Kapitel 4

Die Fahrt zurück nach Bon Temps war angenehm. Vampire riechen nicht wie Menschen und verhalten sich auch nicht wie sie, wirken aber sehr beruhigend auf meine Gedanken. Mit einem Vampir zusammen zu sein ist für mich fast genauso entspannend wie allein zu sein, abgesehen davon natürlich, dass einem das Blut ausgesaugt werden könnte.

Charles Twining stellte ein paar Fragen über die Arbeit, für die er eingestellt wurde, und über die Bar. Mein Fahrstil schien ihn ein wenig zu verunsichern - obwohl seine Unsicherheit auch einfach daher rühren konnte, dass er in einem Auto saß. Einige Vampire aus der vorindustriellen Zeit können die modernen Verkehrsmittel nicht ausstehen. Seine Augenklappe trug er über dem linken Auge, auf der mir zugewandten Seite, was mir das eigenartige Gefühl gab, unsichtbar zu sein.

Ich hatte ihn bei dem Vampir-Wohnheim vorbeigefahren, wo er wohnte, damit er ein paar Sachen mitnehmen konnte. Er hatte eine Sporttasche bei sich, die groß genug war, um Kleider für etwa drei Tage zu enthalten. Erst kürzlich war er nach Shreveport gezogen, erzählte er mir, und hatte noch keine Zeit gehabt, sich zu überlegen, wo er auf Dauer wohnen wollte.

Nachdem wir ungefähr vierzig Minuten unterwegs waren, sagte der Vampir plötzlich: »Und du, Sookie? Wohnst du noch bei deinen Eltern?«

»Nein, sie sind gestorben, als ich sieben war«, sagte ich. Im Augenwinkel nahm ich eine Handbewegung wahr, die ich als Aufforderung deutete weiterzusprechen. »In jenem Frühling hatte es eines Nachts innerhalb sehr kurzer Zeit unheimlich stark geregnet, und mein Dad versuchte, eine Brücke zu überqueren, die bereits überflutet war. Sie wurden weggeschwemmt.«

Ich spähte auf meine rechte Seite hinüber und sah, dass er nickte. Die Menschen starben, manchmal sehr plötzlich und unerwartet, und manchmal ganz grundlos. Ein Vampir wusste das besser als sonst jemand. »Mein Bruder und ich sind bei meiner Großmutter aufgewachsen«, fuhr ich fort. »Sie ist letztes Jahr gestorben. Mein Bruder hat das alte Haus meiner Eltern und ich das Haus meiner Großmutter.«

»Was für ein Glück, einen Ort zum Leben zu haben.«

Im Profil wirkte seine gebogene Nase wie eine elegante Miniatur. Ob es ihm wohl etwas ausmachte, dass die Menschen im Lauf der Jahrhunderte immer größer wurden, während er stets derselbe blieb, fragte ich mich.

»Oh ja. Ich habe sehr viel Glück. Ich habe einen Job, ich habe meinen Bruder, ich habe ein Haus, ich habe Freunde. Und ich bin gesund.«

Er drehte sich herum, um mir direkt ins Gesicht zu sehen, glaube ich, aber ich überholte gerade einen verbeulten Ford Pick-up und konnte seinen Blick nicht erwidern. »Interessant. Entschuldige, aber durch Pam hatte ich den Eindruck gewonnen, dass du irgendeine Art Behinderung hast.«

»Oh, nun, tja.«

»Und das wäre...? Du siehst sehr, äh, robust aus.«

»Ich bin telepathisch veranlagt.«

Darüber grübelte er kurz. »Und was bedeutet das?«

»Ich kann die Gedanken anderer Menschen lesen.«

»Aber die von Vampiren nicht.«

»Nein, die von Vampiren nicht.«

»Sehr gut.«

»Ja, finde ich auch.« Wenn ich die Gedanken von Vampiren lesen könnte, wäre ich schon sehr lange tot. Vampire schätzen ihre Privatsphäre.

»Hast du Chow gekannt?«, fragte er.

»Ja.« Jetzt war ich kurz angebunden.

»Und Long Shadow?«

»Ja.«

»Als der neueste Barkeeper des Fangtasia interessiere ich mich natürlich sehr für ihren Tod.«

Verständlich, aber ich hatte keine Ahnung, was ich darauf erwidern sollte. »Okay«, sagte ich vorsichtig.

»Warst du dabei, als Chow noch einmal starb?« Auf diese Weise sprachen einige Vampire vom endgültigen Tod.

»Ahm... ja.«

»Und bei Long Shadow?«

»Nun... ja.«

»Mich würde interessieren, was du dazu zu sagen hast.«

»Chow starb im sogenannten Hexenkrieg. Long Shadow hatte versucht, mich zu töten, ehe Eric ihn pfählte, weil er Geld unterschlagen hatte.«

»Bist du sicher, dass Eric ihn deshalb pfählte? Wegen Unterschlagung?«

»Ich war dort. Ich muss es wissen. Thema beendet.«

»Dein Leben ist wohl ziemlich kompliziert, nehme ich an«, sagte Charles nach einer Weile.

»Ja.«

»Wo werde ich die Stunden des Tageslichts verbringen?«

»Mein Boss hat eine Unterkunft für dich.«

»In dieser Bar gibt's eine Menge Schwierigkeiten, nicht?«

»Erst seit kurzem.« Ich zögerte.

»Wird euer Rausschmeißer mit den Gestaltwandlern nicht fertig?«

»Unser Rausschmeißer ist der Besitzer, Sam Merlotte. Und selbst ein Gestaltwandler. Im Moment allerdings ein Gestaltwandler mit verletztem Bein. Es wurde auf ihn geschossen. Und er ist nicht der Einzige.«

Das schien den Vampir nicht zu erstaunen. »Wie viele?«

»Drei, von denen ich weiß. Ein Werpanther namens Calvin Norris, der es überlebt hat, und eine Gestaltwandlerin namens Heather Kinman, die tot ist. Sie wurde bei Sonic erschossen. Weißt du, was Sonic ist?« Vampire beachteten Fastfood-Restaurants meist gar nicht, weil sie nichts aßen. (Hey, wie viele Blutbanken könnt ihr denn auf Anhieb nennen?)

Charles nickte, sein lockiges, kastanienbraunes Haar wippte auf den Schultern. »Dort essen die Leute in ihren Autos, oder?«

»Ja, stimmt«, sagte ich. »Heather hat bei einer Freundin im Auto gesessen und sich mit ihr unterhalten. Dann ist sie ausgestiegen, um zu ihrem eigenen Auto ein paar Parkplätze weiter zu gehen. Der Schuss kam von der anderen Straßenseite. Sie hatte einen Milchshake in der Hand.« Das geschmolzene Schokoladeneis hatte sich auf dem Pflaster mit ihrem Blut vermischt. Ich hatte es in Andy Bellefleurs Gedanken gesehen. »Es war spätabends, und alle Geschäfte auf der anderen Straßenseite hatten schon seit Stunden geschlossen. So konnte der Schütze entkommen.«

»Ist es jedes Mal nachts passiert?«

»Ja.«

»Ob das wohl etwas zu bedeuten hat?«

»Könnte sein. Aber vielleicht ist es nachts auch bloß einfacher, sich zu verbergen.«

Charles nickte.

»Seit Sam angeschossen wurde, macht sich unter den Gestaltwandlern Angst breit. Es ist kaum anzunehmen, dass es sich um drei Zufälle handelt. Und normale Menschen machen sich Sorgen, weil ihrer Ansicht nach wahllos drei Leute angeschossen wurden, die nichts miteinander gemein haben und auch keine Feinde. Und da jeder angespannt ist, gibt's mehr Streitereien in der Bar.«

»Rausschmeißer war ich vorher noch nie«, sagte Charles im Plauderton. »Ich war der jüngste Sohn eines unbedeutenden Baronets, musste daher meinen eigenen Weg gehen und habe viele verschiedene Dinge getan. Als Barkeeper habe ich schon mal gearbeitet, und vor sehr vielen Jahren war ich mal Lockvogel in einem Bordell. Da stand ich draußen, verbreitete Freude über die Freudenmädchen - ist das nicht nett ausgedrückt? - und warf Männer hinaus, die zu grob zu den Huren waren. Das war wohl so etwas Ähnliches wie ein Rausschmeißer, nehme ich an.«

Ich war sprachlos über diese unerwartete Vertraulichkeit.

»Das war natürlich, nachdem ich mein Auge verloren hatte, aber ehe ich Vampir wurde.«

»Natürlich«, echote ich schwach.

»Während ich Pirat war«, fügte der Vampir lächelnd hinzu. Ich hatte ihn kurz von der Seite angesehen.

»Was hast du, äh, piratet?« Gab es das Verb überhaupt? Ich wusste es nicht. Aber er hatte mich richtig verstanden.

»Oh, wir haben fast jedem eine Überraschung zu bieten versucht«, sagte er unbekümmert. »Die amerikanische Küste rauf und runter bis nach New Orleans, wo wir kleine Handelsschiffe und so was aufgebracht haben. Ich bin auf einem kleinen Küstensegler gefahren, wir konnten also kein zu großes oder zu gut gesichertes Schiff kapern. Doch wenn wir auf eine Bark trafen, kam's zum Kampf!« Er seufzte - in Erinnerung an das Glück, andere Leute mit dem Schwert niederzumachen, schätze ich.

»Und was ist dir passiert?«, fragte ich höflich und meinte, warum hatte er sein wundervolles heißblütiges Leben voller Raublust und Mordgier gegen die Vampir-Ausgabe desselben eingetauscht.

»Eines Abends kaperten wir eine Galeone, auf der keine lebende Seele anzutreffen war«, sagte er. Ich bemerkte, dass seine Hände sich zu Fäusten geballt hatten und seine Stimme eisig geworden war. »Wir waren zu den Tortugas gesegelt. Es war Abenddämmerung. Ich war der Erste, der in den Frachtraum hinabstieg. Das, was im Frachtraum war, erwischte mich zuerst.«

Nach dieser kleinen Geschichte schwiegen wir beide in gegenseitigem Einvernehmen.

Sam saß im Wohnzimmer seines Wohnwagens auf dem Sofa. Der große Wohnwagen war im rechten Winkel zur Rückfront der Bar fest verankert worden. So bot wenigstens die Vordertür, wenn Sam sie öffnete, eine Aussicht auf den Parkplatz, was immer noch besser war, als auf die Rückfront der Bar mit den riesigen Müllcontainern zwischen Küchentür und Angestellteneingang zu starren.

»Na, da seid ihr ja«, sagte Sam brummig. Er hatte noch nie gut stillsitzen können. Jetzt, da sein Bein eingegipst war, machte er sich Sorgen wegen seiner Unbeweglichkeit. Was würde er beim nächsten Vollmond tun? Wäre das Bein bereits gut genug verheilt, so dass er sich verwandeln konnte? Und wenn er sich verwandelte, was würde mit dem Gips passieren? Ich hatte vorher schon andere verletzte Gestaltwandler gesehen, war aber nie während ihrer Genesung um sie gewesen. Das war also Neuland für mich. »Ich hatte schon geglaubt, ihr seid unterwegs verloren gegangen.« Sams Stimme rief mich ins Hier und Jetzt zurück. Sie klang eindeutig verärgert.

»>Mensch, Sookie, danke. Du hast einen Rausschmeißer mitgebracht«, sagte ich. »Und es tut mir sehr leid, dass ich dir diese demütigende Bitte an Eric, mir einen Gefallen zu tun, nicht ersparen konnte.« In diesem Augenblick war es mir ganz egal, ob er mein Boss war oder nicht.

Sam sah verlegen aus. »Eric hat also zugestimmt«, sagte er und nickte dem Piraten zu.

»Charles Twining, zu Diensten.«

Sam blickte ihn erstaunt an. »Okay. Ich bin Sam Merlotte, der Besitzer der Bar. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie hier herauskommen, um uns zu helfen.«

»Es wurde mir befohlen«, sagte der Vampir gelassen.

»Der Handel lautet also Unterkunft, Verpflegung und einen Gefallen«, sagte Sam zu mir. »Ich schulde Eric einen Gefallen.« Das hatte er in einem Ton ausgesprochen, den eine wohlmeinende Person als widerwillig bezeichnet hätte.

»Ja.« Mittlerweile war ich stinksauer. »Du hast mich doch losgeschickt, um einen Handel zu machen. Ich habe die Bedingungen mit dir besprochen! Das ist der Handel, den ich gemacht habe. Du hast Eric um einen Gefallen gebeten, jetzt kann er im Gegenzug einen Gefallen von dir erwarten. Ganz egal, wie du dir die Sache hindrehst, darauf läuft es hinaus.«

Sam nickte, auch wenn er nicht glücklich wirkte. »Außerdem habe ich meine Meinung geändert. Ich finde, unser Mr Twining hier sollte bei dir wohnen.«

»Und warum findest du das?«

»Die Abstellkammer ist ein bisschen zu vollgestopft. Du hast doch einen lichtundurchlässigen Platz für Vampire, stimmt's?«

»Du hast nicht gefragt, ob mir das recht ist.«

»Lehnst du ab, es zu tun?«

»Ja! Ich unterhalte doch kein Vampir-Hotel!«

»Aber du arbeitest für mich, und er arbeitet für mich...«

»Nichts da. Würdest du etwa auch Arlene oder Holly bitten, ihn aufzunehmen?«

Sam wirkte fast noch erstaunter. »Nun, nein, aber das liegt daran, dass -« Er hielt inne.

»Na, fällt dir nichts mehr ein, um den Satz zu beenden?«, fragte ich bissig. »Okay, mein Freund, ich bin jetzt weg. Ich habe einen ganzen Abend damit verbracht, deinetwegen eine demütigende Situation zu ertragen. Und was kriege ich? Nicht mal ein verdammtes Danke!«

Wütend stampfte ich aus dem Wohnwagen. Ich knallte die Tür nicht zu, weil ich nicht kindisch wirken wollte. Erwachsene knallen einfach nicht mit Türen. Und sie jammern auch nicht. Okay, sie stampfen vielleicht auch nicht wütend in der Gegend herum. Aber ich hatte nur die Wahl gehabt zwischen einem Abgang nach einer energischen Äußerung und einer

Ohrfeige für Sam. Eigentlich war Sam mir einer der liebsten Menschen auf der Welt, aber heute Abend ... nicht.

An den kommenden drei Tagen sollte ich Frühschicht machen - so ganz sicher, ob ich überhaupt noch einen Job hatte, war ich allerdings nicht. Als ich am nächsten Morgen um elf zum Merlotte's kam und in meinem hässlichen, aber praktischen Wettercape durch den strömenden Regen zum Angestellteneingang flitzte, war ich schon ziemlich überzeugt, dass Sam mir meinen letzten Gehaltsscheck aushändigen und mich rausschmeißen würde. Aber er war gar nicht da. Einen Moment lang empfand ich etwas, das sich nur als Enttäuschung bezeichnen lässt. Wahrscheinlich hatte ich einfach erneut Streit gesucht, ziemlich merkwürdig das Ganze.

Für Sam war wieder Terry Bellefleur da, und Terry hatte einen schlechten Tag. Es war keine gute Idee, ihm Fragen zu stellen oder mit ihm über das absolut Notwendige der Bestellungen hinaus reden zu wollen.

Terry hasste Regenwetter geradezu, das wusste ich, und er mochte auch Sheriff Bud Dearborn nicht. Ich kannte weder die Gründe für die eine noch für die andere Abneigung. Und heute schlugen graue Regenschleier gegen Wände und Dächer, und drüben auf der Raucherseite redete Bud Dearborn in belehrendem Tonfall auf fünf seiner Kumpel ein. Arlene fing meinen Blick auf und weitete die Augen, um mich zu warnen.

Obwohl Terry blass war und schwitzte, zog er den Reißverschluss seiner hellen Jacke hoch, die er oft über dem Merlotte's-Shirt trug. Ich bemerkte, dass seine Hände beim Bierzapfen zitterten, und fragte mich, ob er wohl bis zum Abend durchhalten würde.

Wenigstens waren nur wenige Gäste da, falls doch etwas schief gehen sollte. Arlene begrüßte ein Ehepaar, das gerade hereinkam, Freunde von ihr. Der Bereich, in dem ich bediente, war fast leer, abgesehen von meinem Bruder Jason und seinem Freund Hoyt.

Hoyt war Jasons Gefährte. Wenn sie nicht beide ausgesprochen heterosexuell gewesen wären, hätte ich sofort vorgeschlagen, dass sie heiraten sollten. Sie ergänzten sich einfach so gut. Hoyt liebte Witze, und Jason erzählte zu gern welche. Hoyt wusste absolut nicht, wie er seine Freizeit totschlagen sollte, und Jason hatte immer irgendeine Idee. Hoyts Mutter war ein bisschen überschwänglich, und Jason war Waise. Hoyt stand mit beiden Beinen fest im Hier und Jetzt und hatte ein untrügliches Gespür dafür, was die Gesellschaft tolerieren würde und was nicht. Das Gespür fehlte Jason.

Ich dachte an das große Geheimnis, das Jason nun hatte, und fragte mich, ob er versucht war, es mit Hoyt zu teilen.

»Wie geht's, Schwesterherz?«, fragte Jason. Er hob sein Glas, weil er noch ein Dr Pepper wollte. Jason trank erst Alkohol, wenn sein Arbeitstag beendet war. Ein großer Pluspunkt.

»Gut, Brüderchen. Möchtest du auch noch was, Hoyt?«

»Ja, bitte, Sookie. Eistee«, sagte Hoyt.

Kurz darauf kam ich mit ihren Getränken zurück. Terry blickte mich zornig an, als ich hinter den Bartresen ging, sagte aber kein Wort. So einen Blick kann ich gut ignorieren.

»Sook, willst du heute Nachmittag nach der Arbeit mit mir ins Krankenhaus nach Grainger fahren?«, fragte Jason.

»Oh, ja, klar«, erwiderte ich. Calvin war immer freundlich zu mir gewesen.

»Ganz schön verrückt«, sagte Hoyt, »diese Schüsse auf Sam, Calvin und Heather. Was denkst du darüber, Sookie?« Hoyt ist überzeugt, dass ich so eine Art Orakel bin.

»Hoyt, du weißt genauso viel darüber wie ich. Wir sollten wohl alle vorsichtig sein.« Ich hoffte, dass die Bedeutung dieser Worte nicht spurlos an meinem Bruder vorbeiging. Er zuckte die Achseln.

Als ich aufblickte, sah ich einen Fremden, dem noch niemand einen Platz angewiesen hatte, und eilte auf ihn zu. Sein dunkles Haar, das vom Regen ganz schwarz war, hatte er zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Sein Gesicht zierte eine lange, dünne, weiße Narbe, die über seine eine Wange lief. Als er die Jacke auszog, sah ich, dass er offensichtlich Bodybuilding betrieb.

»Raucher oder Nichtraucher?«, fragte ich. Die Menükarte hielt ich bereits in der Hand.

»Nichtraucher«, sagte er und folgte mir zu einem Tisch. Sorgfältig hängte er seine nasse Jacke über die Rückenlehne eines Stuhls und griff, nachdem er sich gesetzt hatte, nach der Karte. »Meine Frau kommt in ein paar Minuten nach«, sagte er. »Wir treffen uns hier.«

Ich legte eine weitere Menükarte an den Platz neben ihm. »Möchten Sie jetzt schon bestellen oder auf sie warten?«

»Ich hätte gern einen heißen Tee. Das Essen bestelle ich erst, wenn sie da ist. Keine so große Auswahl hier, hm?« Er sah kurz zu Arlene hinüber und dann wieder zu mir. Mir wurde unbehaglich. Er war nicht hier, weil ein Lunch im Merlotte's so erfreulich war, so viel wusste ich.

»Mehr gibt unsere Küche nicht her.« Ich bemühte mich, gelassen zu klingen. »Aber was wir haben, das ist gut.«

Als ich das heiße Wasser mit dem Teebeutel aufs Tablett tat, stellte ich eine Untertasse mit ein paar Zitronenscheiben dazu. Keine Elfen da, die Anstoß nehmen könnten.

»Sind Sie Sookie Stackhouse?«, fragte er, als ich ihm seinen Tee servierte.

»Ja, die bin ich.« Ich stellte die Untertasse vorsichtig auf den Tisch, direkt neben den Becher. »Warum?« Ich wusste natürlich schon warum, aber normale Leute fragte ich besser erst.

»Ich bin Jack Leeds, Privatdetektiv.« Er legte eine Visitenkarte so auf den Tisch, dass ich sie lesen konnte, und erwartete wohl, dass ich erschrecken würde, so als bekäme er gewöhnlich höchst dramatische Reaktionen auf diese Mitteilung. »Eine Familie in Jackson, Mississippi, hat mich angeheuert - die Familie Pelt«, fuhr er fort, weil ich nichts sagte.

Mein Herz sank in die Hose, ehe es in beschleunigtem Rhythmus zu schlagen begann. Dieser Mann war überzeugt, dass Debbie tot war. Und er dachte, die Chancen, dass ich etwas darüber wusste, stünden ganz gut.

Da hatte er absolut Recht.

Vor einigen Wochen hatte ich Debbie Pelt erschossen, in Notwehr. Es war ihre Leiche, die Eric versteckt hatte. Und es war ihre Kugel, die Eric getroffen hatte, weil er sich vor mich warf.

Die Aufregung über Debbies Verschwinden nach einer »Party« in Shreveport, Louisiana (eigentlich ein Kampf auf Leben und Tod zwischen Hexen, Vampiren und Werwölfen), war wieder abgeebbt. Und ich hatte gehofft, dass ich davon nichts mehr hören würde.

»Sind die Pelts mit den Ermittlungen der Polizei denn nicht zufrieden?« Eine dämliche Frage, aber irgendetwas musste ich ja sagen, um das Schweigen zu brechen.

»Im Grunde gab es gar keine Ermittlungen«, sagte Jack Leeds. »Die Polizei in Jackson ist der Ansicht, dass sie wohl absichtlich verschwunden ist.« Er glaubte das allerdings nicht.

Dann veränderte sich seine Miene; es war, als hätte jemand hinter seinen Augen ein Licht angeknipst. Ich drehte mich um und folgte seinem Blick. Eine blonde mittelgroße Frau stand an der Tür und schüttelte das Wasser von ihrem Regenschirm. Sie hatte kurze Haare und helle Haut, und als sie sich umdrehte, sah ich, wie schön sie war - oder zumindest gewesen wäre, wenn sie ein lebhafteres Wesen gehabt hätte.

Aber das spielte für Jack Leeds keine Rolle. Dort stand die Frau, die er liebte, und als sie ihn sah, knipste sich hinter ihren Augen genau dasselbe Licht an. Sie kam mit so geschmeidigen Bewegungen zu seinem Tisch herüber, als würde sie tanzen; und als sie ihre nasse Jacke ablegte, sah ich, dass ihre Arme ebenso muskulös waren wie seine. Sie gaben sich keinen Kuss, doch er legte seine Hand auf die ihre und drückte sie kurz. Nachdem sie sich gesetzt und um ein Glas Diätcola gebeten hatte, studierte sie die Menükarte. Sie dachte, dass alle Gerichte im Merlotte's ungesund waren. Und damit hatte sie Recht.

»Salat?«, fragte Jack Leeds.

»Ich brauche etwas Warmes«, erwiderte sie. »Chili?«

»Okay, zweimal Chili«, sagte er zu mir. »Lily, das ist Sookie Stackhouse. Miss Stackhouse, das ist Lily Bard Leeds.«

»Hallo«, sagte sie. »Mit Ihnen wollte ich sprechen.«

Ihre Augen waren hellblau, und ihr Blick war hart wie ein Laserstrahl. »Sie haben Debbie Pelt an dem Abend, an dem sie verschwand, gesehen.« In ihren Gedanken fügte sie hinzu: Sie sind diejenige, die sie so sehr gehasst hat.

Die beiden wussten nichts von Debbie Pelts wahrem Wesen, und ich war erleichtert, dass die Pelts keinen Privatdetektiv unter den Werwölfen gefunden hatten. An normale Privatdetektive würden sie die wahre Natur ihrer Tochter nicht verraten. Je länger die zweigestaltigen Geschöpfe ihre Existenz geheim halten konnten, desto besser, jedenfalls aus ihrer Sicht.

»Ja, ich habe sie an dem Abend gesehen.«

»Können wir mit Ihnen darüber reden? Nach der Arbeit?«

»Nach der Arbeit muss ich einen Freund im Krankenhaus besuchen«, sagte ich.

»Ist er sehr krank?«, fragte Jack Leeds.

»Er wurde angeschossen.«

Das erhöhte ihr Interesse. »Von jemandem aus der Gegend?«, fragte die blonde Frau.

Und da wurde mir klar, wie es funktionieren könnte. »Von einem Heckenschützen. Hier in der Gegend schießt irgendwer wahllos auf Leute.«

»Ist irgendeiner von denen verschwunden?«, fragte Jack Leeds.

»Nein«, gab ich zu. »Sie wurden alle liegen gelassen. Die Schüsse fielen immer in Anwesenheit von Zeugen. Vielleicht deshalb.« Ich hatte nicht gehört, dass jemand wirklich gesehen hatte, wie Calvin niedergeschossen wurde, aber gleich danach war jemand vorbeigekommen und hatte den Notruf angerufen.

Lily Leeds fragte, ob sie mich am nächsten Tag sprechen könnten, ehe ich zur Arbeit ging. Ich beschrieb ihnen den kürzesten Weg zu meinem Haus und sagte, sie sollten um zehn kommen. Mit ihnen zu reden hielt ich eigentlich für keine gute Idee, aber was blieb mir anderes übrig? Ich würde mich sehr viel verdächtiger machen, wenn ich mich weigerte, mit ihnen über Debbie Pelt zu sprechen.

Unwillkürlich verspürte ich den Wunsch, Eric heute Abend anzurufen und ihm von Jack und Lily Leeds zu erzählen; geteilte Sorgen sind halbe Sorgen. Aber Eric erinnerte sich ja an gar nichts. Wenn ich Debbies Tod bloß auch vergessen könnte. Es war entsetzlich, so etwas Schwerwiegendes und Schreckliches zu wissen, ohne es mit einer einzigen Seele teilen zu können.

Ich kannte so viele Geheimnisse, aber kaum eins davon war mein eigenes. Mein eigenes Geheimnis war eine dunkle blutige Last.

Charles Twining sollte Terry ablösen, sobald es völlig dunkel war. Arlene arbeitete heute länger, weil Danielle zur Tanzaufführung ihrer Tochter ging, und ich lenkte mich ein wenig von meinen düsteren Gedanken ab, indem ich ihr alles über den neuen Barkeeper oder auch Rausschmeißer erzählte. Sie war fasziniert. Noch nie war ein Engländer in unserer Bar gewesen, und noch viel weniger ein Engländer mit Augenklappe.

»Grüß Charles von mir«, rief ich, als ich mein Wettercape anzog. Nach einigen Stunden mit Sprühregen fielen die Tropfen jetzt wieder schneller.

Ich patschte zu meinem Auto, die Kapuze weit über das Gesicht gezogen. Gerade als ich die Fahrertür öffnete, hörte ich eine Stimme meinen Namen rufen. Sam stand auf Krücken in der Tür seines Wohnwagens. Vor ein paar Jahren hatte er einen überdachten Windfang angebracht, so dass er nicht nass wurde. Ich schlug die Autotür zu und sprang über Pfützen von Trittstein zu Trittstein. Dann stand ich in seinem Windfang und tröpfelte alles voll.

»Es tut mir leid«, sagte er.

Ich starrte ihn an. »Das sollte es auch«, erwiderte ich schroff.

»Nun, das tut es ja.«

»Okay. Gut.« Ich fragte ihn absichtlich nicht, was er mit Charles gemacht hatte.

»Irgendwas passiert heute, drüben in der Bar?«

Ich zögerte. »Na ja, wenig los, um es nett auszudrücken. Aber ...« Ich wollte ihm eigentlich von den Privatdetektiven erzählen, doch ich wusste, dass er dann Fragen stellen würde. Und ich würde ihm vielleicht sogar die ganze traurige Geschichte erzählen, nur um sie endlich jemandem beichten zu können. »Ich muss los, Sam. Jason holt mich ab, wir fahren nach Grainger ins Krankenhaus und besuchen Calvin Norris.«

Er sah mich an. Seine Augen wurden schmal. Seine Wimpern waren von demselben Rotblond wie seine Haare und nur zu erkennen, wenn man nah bei ihm stand. Aber ich hatte überhaupt keinen Grund, an Sams Wimpern zu denken oder an irgendeinen anderen Teil seines Körpers.

»Ich habe mich gestern miserabel benommen«, sagte er. »Ich muss dir ja nicht sagen warum.«

»Na, besser doch«, erwiderte ich verwirrt. »Denn das habe ich überhaupt nicht verstanden.«

»Du weißt, dass du dich immer auf mich verlassen kannst.«

Wenn's darum geht, wütend auf mich zu werden? Oder sich danach zu entschuldigen? »Du hast mich in letzter Zeit ganz schön genervt«, sagte ich. »Aber du bist schon seit Jahren ein Freund, und ich habe eine sehr hohe Meinung von dir.« Das klang ziemlich gestelzt, also versuchte ich zu lächeln. Er lächelte zurück, ein Regentropfen fiel von der Kapuze direkt auf meine Nase, und der Moment war vorüber. »Was meinst du, wann kommst du wieder in die Bar?«

»Ich werde es morgen für eine Weile versuchen. Zumindest kann ich im Büro sitzen und an den Büchern arbeiten, ein bisschen Papierkram erledigen.«

»Bis dann.«

»Klar.«

Als ich zurück zu meinem Auto eilte, war mein Herz sehr viel leichter als zuvor. Mit Sam zerstritten zu sein, das hatte sich ganz falsch angefühlt. Aber ich hatte mir nicht klar gemacht, wie stark all meine Gedanken von diesem Gefühl eingetrübt gewesen waren, bis ich mich wieder mit ihm vertragen hatte.