegte. Bill war in den früheren Stallungen hinter Edgingtons Herrenhaus gefangen gehalten und von Lorena gefoltert worden, von der Frau, die ihn vor über hundertvierzig Jahren zum Vampir gemacht hatte. Bill war entkommen und Lorena gestorben. Russell Edgington musste nicht unbedingt wissen, dass ich die treibende Kraft hinter diesen Ereignissen gewesen war. Andererseits war es aber sehr gut möglich, dass er es wusste.

»Mich hat Russells Verhalten angeödet«, sagte Charles. »Ich teile seine sexuelle Vorliebe nicht, und es wurde einfach langweilig, von all diesen Perversen umgeben zu sein.«

Edgington hatte gern Männer um sich, das stimmte. Er hatte ein ganzes Haus voll von ihnen, wie auch einen ständigen menschlichen Begleiter, Talbot.

Möglich, dass Charles während meines Aufenthalts auch dort gewesen war, obwohl ich ihn nicht bemerkt hatte. Ich war an dem Abend, als ich in das Herrenhaus gebracht wurde, schwer verletzt. Ich hatte daher nicht alle seine Bewohner gesehen, und an die, die ich gesehen hatte, erinnerte ich mich nicht unbedingt.

Mir fiel auf, dass der Vampir-Pirat und ich unseren Augenkontakt aufrechterhielten. Wenn sie eine bestimmte Zeit überlebt haben, können Vampire die Gefühle von Menschen sehr gut lesen, und ich fragte mich, was Charles Twining in meinem Gesicht und meinem Verhalten wohl ausmachte. Dies war einer der seltenen Momente, in denen ich wünschte, ich könnte die Gedanken von Vampiren lesen. Ob Eric eigentlich von Charles' Herkunft wusste? Er hatte ihn doch sicher nicht ohne Überprüfung einfach so eingestellt? Eric war ein umsichtiger Vampir. Er kannte geschichtliche Epochen, von denen ich nicht mal eine Ahnung hatte, und er hatte überlebt, weil er sehr vorsichtig war.

Schließlich drehte ich mich um und erfüllte die Forderungen der rufenden Gäste, die schon seit einigen Minuten ihre Bierkrüge neu gefüllt haben wollten.

Für den Rest des Abends vermied ich es, mit unserem neuen Barkeeper zu sprechen. Ich fragte mich, warum er mir das alles wohl erzählt hatte. Entweder wollte Charles mich wissen lassen, dass er mich beobachtete, oder er hatte wirklich keine Ahnung, dass ich erst vor kurzem in Mississippi gewesen war.

Da hatte ich jetzt eine Menge, worüber ich nachdenken konnte.

Und auch an diesem Abend ging meine Arbeitszeit schließlich zu Ende. Wir mussten Janes Sohn anrufen, damit er seine volltrunkene Mutter abholte, aber das war nichts Neues. Der Barkeeper-Pirat hatte einen guten Abend gehabt, keine Fehler gemacht, mit jedem Gast, den er bediente, ein freundliches Wort gewechselt, und das Glas mit seinem Trinkgeld war wohlgefüllt.

Bill kam seinen Untermieter abholen, als wir dabei waren, die Bar für diesen Abend zu schließen. Ich hätte am liebsten ein paar Worte unter vier Augen mit ihm gesprochen, doch Charles stand wie der Blitz neben ihm, so dass ich dazu keine Gelegenheit hatte. Bill warf mir einen sonderbaren Blick zu, aber sie waren gegangen, noch ehe ich den Mund hatte aufmachen können. Ich hätte ohnehin nicht gewusst, was ich sagen sollte. Als mir einfiel, dass Bill Russell Edgingtons Angestellte auf jeden Fall kannte, weil diese Angestellten ihn gefoltert hatten, beruhigte ich mich wieder. Wenn Bill Charles Twining nicht kannte, war er vielleicht okay.

Sam war bereit für unsere Schnüffelaktion. Draußen war es kalt und wunderbar klar, am nächtlichen Himmel funkelten die Sterne. Sam war dick eingepackt, und ich zog meinen schönen roten Mantel an. Ich besaß dazu passende Handschuhe und einen Hut, und die würde ich jetzt dringend brauchen. Auch wenn der Frühling jeden Tag näher rückte, ließ der Winter uns noch nicht los.

Außer uns war keiner mehr im Merlotte's. Der Parkplatz war leer, abgesehen von Janes Wagen. Das grelle Licht der Sicherheitslampen ließ die Nacht noch dunkler erscheinen. In weiter Ferne hörte ich einen Hund bellen. Sam bewegte sich sehr vorsichtig mit seinen Krücken und versuchte, allen Unebenheiten des Parkplatzes aus dem Weg zu gehen.

»Ich verwandle mich«, sagte Sam und meinte damit genau das, was ihr jetzt glaubt.

»Was passiert dann mit deinem Bein?«

»Das werden wir ja sehen.«

Sam war ein reinrassiger Gestaltwandler von beiden Elternseiten her. Er war auch im Stande, sich zu verwandeln, wenn kein Vollmond war; obwohl es sehr unterschiedliche Erlebnisse waren, wie er mir mal erzählt hatte. Außerdem konnte sich Sam in mehr als nur ein Tier verwandeln, Hunde waren ihm allerdings am liebsten, und unter den Hunden wiederum der Collie.

Sam verschwand hinter der Hecke vor seinem Wohnwagen, um seine Kleidung abzulegen. Sogar bei Nacht sah ich die Wirbel in der Luft, die das Wirken von Magie um ihn anzeigten. Er fiel auf die Knie und keuchte, und dann konnte ich ihn durch die dichte Hecke nicht mehr erkennen. Eine Minute später trottete ein Bluthund heran, ein rötlicher, dessen gespitzte Ohren sich hin und her drehten. So hatte ich Sam noch nie gesehen, und ich brauchte eine Sekunde, bis ich begriff, dass er es war. Als der Hund zu mir aufsah, wusste ich, dass mein Boss in ihm steckte.

»Komm, Dean«, sagte ich. Diesen Namen hatte ich Sam in seiner Tiergestalt gegeben, ehe ich erkannt hatte, dass der Mann und der Hund ein und dasselbe Wesen waren. Der Bluthund trottete vor mir her quer über den Parkplatz und zu dem Wäldchen, in dem der Schütze Sam aufgelauert hatte. Ich achtete darauf, wie der Hund sich bewegte. Er belastete seinen rechten Hinterlauf etwas stärker, es war aber nicht allzu auffällig.

In dem nächtlichen Wäldchen war der Himmel von den Bäumen teilweise verdeckt. Ich hatte eine Taschenlampe dabei und machte sie an, aber irgendwie ließ das die Bäume noch gruseliger erscheinen. Der Bluthund - Sam - war bereits an dem Platz angelangt, von dem aus der Schütze laut Polizei gezielt haben sollte. Der Hund näherte seinen Kopf mit hängenden Lefzen dem Erdboden und lief herum, um all die Geruchseindrücke, die er aufnahm, einordnen zu können. Ich versuchte, aus dem Weg zu bleiben, und fühlte mich ziemlich nutzlos. Plötzlich sah Dean zu mir auf und bellte leise. Dann lief er zum Parkplatz zurück, wahrscheinlich hatte er alles entdeckt, was es zu entdecken gab.

Wie vorher besprochen, lud ich Dean in den Malibu, um ihn zu einem anderen Tatort zu fahren, zu einem Platz hinter ein paar alten Geschäftsgebäuden gegenüber von Sonic, wo sich der Schütze an dem Abend versteckt hatte, als die arme Heather Kinman erschossen wurde. Ich bog in die kleine Gasse hinter den alten Geschäften ein und parkte hinter Patsys Reinigung, die vor fünfzehn Jahren in einen neuen und komfortableren Laden umgezogen war. Zwischen der Reinigung und dem verfallenen und schon lange leer stehenden Louisiana Futter & Saatgut eröffnete ein schmaler Durchgang einen großartigen Blick auf Sonic. Das Fastfood-Restaurant hatte nachts geschlossen, war aber immer noch hell erleuchtet. Da das Sonic an der Hauptverkehrsader der Stadt lag, erstrahlten die ganze Straße rauf und runter Lichter, und ich konnte die gut beleuchteten Bereiche sehr gut erkennen. Leider machte das die umliegende Dunkelheit nur umso undurchdringlicher. Und wieder suchte der Bluthund den Erdboden ab, wobei er sich für den mit Unkraut bewachsenen Durchgang zwischen den beiden Gebäuden besonders interessierte - ein Durchgang, gerade breit genug, dass ein Mensch dort entlanggehen konnte. Der Hund schien ziemlich aufgeregt über einen ganz bestimmten Geruch, den er gefunden hatte. Ich war ebenfalls aufgeregt und hoffte, dass dieser Geruch uns zu einem Beweis führen würde, der auch vor der Polizei bestehen konnte.

Plötzlich bellte Dean laut auf, hob den Kopf und sah an mir vorbei. Er fixierte ganz sicher irgendetwas oder jemanden. Fast widerwillig drehte ich mich um. Andy Bellefleur stand dort, wo die Verlängerung des schmalen Durchgangs zwischen den Gebäuden auf die kleine Gasse traf. Nur auf sein Gesicht und seinen Oberkörper fiel Licht.

»Jesus Christus, Hirte von Judäa! Andy, du hast mich fast zu Tode erschreckt!« Hätte ich den Hund nicht so intensiv beobachtet, hätte ich ihn sicher kommen hören. Die Überwachungspatrouille, verdammt. Daran hätte ich auch denken können.

»Was tust du denn hier, Sookie? Wo hast du diesen Hund her?«

Mir fiel keine einzige Antwort ein, die halbwegs plausibel klang. »Es schien mir einen Versuch wert, zu sehen, ob ein geschulter Hund irgendeine Fährte aufnehmen könnte, dort, wo der Schütze gestanden hat«, sagte ich. Dean drückte sich an mein Bein, hechelnd und sabbernd.

»Und seit wann stehst du auf der Gehaltsliste der Polizei?«, fragte Andy in ganz normalem Plauderton. »Ich wusste gar nicht, dass du als Detective angestellt wurdest.«

Okay, das lief irgendwie nicht gut.

»Andy, wenn du uns durchlässt, werde ich mit dem Hund einfach wieder in meinen Wagen steigen und wegfahren, und du musst dich nicht weiter über mich ärgern.« Er war wahnsinnig wütend und fest entschlossen, das mit mir auszufechten, mit welchen Folgen auch immer. Andy wollte, dass sich die Welt nach den Fakten ordnete, die er kannte, und in den Bahnen lief, die vorgesehen waren. Und in diese Welt passte ich nicht hinein. Auf diesen Bahnen bewegte ich mich nicht. Ich konnte Gedanken lesen. Und mir gefiel gar nicht, was ich da gerade mitkriegte.

Zu spät erkannte ich, dass Andy in der Runde im Merlotte's sich wohl einen Drink zu viel genehmigt hatte. Genug jedenfalls, um seine übliche Zurückhaltung aufzugeben.

»Du solltest nicht in unserer Stadt leben, Sookie«, begann er.

»Darauf habe ich genauso ein Recht wie du, Andy Bellefleur.«

»Du bist ein genetischer Irrtum oder so etwas. Deine Großmutter war eine wirklich nette Frau, und die Leute sagen, dass dein Dad und deine Mom gute Menschen waren. Was ist mit dir und Jason bloß los?«

»Mit Jason und mir ist alles soweit in bester Ordnung, Andy«, sagte ich ruhig, doch seine Worte stachen wie Feuerameisen. »Wir sind ganz normale Leute, nicht besser oder schlechter als du und Portia.«

Andy schnaubte vernehmlich.

Plötzlich begann die gegen mein Bein gedrückte Flanke des Bluthunds zu vibrieren. Dean knurrte fast unhörbar. Aber er sah nicht Andy an. Der große Kopf des Hundes war in eine andere Richtung gedreht, in Richtung der dunklen Schatten am anderen Ende der Gasse. Ein weiteres lebendes Wesen: ein Mensch. Kein normaler Mensch allerdings.

»Andy«, flüsterte ich, und mein Flüstern ließ ihn seine Selbstbezogenheit aufgeben. »Bist du bewaffnet?«

Ich weiß selbst nicht, ob ich mich so viel besser fühlte, als er seine Pistole zog.

»Fallen lassen, das Ding, Bellefleur«, sagte jemand, der keinen Spaß verstand und dessen Stimme vertraut klang.

»Blödsinn.« Andy lachte höhnisch. »Warum sollte ich das tun?«

»Weil ich hier was Größeres habe«, sagte die Stimme kalt und sarkastisch. Sweetie Des Arts trat aus der Dunkelheit, ein Gewehr in der Hand. Sie zielte auf Andy, und ich zweifelte nicht daran, dass sie bereit war zu schießen. Ich fühlte mich, als hätte ich mich in einen Wackelpudding verwandelt.

»Warum verschwinden Sie nicht einfach, Andy Bellefleur?«, fragte Sweetie. Sie trug einen Handwerkeroverall und eine Jacke, und ihre Hände steckten in Handschuhen. Von einer Köchin hatte sie rein gar nichts an sich. »Gegen Sie habe ich nichts. Sie sind bloß ein Mensch.«

Andy schüttelte den Kopf, als versuche er verzweifelt einen klaren Gedanken zu fassen. Seine Pistole hatte er immer noch nicht fallen lassen, fiel mir auf. »Sie sind die Köchin aus dem Merlotte's, richtig? Warum tun Sie das?«

»Das sollten Sie wissen, Bellefleur. Ich habe Ihr kleines Gespräch mit der Gestaltwandlerin hier gehört. Dieser Hund da ist vielleicht auch ein Mensch, jemand, den Sie kennen.« Sie wartete Andys Antwort nicht ab. »Und Heather Kinman war auch eine von denen. Sie verwandelte sich in eine Füchsin. Und dieser Typ, der bei Norcross arbeitet, Calvin Norris? Der ist ein verdammter Panther.«

»Und du hast auf alle geschossen? Auch auf mich?« Ich wollte unbedingt, dass Andy das haargenau mitbekam. »Da gibt's nur einen Fehler in deiner kleinen Vendetta, Sweetie. Ich bin keine Gestaltwandlerin.«

»Du riechst wie eine«, erklärte Sweetie, völlig überzeugt davon, dass sie Recht hatte.

»Einige Freunde von mir sind Gestaltwandler, und an jenem Tag hatte ich ein paar von ihnen umarmt. Aber ich selbst - ich bin keine Gestaltwandlerin welcher Art auch immer.«

»Schuldig wegen Verbrüderung«, sagte Sweetie. »Ich wette, du hattest schon mal was mit einem Gestaltwandler.«

»Und was ist mit dir?«, fragte ich, denn ich wollte verhindern, dass sie erneut auf mich schoss. Allem Anschein nach war Sweetie keine Scharfschützin: Sam, Calvin und ich hatten überlebt. Okay, bei Nacht zu treffen war sicher schwierig, aber trotzdem hätte sie die Sache eigentlich besser machen können. »Warum diese Vendetta?«

»Ich bin nur zu einem Bruchteil Gestaltwandlerin«, erwiderte sie und knurrte ganz genauso wie Dean. »Ich hatte einen Autounfall und wurde gebissen. Dieses ... Vieh ... halb Mann, halb Wolf... rannte aus dem Wald auf mich zu, als ich blutend dalag, und dieses verdammte Vieh hat mich gebissen ... und als ein anderes Auto hinter der Kurve auftauchte, ist es weggelaufen. Beim ersten Vollmond danach haben sich meine Hände verändert! Meine Eltern haben gekotzt.«

»Was ist mit deinem Freund? Hattest du einen?« Ich führte das Gespräch immer weiter, um sie abzulenken. Andy bewegte sich so weit wie möglich von mir weg, damit sie nicht uns beide schnell nacheinander erschießen konnte. Sie hatte vor, zuerst mich zu erschießen, das wusste ich. Ich wollte, dass der Bluthund von mir wegging, aber er presste sich treu ergeben an mein Bein. Sweetie war nicht sicher, ob der Hund ein Gestaltwandler war. Und seltsamerweise hatte sie den Schuss auf Sam nicht erwähnt.

»Damals war ich Stripperin und mit einem großartigen Typen zusammen.« Wut verzerrte ihre Stimme. »Meine Hände und all das Haar stießen ihn ab. Bei Vollmond suchte er immer das Weite. Er musste auf Geschäftsreise. Er musste mit seinen Freunden Golf spielen. Er war wegen einer späten Besprechung aufgehalten worden.«

»Seit wann schießt du denn schon auf Gestaltwandler?«

»Seit drei Jahren«, sagte Sweetie stolz. »Zweiundzwanzig habe ich getötet und einundvierzig verwundet.«

»Wie schrecklich«, gab ich zurück.

»Ich bin stolz darauf, die Welt von diesem Abschaum zu befreien.«

»Suchst du dir immer Arbeit in Bars?«

»So habe ich Gelegenheit, zu sehen, wer zu den Brüdern gehört.« Sie lächelte. »Kirchen und Restaurants überprüfe ich auch. Und Kindergärten.«

»Oh nein.« Ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen.

Meine Sinne waren hyperwach, wie ihr euch vorstellen könnt, daher wusste ich, dass irgendjemand hinter Sweetie die Gasse heraufkam. Ich spürte, wie Zorn die Gedanken eines zweigestaltigen Geschöpfs aufwühlte. Damit sich Sweetie so lange wie möglich auf mich konzentrierte, wagte ich nicht einmal hinzusehen. Doch dann war ein leises Geräusch zu hören, vielleicht von einem Stück Papier, das über den Erdboden fegte, und das reichte Sweetie schon. Sie wirbelte herum, das Gewehr im Anschlag, und schoss. Am südlichen Ende der Gasse ertönte in der Dunkelheit ein Schrei und dann ein Wimmern.

Andy nutzte diesen Augenblick und schoss auf Sweetie, während sie uns den Rücken zukehrte. Ich drückte mich gegen die unebene Mauer des alten Futter & Saatgut-Gebäudes, und als Sweetie das Gewehr fallen ließ, sah ich Blut aus ihrem Mund quellen, das im Licht der Sterne ganz schwarz wirkte. Dann ging sie zu Boden.

Während Andy mit der Pistole in der Hand noch über sie gebeugt dastand, lief ich an ihnen vorbei, um nachzusehen, wer uns zu Hilfe geeilt war. Ich schaltete meine Taschenlampe ein und sah einen schwer verletzten Werwolf. Sweeties Kugel hatte ihn mitten in die Brust getroffen, soweit ich das durch das dicke Fell erkennen konnte. »Du hast doch ein Handy! Ruf Hilfe!«, rief ich Andy zu. Ich presste meine Hand auf die stark blutende Wunde und hoffte, dass ich das Richtige tat. Zu meiner Bestürzung wanderte die Wunde ständig, denn der Werwolf war dabei, sich wieder in einen Menschen zu verwandeln. Als ich zurückblickte, sah ich Andy immer noch schreckensstarr wegen seiner Tat dastehen. »Beiß ihn«, sagte ich zu Dean, und Dean trottete zu dem Polizisten hinüber und zwickte ihn in die Hand.

Andy schrie auf und fuhr mit erhobener Pistole herum, als wolle er den Bluthund erschießen. »Nein!«, schrie ich und sprang neben dem sterbenden Werwolf auf. »Benutz dein Handy, du Idiot. Ruf einen Krankenwagen.«

Die Pistole fuhr herum und zielte auf mich.

Einen langen angespannten Moment war ich mir sicher, dass jetzt mein Leben zu Ende ging. Wir würden alle gern auslöschen, was wir nicht verstehen, was uns Angst macht, und ich machte Andy Bellefleur enorme Angst.

Doch dann sank die Pistole und baumelte wieder an Andys herabhängendem Arm. Er starrte mich an, und in seinem breiten Gesicht schien langsam, aber sicher Einsicht auf. Er tastete in seiner Tasche herum und zog sein Handy hervor. Und zum Glück steckte er die Pistole ins Holster zurück, nachdem er eine Nummer eingetippt hatte.

Ich kniete mich wieder neben den Werwolf, der inzwischen ganz Mensch und nackt war, während Andy sagte: »Eine Schießerei gegenüber vom Sonic in der Magnolia Street, in der kleinen Gasse hinter den alten Geschäften Futter & Saatgut und Patsys Reinigung. Richtig. Zwei Krankenwagen, zwei Personen mit Schussverletzung. Nein, mir geht's gut.«

Der verletzte Werwolf war Dawson. Seine Augen öffneten sich flackernd, und er versuchte Luft zu holen. Ich konnte mir die Schmerzen, die er litt, nicht mal vorstellen. »Calvin«, begann er.»Machen Sie sich keine Sorgen. Hilfe ist schon unterwegs«, beruhigte ich den kräftigen großen Mann. Meine Taschenlampe lag neben mir auf dem Boden, und in dem schräg fallenden Lichtstrahl erkannte ich seine enormen Muskeln und seine behaarte nackte Brust. Er schien zu frieren, was nicht verwunderlich war, und ich fragte mich, wo wohl seine Kleider waren. Ich wäre schon froh gewesen, wenn ich sein T-Shirt auf die Wunde hätte drücken können, die stetig weiter blutete. Meine Hände waren bereits völlig blutverschmiert.

»Sagte, ich soll an meinem letzten Tag auf Sie aufpassen«, sprach Dawson weiter. Er zitterte am ganzen Körper. »Kinderspiel, sagte ich.« Er versuchte zu lächeln. Und dann sagte er nichts mehr, er hatte das Bewusstsein verloren.

Andys schwere schwarze Schuhe kamen in mein Blickfeld. Dawson würde sicher sterben, dachte ich. Und ich kannte nicht mal seinen Vornamen. Keine Ahnung, wie wir diesen nackten Mann der Polizei erklären sollten. Aber Moment mal... war das überhaupt meine Sache? War hier nicht Andy derjenige, der einiges zu erklären hatte?

Als hätte er - zur Abwechslung - mal meine Gedanken gelesen, fragte Andy: »Du kennst den Typen, richtig?«

»Entfernt.«

»Egal, du wirst behaupten müssen, dass du ihn sehr viel besser kennst, um seine Nacktheit zu erklären.«

Ich schluckte schwer. »Okay«, sagte ich schließlich nach einer kurzen, erbitterten Pause.

»Ihr beide wart hier, weil ihr nach seinem Hund gesucht habt. Nach dem da.« Andy wandte sich an Dean. »Ich weiß nicht, wer du bist, aber du bleibst ein Hund, hast du mich verstanden?« Nervös trat er ein paar Schritte zurück. »Und ich bin hier, weil ich dieser Frau gefolgt bin - sie hat sich verdächtig verhalten.«

Ich nickte und hörte, wie Dawson rasselnd um Atem rang. Wenn ich ihm doch nur wie einem Vampir Blut geben könnte, um ihn zu heilen. Wenn ich doch nur ein Heilmittel kennen würde ... Doch da hörte ich schon die Polizeisirenen und die Krankenwagen näher kommen. Nichts in Bon Temps war allzu weit entfernt, und von dieser, der südlichen, Stadtseite aus war das Krankenhaus in Grainger das nächstgelegene.»Ich habe ihr Geständnis gehört«, sagte ich. »Ich habe gehört, wie sie zugegeben hat, auf die anderen geschossen zu haben.«

»Sag mir eins, Sookie«, fügte Andy hastig hinzu. »Ehe sie hier sind. An Halleigh ist doch nichts Seltsames, oder?«

Ich starrte ihn an, fassungslos, weil er in einem solchen Moment an so etwas denken konnte. »Nichts, abgesehen von der dämlichen Schreibweise ihres Namens.« Dann rief ich mir in Erinnerung, wer das da drüben liegende Miststück erschossen hatte. »Nein, gar nichts. Halleigh ist ganz einfach stinknormal.«

»Gott sei Dank«, sagte er. »Gott sei Dank.«

Und da rannte auch schon Alcee Beck die Gasse herunter und blieb vor uns stehen. Offensichtlich wurde er nicht so ganz schlau aus der Szenerie. Gleich hinter ihm kam Kevin Pryor, und seine Kollegin Kenya schlich die Mauer entlang und deckte beide mit der Waffe. Die Rettungssanitäter blieben zurück, bis sie sicher waren, dass keine Gefahr mehr drohte. Ich stand gegen die Wand gelehnt da und wurde durchsucht, noch ehe ich begriffen hatte, was eigentlich geschah. »Tut mir leid, Sookie« und »Das muss ich tun«, sagte Kenya immer wieder, bis ich entgegnete: »Sieh einfach zu, dass du fertig wirst. Wo ist mein Hund?«

»Weggelaufen«, sagte sie. »Die Lichter haben ihn wohl verschreckt. Ein Bluthund, hm? Der kommt wieder.« Als Kenya ihren Job so gründlich wie immer erledigt hatte, fragte sie: »Sookie, wieso ist dieser Typ nackt?«

Und das war erst der Anfang. Meine Geschichte war extrem dünn. In fast allen Gesichtern stand ungläubiges Staunen. Es war nicht gerade die richtige Temperatur für Freiluftsex, und ich war vollständig bekleidet. Doch Andy gab mir in allem Schützenhilfe, und es war keiner unter ihnen, der meine Geschichte offen angezweifelt hätte.

Nach zwei Stunden durfte ich wieder in meinen Wagen steigen und zurück in meine Doppelhaushälfte fahren. Zuerst rief ich im Krankenhaus an, um zu erfahren, wie es Dawson ging. Irgendwie bekam Calvin das Telefon zu fassen. »Er lebt«, sagte er kurz und bündig.

»Gott schütze Sie, dass Sie ihn losgeschickt haben, um auf mich aufzupassen«, entgegnete ich. »Ich wäre tot, wenn er nicht gewesen wäre.«

»Wie ich höre, hat der Polizist die Heckenschützin erschossen.«

»Ja, hat er.«

»Ich habe auch noch eine ganze Menge anderes gehört.«

»Eine ziemlich komplizierte Geschichte.«

»Wir sehen uns im Laufe der Woche.«

»Ja, natürlich.«

»Schlafen Sie sich zunächst einmal aus.«

»Noch mal vielen Dank, Calvin.«

Ich stand diesem Werpanther gegenüber mittlerweile so sehr in der Schuld, dass es mich ängstigte. Das musste ich irgendwie wieder gutmachen, aber später. Jetzt war ich müde und hatte Schmerzen. Ich empfand einen inneren Ekel über Sweeties schlimme Geschichte, und meine äußere Erscheinung ekelte mich, weil ich in der kleinen Gasse im Blut des verletzten Werwolfs herumgerutscht war. Ich ließ meine Kleider im Schlafzimmer auf den Boden fallen, ging ins Bad und stellte mich unter die Dusche, wobei ich mich bemühte, die verbundene Schulter mit einer Duschhaube trocken zu halten, so wie die Krankenschwester es mir gezeigt hatte.

Als es am nächsten Morgen gleich wieder an der Tür klingelte, verfluchte ich das Leben in der Stadt. Doch wie sich herausstellte, war es kein Nachbar, der sich eine Tasse Mehl borgen wollte. Alcide Herveaux stand vor dem Haus, mit einem Briefumschlag in der Hand.

Aus schlaftrunkenen Augen blickte ich ihn an. Wortlos trottete ich zurück in mein Schlafzimmer und kroch wieder ins Bett. Doch das reichte nicht, um Alcide zu vertreiben; er stiefelte hinter mir her.

»Jetzt bist du gleich in zweifacher Hinsicht eine Freundin des Rudels«, sagte er, völlig überzeugt davon, dass das momentan mein vordringlichster Gedanke war. Ich drehte ihm den Rücken zu und wickelte mich in die Bettdecke. »Dawson sagt, du hast ihm das Leben gerettet.«

»Wie schön, wenn es Dawson schon wieder so gut geht, dass er sprechen kann«, murmelte ich, schloss fest die Augen und wünschte, Alcide möge endlich gehen. »Da er meinetwegen angeschossen wurde, schuldet mir das Rudel gar nichts.«

Am Luftzug erkannte ich, dass sich Alcide an mein Bett gekniet hatte. »Diese Entscheidung liegt nicht bei dir, sondern bei uns«, erwiderte er tadelnd. »Du bist aufgefordert, zum Wettkampf der Leitwolfkandidaten zu erscheinen.«

»Was? Was muss ich da tun?«

»Du beobachtest nur den Wettkampf und gratulierst dem Sieger, egal um wen es sich handelt.«

Für Alcide war dieser Kampf um die Nachfolge natürlich das Wichtigste. Und es wollte einfach nicht in seinen Kopf, dass ich andere Prioritäten hatte. So langsam drohte mich die Welle all meiner Verpflichtungen den Supras gegenüber zu überrollen.

Das Werwolfrudel von Shreveport war der Ansicht, mir etwas schuldig zu sein. Ich war Calvin etwas schuldig. Andy Bellefleur war mir, Dawson und Sam etwas schuldig für die Lösung des Heckenschützen-Falls. Und ich war Andy etwas schuldig, weil er mir das Leben gerettet hatte, indem er Sweetie erschossen hatte. Allerdings hatte ich Andy ja bereits über Halleighs stinknormales Dasein aufgeklärt; vielleicht tilgte das schon mal meine Schuld ihm gegenüber.

Sweetie war ihrem eigentlichen Angreifer die Rache schuldig geblieben.

Eric und ich waren quitt, wie ich fand.

Ich stand noch ein wenig in Bills Schuld.

Sam und ich waren mehr oder weniger gleichauf.

Alcide war mir etwas schuldig, so wie ich das sah. Ich war zu diesem Rudel-Quatsch erschienen und hatte versucht, die Regeln zu befolgen, um ihm zu helfen.

In der Welt, in der ich lebte, in der Welt normaler Menschen, gab es Verpflichtungen, Schuld, Konsequenzen und gute Taten. Das war es, was Leute zu einer Gemeinschaft zusammenschmiedete; vielleicht war es sogar das, was eine Gemeinschaft ausmachte. Und ich versuchte, in meiner kleinen Nische so gut wie möglich zu leben.

Seit ich mit den geheimen Clans der zweigestaltigen Geschöpfe und der Untoten in Verbindung stand, war mein Leben in der Gesellschaft der Menschen sehr viel schwieriger und komplizierter geworden.

Und interessanter.

Und manchmal... unterhaltsamer.

Während ich meinen Gedanken nachhing, hatte Alcide weitergeredet, und ich hatte das meiste verpasst. Inzwischen war ihm das auch aufgefallen, und er sagte in angespanntem Ton: »Tut mir leid, wenn ich dich langweile, Sookie.«

Ich drehte mich herum, um ihn anzusehen. Kränkung stand in seinen grünen Augen. »Du langweilst mich nicht. Ich muss nur über eine Menge nachdenken. Lass die Einladung hier, okay? Ich melde mich bei dir deswegen.« Was zog man wohl zu einem Ereignis wie dem Wettkampf der Leitwolfkandidaten an, fragte ich mich. Ob Mr Herveaux senior und der irgendwie plumpe Motorradhändler sich tatsächlich raufend auf dem Boden wälzen würden?

Jetzt blickte mich Alcide aus seinen grünen Augen verwirrt an. »Du verhältst dich wirklich seltsam, Sookie. Früher habe ich mich so wohl gefühlt in deiner Umgebung. Jetzt kommt es mir vor, als würde ich dich gar nicht kennen.«

Präzise war eines der letzten Wörter meines Kalenders mit dem »Wort des Tages« gewesen. »Das ist eine präzise Beobachtung«, sagte ich und versuchte, so sachlich wie möglich zu klingen. »Ich habe mich auch sehr wohl gefühlt mit dir, als ich dich kennen lernte. Und dann habe ich alles Mögliche herausgefunden. Wie das über Debbie, das über die Werwolf-Politik und wie sehr sich einige zweigestaltige Geschöpfe den Vampiren andienen.«

»Keine Gemeinschaft ist perfekt«, verteidigte sich Alcide. »Und was Debbie betrifft, den Namen möchte ich nie wieder hören.«

»Okay.« Gott allein wusste, wie sehr mir selbst dieser Name zu den Ohren heraushing.

Alcide legte den cremefarbenen Briefumschlag auf den Nachttisch, ergriff meine Hand, beugte sich über sie und drückte einen Kuss auf den Handrücken.

Das war eine höchst zeremonielle Geste, und ich hätte zu gern gewusst, was sie eigentlich bedeutete. Doch als ich ihn fragen wollte, war Alcide bereits gegangen.

»Schließ die Tür hinter dir ab«, rief ich. »Dreh einfach den kleinen Knopf am Türknauf.« Wahrscheinlich tat er das auch, denn ich schlief sofort wieder ein, und niemand weckte mich, bis es Zeit war, zur Arbeit zu gehen. Allerdings fand ich eine Nachricht an der Haustür vor: »Linda T. übernimmt deine Schicht. Mach heute Abend frei. Sam« Also ging ich wieder hinein, zog meine Kellnerinnenkluft aus und eine Jeans an. Ich war darauf eingestellt gewesen zu arbeiten, und nun fühlte ich mich seltsam überflüssig.

Ich jubelte fast, als mir einfiel, dass ich ja noch eine andere Verpflichtung hatte, und ging schnurstracks in die Küche, um sie einzulösen.

Nachdem ich anderthalb Stunden in einer fremden Küche und mit nur etwa halb so vielen Utensilien wie gewöhnlich mit der Kocherei gekämpft hatte, machte ich mich auf den Weg zu Calvin nach Hotshot mit einem Gericht aus gebackener Hühnerbrust auf Reis in Sauerrahmsauce und ein paar Brötchen. Ich rief vorher nicht an, denn ich hatte vor, einfach das Essen vorbeizubringen und wieder zu gehen. Doch als ich in dem kleinen Dorf ankam, sah ich in der Straße vor Calvins gepflegtem kleinem Haus mehrere Wagen parken.

»Mist«, murmelte ich, denn ich hatte keine Lust, mich noch weiter auf die Hotshot-Gemeinde einzulassen als bisher. Die neue Wesensart meines Bruders und Calvins Werben um mich hatten mich schon viel zu weit hineingezogen.

Ein wenig genervt parkte ich den Wagen und schob meinen Arm unter den Tragegriff des Korbs voller Brötchen. Ich nahm den Topf mit dem heißen Gericht aus Hühnchen und Reis in meine Hände, biss die Zähne zusammen wegen der Schmerzen in meiner Schulter und bugsierte alles vor Calvins Haustür. Eine Stackhouse kneift nicht.

Crystal öffnete mir. Die Überraschung und Freude auf ihrem Gesicht beschämten mich. »Das ist ja toll, dass du kommst«, sagte sie und bemühte sich, ganz lässig zu klingen. »Komm doch rein.« Sie trat einen Schritt zurück, und jetzt sah ich, dass das kleine Wohnzimmer voller Leute war, darunter auch mein Bruder. Die meisten von ihnen waren natürlich Werpanther. Aber auch die Werwölfe von Shreveport hatten einen Vertreter geschickt; ich staunte nicht schlecht, als ich sah, dass es Patrick Furnan war, Streiter um den Thron und Harley-Davidson-Händler.

Crystal stellte mich der Frau vor, die die Rolle der Gastgeberin übernommen hatte, Maryelizabeth Norris. Maryelizabeth bewegte sich, als hätte sie keinen einzigen Knochen im Leib. Ich hätte schwören können, dass Maryelizabeth Hotshot nicht allzu oft verließ. Auch alle anderen Anwesenden stellte mir die junge Gestaltwandlerin ausführlich vor, damit ich verstand, in welcher Beziehung die einzelnen Gäste zu Calvin standen. Ich verlor ziemlich rasch den Überblick, doch wie ich sah, ließen sich die Einwohner von Hotshot (abgesehen von wenigen Ausnahmen) in zwei Gruppen einteilen: der kleine flinke, dunkelhaarige Typus wie Crystal und der hellhaarige untersetzte Typus mit schönen braunen oder goldgrünen Augen wie Calvin. Die meisten Nachnamen lauteten Norris oder Hart.

Patrick Furnan stellte mir Crystal zuletzt vor. »Aber nicht doch, wir kennen uns schon«, sagte er herzlich und strahlte mich an, als hätten wir bereits auf einer Hochzeit miteinander getanzt. »Das ist doch Alcides Freundin«, fügte er so laut hinzu, dass auch jeder im Raum ihn verstand. »Alcide ist der Sohn des anderen Leitwolfkandidaten.«

Ein langes Schweigen trat ein, das ich ganz klar als »lastend« charakterisieren würde.

»Da irren Sie sich«, entgegnete ich schließlich in normalem Gesprächston. »Alcide und ich sind nur gut miteinander befreundet.« Ich lächelte ihn auf eine Weise an, die ihn wissen ließ, dass er mir in nächster Zeit besser nicht in einer einsamen Gasse über den Weg lief.

»Oh, Pardon«, gab er aalglatt zurück.

Calvins Entlassung aus dem Krankenhaus wurde wie die Heimkehr eines Helden gefeiert. Luftballons, Papierfähnchen, Blumen und Pflanzen schmückten das perfekt aufgeräumte Haus. In der Küche war ein bereits eröffnetes Büffet aufgebaut. Jetzt trat Maryelizabeth einen Schritt vor, wandte Patrick Furnan den Rücken zu, um ihn mundtot zu machen, und sagte: »Kommen Sie, meine Liebe. Calvin wartet schon auf Sie.« Hätte sie eine Trompete zur Hand gehabt, hätte sie mit Sicherheit eine Fanfare gespielt. Maryelizabeth war keine sonderlich raffinierte Frau, auch wenn in ihren großen goldenen Augen der trügerische Schein des Geheimnisvollen lag.

Nur barfuß über rotglühende Kohlen zu gehen wäre wohl noch unangenehmer gewesen.

Maryelizabeth schob mich in Calvins Schlafzimmer. Es hatte schöne Möbel, schnörkellos und mit klaren Linien. Sie wirkten skandinavisch, obwohl ich mich mit Möbeln überhaupt nicht auskannte - oder mit Stil im Allgemeinen. Calvin saß aufrecht in einem großen breiten Bett, dessen Bezüge ein afrikanisches Motiv jagender Leoparden zierte (irgendeiner hier musste also doch Hintersinn besitzen). Gegen die dunklen Farben der Bettwäsche und gegen das Orange des Bettüberwurfs wirkte Calvin blass. Er trug einen braunen Pyjama und sah genauso aus wie ein Mann, der gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Aber er freute sich, mich zu sehen. Unwillkürlich dachte ich, dass irgendetwas leicht Trauriges um Calvin Norris war, etwas, was mich gegen meinen Willen berührte.

»Setzen Sie sich.« Er zeigte auf das Bett und rückte ein Stück zur Seite, damit ich an der Kante Platz hatte. Er hatte wohl auch irgendein Zeichen gegeben, denn der Mann und die Frau, die im Zimmer gewesen waren - Dixie und Dixon -, verschwanden wortlos durch die Tür und schlossen sie hinter sich.

Etwas unbehaglich rutschte ich auf der Bettkante herum. Er hatte einen dieser großen Nachttische, die es oft in Krankenhäusern gibt und deren Platte über das Bett gerollt werden kann. Auf einem Tablett standen ein Glas Eistee und ein Teller, von dem Dampf aufstieg. Ich machte eine Geste, dass er doch beginnen solle. Er neigte den Kopf und sprach ein stummes Gebet, bei dem ich still daneben saß. Ich fragte mich, an wen er seine Gebete wohl richtete.

»Erzählen Sie es mir«, sagte Calvin, als er die Serviette entfaltete, und schon fühlte ich mich längst nicht mehr so unbehaglich. Er aß, während ich ihm erzählte, was in der kleinen Gasse geschehen war. Ich bemerkte, dass das Essen mein Hühnchen-Reis-Gericht war, und daneben lagen zwei meiner Brötchen. Ich sollte sehen, dass er das von mir gekochte Gericht auch wirklich selbst aß. Das berührte mich, was allerdings eine Warnglocke in meinem Hinterkopf schrillen ließ.

»Ohne Dawson könnte ich Ihnen jetzt also nicht mehr erzählen, was geschehen ist«, beendete ich meinen Bericht. »Vielen Dank, dass Sie ihn losgeschickt haben. Wie geht es ihm?«

»Er schwebt noch immer in Lebensgefahr und wurde mit dem Hubschrauber von Grainger nach Baton Rouge verlegt«, sagte Calvin. »Wäre er kein Werwolf, wäre er sicher längst tot. Er hat es jetzt so weit geschafft, ich denke, er überlebt es.«

Ich fühlte mich entsetzlich.

»Machen Sie sich keine Vorwürfe deswegen«, fuhr Calvin fort. Seine Stimme klang plötzlich viel tiefer. »Es war Dawsons Entscheidung.«

Ein »Hm?« hätte zu unhöflich geklungen, also fragte ich: »Wie das?«

»Es war seine Entscheidung, den Job zu übernehmen. Es war seine Entscheidung, zu handeln. Er hätte sich vielleicht ein paar Sekunden früher auf sie stürzen sollen. Warum hat er abgewartet? Ich weiß es nicht. Woher wusste sie bei der Dunkelheit, dass sie tief zielen muss? Ich weiß es nicht. Entscheidungen ziehen Konsequenzen nach sich.« Calvin suchte nach den richtigen Worten für etwas. Er war von Natur aus kein redegewandter Mann, und jetzt versuchte er, einem zugleich wichtigen und abstrakten Gedanken Ausdruck zu geben. »Niemand hat Schuld«, sagte er schließlich.

»Es wäre schön, wenn ich das glauben könnte, und ich hoffe, eines Tages wirklich davon überzeugt zu sein. Vielleicht bin ich sogar schon auf dem Weg dorthin.« Es stimmte, ich hatte all die Selbstbezichtigungen und Grübeleien so satt.

»Ich nehme an, die Werwölfe werden Sie zu ihrer kleinen Leitwolf-Party einladen«, sagte Calvin und nahm meine Hand. Seine Hand war warm und trocken.

Ich nickte.

»Ich wette, Sie gehen hin.«

»Das muss ich wohl«, erwiderte ich unbehaglich und fragte mich, worauf er hinaus wollte.

»Ich werde Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen. Ich habe keine Macht über Sie.« Er klang nicht gerade erfreut darüber. »Aber wenn Sie dorthin gehen, passen Sie auf sich auf. Nicht um meinetwillen, das bedeutet Ihnen nichts. Aber um Ihrer selbst willen.«

»Das kann ich Ihnen versprechen«, sagte ich nach einer wohlüberlegten Pause. Calvin war die Sorte Mann, bei dem keiner mit der erstbesten Idee herauszuplatzen wagte. Er war ein ernsthafter Mann.

Calvin lächelte, was nur höchst selten geschah. »Sie sind eine ausgezeichnete Köchin.« Ich erwiderte sein Lächeln.

»Danke, Sir«, sagte ich und stand auf. Seine Hand schloss sich fester um meine und zog daran. Keiner widersetzt sich einem Mann, der eben aus dem Krankenhaus gekommen ist, und so beugte ich mich herab und hielt meine Wange an seinen Mund.

»Nein«, sagte er, und als ich den Kopf ein wenig drehte, um zu erfahren, was er meinte, küsste er mich auf den Mund.

Offen gestanden hatte ich erwartet, gar nichts zu empfinden. Doch seine Lippen waren ebenso warm und trocken wie seine Hände, und er roch nach meinem Essen, vertraut und heimisch. Es war sehr überraschend, und überraschend angenehm, Calvin Norris so nahe zu sein. Ich wich etwas zurück, und mein Gesicht ließ sicher meinen leichten Schreck erkennen. Der Werpanther lächelte und ließ meine Hand los.

»Das Gute an meinem Krankenhausaufenthalt war, dass Sie mich besuchen gekommen sind«, sagte er. »Werden Sie nicht zu einer Fremden, jetzt da ich wieder zu Hause bin.«

»Natürlich nicht«, entgegnete ich und eilte aus dem Zimmer, um meine Fassung wiederzugewinnen.

Die meisten Gäste waren bereits gegangen und das Wohnzimmer hatte sich geleert, während ich mit Calvin gesprochen hatte. Crystal und Jason waren verschwunden, und Maryelizabeth räumte Teller zusammen; dabei wurde sie unterstützt von einer heranwachsenden Werpantherin.

»Das ist Terry«, sagte Maryelizabeth mit einem Kopfnicken in Richtung der Jugendlichen. »Meine Tochter. Wir wohnen nebenan.«

Ich nickte dem Mädchen zu, das mir einen stechenden Blick zuwarf, ehe es sich wieder an die Arbeit machte. Ein Fan von mir war sie jedenfalls nicht. Sie gehörte zu dem hellhaarigen Typus, wie Maryelizabeth und Calvin, und sie war ein Quergeist. »Wollen Sie etwa meinen Dad heiraten?«, fragte sie mich.

»Ich will überhaupt niemanden heiraten«, antwortete ich vorsichtig. »Wer ist denn dein Dad?«

Maryelizabeth warf Terry einen Blick von der Seite zu, der ihr versprach, dass ihr das später noch leid tun würde. »Terry ist Calvins Tochter«, sagte sie.

Ein, zwei Sekunden lang war ich verwirrt, doch plötzlich ergab alles einen Sinn: das Aussehen der jüngeren und der älteren Frau, ihre Aufgaben, die behagliche Atmosphäre in diesem Haus.

Ich sagte kein Wort. Doch meine Miene muss etwas ausgesagt haben, denn Maryelizabeth wirkte erschrocken und dann wütend.

»Erdreisten Sie sich nicht, darüber zu urteilen, wie wir leben«, riet sie mir. »Wir sind nicht wie Sie.«

»Das stimmt«, erwiderte ich, schluckte meinen Abscheu hinunter und zwang mich zu einem Lächeln. »Danke, dass Sie mich allen vorgestellt haben. Das hat mich sehr gefreut. Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein?«

»Wir kommen schon klar«, meinte Terry und warf mir noch einen Blick zu, in dem eine seltsame Mischung aus Respekt und Feindschaft lag.

»Hätten wir dich bloß nie zur Schule geschickt«, schimpfte Maryelizabeth. In ihren großen goldenen Augen lag Liebe und Bedauern zugleich.

»Auf Wiedersehen«, sagte ich und verließ eilig das Haus, nachdem ich meinen Mantel angezogen hatte. Bestürzt sah ich, dass Patrick Furnan neben meinem Wagen auf mich wartete. Er hielt einen Motorradhelm unter dem Arm, und ich entdeckte die Harley ein Stück weiter die Straße hinunter.

»Interessiert Sie, was ich zu sagen habe?«, fragte der bärtige Werwolf.

»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte ich.

»Er wird Ihnen auf Dauer nicht für nichts und wieder nichts helfen«, erklärte Furnan, und ich drehte meinen Kopf, um diesen Mann ansehen zu können.

»Wovon reden Sie?«

»Ein Dankeschön und ein Kuss reichen nicht weit. Früher oder später will er, dass Sie die Rechnung begleichen. Und dagegen werden Sie sich nicht wehren können.«

»Ich erinnere mich nicht, Sie um Rat gebeten zu haben«, sagte ich, und er trat auf mich zu. »Und kommen Sie mir nicht zu nahe.« Ich ließ meinen Blick über die umliegenden Häuser schweifen. Die wachsamen Augen der Hotshot-Gemeinde ruhten auf uns; ich konnte sie wie eine Last spüren.

»Früher oder später«, wiederholte Furnan und grinste mich plötzlich an. »Ich hoffe, früher. Einen Werwolf können Sie nicht betrügen, wissen Sie. Oder einen Panther. Sie werden Sie in Stücke reißen.«

»Ich betrüge niemanden«, entgegnete ich, fast bis an meine Schmerzgrenze frustriert, weil er immer noch darauf beharrte, dass er mein Liebesleben besser kannte als ich selbst. »Ich bin mit keinem der beiden zusammen.«

»Dann genießen Sie keinen Schutz«, sagte er triumphierend.

Hier konnte ich einfach nicht gewinnen.

»Fahren Sie zur Hölle.« Völlig entnervt stieg ich in meinen Wagen, tat so, als wäre der Werwolf gar nicht da (dieses Konzept des Sichlossagens hatte doch etwas für sich), und fuhr davon. Im Rückspiegel sah ich noch, wie Patrick Furnan seinen Helm aufsetzte und meinem Wagen nachblickte.

Bis jetzt hatte ich mich überhaupt nicht dafür interessiert, wer diesen Wettkampf der Provinzgockel zwischen Jackson Herveaux und Patrick Furnan gewinnen würde. Jetzt tat ich es.