Kapitel 11

An diesem Abend kam Bill in Begleitung ins Merlotte's. Das sollte wohl eine Revanche sein, weil ich Sam geküsst hatte; aber vielleicht war ich in dem Punkt auch zu eingebildet. Diese wandelnde Revanche war eine Frau aus Clarice. Ich hatte sie früher schon hin und wieder in der Bar gesehen. So eine schlanke Brünette mit schulterlangen Haaren. Danielle konnte es kaum erwarten, mir zu erzählen, dass es Selah Pumphrey war, die Immobilienmaklerin, die im letzten Jahr die Auszeichnung »Maklerin der Millionenerlöse« erhalten hatte.

Ich hasste sie sofort, zutiefst und inbrünstig.

Also lächelte ich so strahlend wie eine 1000-Watt-Glühbirne und brachte umgehend Bill ein warmes »TrueBlood« und ihr einen eiskalten Screwdriver. Und ich habe nicht mal in den Screwdriver gespuckt. Das war unter meiner Würde, sagte ich mir. Und außerdem war ich keine Sekunde allein gewesen.

Obwohl das Merlotte's brechend voll war, beobachtete Charles mich aufmerksam. Der Pirat war bester Laune heute Abend und trug ein weißes Hemd mit weiten, gebauschten Ärmeln und marineblaue Dockers-Hosen, durch deren Gürtelschlaufen er als farblichen Kontrast ein helles Halstuch gezogen hatte. Seine Augenklappe passte exakt zu den Dockers und war mit einem goldenen Stern bestickt. Exotischer wurde es selten in Bon Temps.

Sam winkte mich zu seinem kleinen Tisch herüber, den er ganz in eine Ecke gezwängt hatte. Sein Bein war auf einen zweiten Stuhl hochgelegt. »Alles in Ordnung mit dir, Sookie?«, murmelte er und drehte sich von den Gästen weg, damit ihm keiner seine Worte von den Lippen ablas.

»Na klar, Sam!« Ich sah ihn erstaunt an. »Warum nicht?« In diesem Augenblick hasste ich ihn dafür, dass er mich geküsst hatte, und ich hasste mich dafür, dass ich darauf eingegangen war.

Er verdrehte die Augen und lächelte einen flüchtigen Moment lang. »Ich glaube, ich habe dein Wohnproblem gelöst«, sagte er, um mich abzulenken. »Ich erzähle es dir später.« Und schon eilte ich wieder davon, um eine neue Bestellung aufzunehmen. Die Bar war völlig überfüllt an diesem Abend. Das wärmer werdende Wetter verbunden mit der Attraktion eines neuen Barkeepers hatte all die Optimistischen und Neugierigen ins Merlotte's gelockt.

Ich hatte Bill verlassen, rief ich mir selbst stolz in Erinnerung. Obwohl er mich betrogen hatte, hatte er sich nicht von mir trennen wollen. Das musste ich mir ständig vor Augen halten, damit ich nicht jeden hasste, der hier Zeuge meiner Demütigung wurde. Denn von den Leuten hier kannte natürlich keiner die Zusammenhänge, und so gingen sie alle einfach davon aus, dass Bill mich wegen dieser brünetten Zicke verlassen hatte.

Ich richtete mich kerzengerade auf, lächelte noch breiter und teilte geschäftig Drinks aus. Nach zehn Minuten begann ich mich etwas zu entspannen und sah schließlich ein, dass ich mich wie eine Idiotin aufführte. Wie Millionen andere Paare auch hatten Bill und ich uns getrennt. Und selbstverständlich ging er jetzt mit anderen Frauen aus. Wenn ich so ab dreizehn oder vierzehn ganz normal Freunde gehabt hätte, wäre meine Beziehung mit Bill nur eine unter vielen in der langen Reihe von Beziehungen gewesen, die nicht gut ausgegangen waren. Dann könnte ich jetzt lockerer damit umgehen oder es zumindest nüchterner betrachten.

Aber ich konnte es nicht nüchtern betrachten. Bill war meine erste große Liebe gewesen, in jeder Hinsicht.

Als ich ihnen zum zweiten Mal Drinks an den Tisch brachte, sah Selah Pumphrey mich unsicher an, während ich sie anstrahlte. »Danke«, sagte sie beklommen.

»Keine Ursache«, zischte ich durch zusammengebissene Zähne, und sie erblasste.

Bill wandte sich ab. Ich konnte nur hoffen, dass er kein Lächeln verbergen musste. Dann ging ich zurück an den Bartresen.

»Soll ich ihr einen richtigen Schreck einjagen, wenn sie die Nacht mit ihm verbringt?«, fragte Charles.

Ich hatte bei ihm hinter der Bar gestanden und durch die Glasfront in den Kühlschrank dort gestarrt. Alkoholfreie Getränke, Blut in Flaschen und bereits in Scheiben geschnittene Zitronen und Limetten waren darin. Ich hatte eigentlich eine Zitronenscheibe und eine Cocktailkirsche für einen Tom Collins holen wollen und war einfach dort stehen geblieben. Charles war eindeutig zu scharfsinnig.

»Ja, bitte«, sagte ich dankbar. Der Vampir-Pirat entwickelte sich immer mehr zu einem Verbündeten. Er hatte mich vor dem Feuer gerettet, er hatte den Mann getötet, der mein Haus in Brand gesetzt hatte, und jetzt bot er mir an, Bills neue Flamme zu erschrecken. Das musste einem doch gefallen.

»Stell sie dir zu Tode erschrocken vor«, sagte er in höchst vornehmem Ton und verbeugte sich mit schwungvoller Geste, die Hand aufs Herz gepresst.

»Ach, du«, sagte ich mit einem etwas natürlicheren Lächeln und holte die Schale mit den Zitronenscheiben heraus.

Es kostete mich all meine Selbstbeherrschung, mich nicht in Selah Pumphreys Gedanken zu stehlen. Ich war sehr stolz auf mich.

Zu meinem Entsetzen kam das nächste Mal, als die Tür aufging, Eric herein. Mein Herz schlug sofort rasend schnell, und ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe. Es musste endlich aufhören, dass ich immer so reagierte. Wenn ich bloß »die Zeit, die uns gemeinsam vergönnt gewesen war« (wie einer meiner Lieblingsliebesromane es formulieren würde) so gründlich vergessen könnte, wie Eric sie vergessen hatte. Vielleicht sollte ich nach einer Hexe oder einem Hypnotiseur Ausschau halten und mir eine Dosis Gedächtnisverlust verpassen lassen. Ich biss mir in die Innenseite der Wange, richtig fest, und trug zwei Krüge Bier an einen Tisch mit zwei jungen Paaren, die die Beförderung des einen der beiden Männer feierten - zum Vorgesetzten von irgendwem, irgendwo.

Eric sprach mit Charles, als ich mich wieder umdrehte, und auch wenn Vampire ziemlich eiskalte Mienen aufsetzen können, wenn sie miteinander zu tun haben, schien es mir doch offensichtlich, dass Eric mit seinem ausgeliehenen Barkeeper nicht zufrieden war. Charles war fast dreißig Zentimeter kleiner als sein Boss, und er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, während sie sich unterhielten. Doch sein Rücken war gerade, seine Fangzähne blitzten ein wenig hervor, und seine Augen glühten. Eric konnte auch ziemlich Furcht erregend sein, wenn er wütend war. Und im Augenblick zeigte er eindeutig Zähne. Die menschlichen Gäste am Bartresen waren plötzlich alle bemüht, irgendwas anderes irgendwo anders in dem großen Raum zu tun, und schon bald würden sie irgendwas anderes in irgendeiner anderen Bar tun wollen.

Ich sah, wie Sam nach einem Stock griff - eine echte Verbesserung im Vergleich zu den Krücken -, um aufzustehen und zu den beiden hinüberzugehen, und eilte an seinen Tisch. »Bleib, wo du bist«, sagte ich zu ihm, ziemlich entschlossen und leise. »Denk nicht mal dran, dich einzumischen.«

Ich drehte mich auf dem Absatz um und stand auch schon an der Bar. »Hi, Eric! Wie geht's dir? Kann ich dir irgendwie helfen?« Ich lächelte zu ihm hinauf.

»Ja. Mit dir muss ich auch reden«, fauchte er.

»Warum kommst du dann nicht mit? Ich wollte gerade mal kurz nach draußen, frische Luft schnappen.«

Ich hakte mich bei ihm unter und zog ihn durch den Durchgang und den Flur entlang bis zum Ausgang für Angestellte. Wir standen in der kühlen Nachtluft, noch ehe einer Jack Robinson sagen konnte.

»Du fängst besser gar nicht erst an, mir zu erzählen, was ich tun soll«, sagte ich sofort. »Das habe ich heute schon oft genug gehört, außerdem sitzt Bill da drin mit einer anderen Frau, und außerdem ist meine Küche abgebrannt. Ich habe verdammt schlechte Laune.« Das unterstrich ich, indem ich Erics Arm fest drückte - es war wie der Versuch, einen dünneren Baumstamm zu packen.

»Mir ist deine Laune egal«, erwiderte er prompt und zeigte seine Fangzähne. »Ich bezahle Charles Twining dafür, dass er auf dich aufpasst und für deine Sicherheit sorgt. Und wer zerrt dich aus dem Feuer? Eine Elfe. Während Charles draußen vor dem Haus erst mal den Brandstifter umbringt, statt seiner Gastgeberin das Leben zu retten. Dieser dämliche Engländer!«

»Er ist hier, weil du Sam einen Gefallen tust. Und er ist hier, um Sam auszuhelfen.« Zweifelnd blickte ich Eric an.

»Ich schere mich einen Dreck um Gestaltwandler«, brauste der Vampir ungeduldig auf.

Ich starrte zu ihm hinauf.

»Du hast irgendwas an dir«, sagte Eric. Seine Stimme klang kühl, doch seine Augen funkelten feurig. »Es liegt mir auf der Zunge, aber ich kann es nicht in Worte fassen. Es geht mir regelrecht unter die Haut, dieses Gefühl, dass irgendwas passiert ist, während ich unter dem Fluch stand, etwas, das ich wissen sollte. Hatten wir Sex, Sookie? Aber das ist es nicht, glaube ich, nicht das allein. Irgendwas ist passiert. Auf deinem Mantel waren ein paar Spritzer Hirnmasse. Wen habe ich getötet, Sookie? Ist es das? Schützt du mich vor dem, was ich getan habe, als ich unter dem Fluch stand?« Seine Augen glühten in der Dunkelheit.

Ich hätte nie gedacht, dass er sich fragen würde, wen er umgebracht hatte. Und ehrlich, selbst wenn ich daran gedacht hätte, wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, Eric würde sich dafür interessieren. Welchen Unterschied machte ein Menschenleben mehr oder weniger schon für einen Vampir dieses Alters? Doch er schien enorm unglücklich zu sein. Da ich jetzt verstanden hatte, was ihn bekümmerte, sagte ich: »Eric, du hast in jener Nacht in meinem Haus niemanden getötet.« Unvermittelt hielt ich inne.

»Du musst mir erzählen, was passiert ist.« Er beugte sich etwas herunter, um mir ins Gesicht zu sehen. »Ich ertrage es nicht, von meinen eigenen Taten nichts zu wissen. Mein Leben dauert schon länger, als du dir überhaupt vorstellen kannst, und ich erinnere mich an jede Sekunde - außer an diese Tage, die ich mit dir verbracht habe.«

»Ich kann dir deine Erinnerung nicht wiedergeben«, sagte ich so ruhig wie möglich. »Ich kann dir nur sagen, dass du einige Tage bei mir warst, und dann kam Pam und holte dich ab.«

Eric sah mir lange in die Augen. »Wenn ich nur deine Gedanken lesen und dir die Wahrheit entreißen könnte«, entgegnete er. Das erschreckte mich mehr, als ich zeigen wollte. »Du hattest Blut von mir in dir, und ich weiß, dass du etwas vor mir verbirgst.« Nach einem kurzen Schweigen fuhr er fort: »Wenn ich nur wüsste, wer dich umzubringen versucht. Und ich habe gehört, dass zwei Privatdetektive bei dir waren. Was wollten die von dir?«

»Wer hat dir das erzählt?« Jetzt gab es noch etwas, worüber ich mir Sorgen machen musste. Jemand spionierte mich aus. Ich spürte, wie mein Blutdruck anstieg. Erstattete Charles Eric etwa jeden Abend Bericht über mich?

»Hat das irgendwas mit dieser Frau zu tun, die vermisst wird, mit diesem Miststück, das der Werwolf so sehr liebte? Schützt du ihn? Wenn ich sie nicht getötet habe, war er es dann? Ist sie vor unseren Augen gestorben?«

Eric hatte mich schmerzhaft bei den Schultern gepackt.

»Du tust mir weh! Lass mich los.«

Eric lockerte seinen Griff, nahm die Hände aber nicht herunter.

Ich atmete schneller und flacher, die Luft knisterte vor Gefahr. Langsam reichte es mir, ständig unter Druck gesetzt zu werden.

»Jetzt sag schon«, forderte er.

Wenn ich ihm erzählen würde, dass er mir bei einem Mord zugesehen hatte, hätte er für den Rest meines Lebens Macht über mich. Eric wusste bereits mehr über mich, als mir lieb war, weil ich sein Blut in mir gehabt hatte und er mein Blut in sich. Jetzt bereute ich diesen Blutaustausch mehr denn je. Eric war sicher, dass ich ihm etwas sehr Wichtiges vorenthielt.

»Du warst so liebenswert, als du nicht wusstest, wer du bist.« Was immer er erwartet haben mochte, das jedenfalls nicht. Sein schönes Gesicht zeigte ein wechselvolles Mienenspiel von Erstaunen und heller Empörung. Doch letztlich amüsierte es ihn.

»Liebenswert?« Einer seiner Mundwinkel verzog sich zu einem Lächeln.

»Sehr sogar.« Auch ich versuchte ihn anzulächeln. »Wir haben wie alte Freunde miteinander geredet.« Meine Schultern schmerzten. Wahrscheinlich verlangte inzwischen jeder einzelne Gast in der Bar nach einem neuen Drink. Aber ich konnte jetzt einfach noch nicht wieder hineingehen. »Du warst verängstigt und allein, und du hast dich gern 'mit mir unterhalten. Das hat sehr viel Spaß gemacht.«

»Spaß«, wiederholte er nachdenklich. »Und jetzt hast du keinen Spaß mit mir?«

»Nein, Eric. Du bist zu sehr damit beschäftigt... du selbst zu sein.« Sheriff der Vampir-Gemeinde, politische Figur, aufstrebender Tycoon.

Er zuckte die Achseln. »Bin ich denn so schlimm? Viele Frauen sehen das ganz anders.«

»Das glaube ich gern.« Ich konnte es nicht mehr hören.

Die Hintertür öffnete sich. »Sookie, alles in Ordnung bei dir?« Sam war zu meiner Rettung herangehumpelt. Seine Miene war ganz starr vor Schmerz.

»Gestaltwandler, sie braucht deine Hilfe nicht«, sagte Eric.

Sam erwiderte nichts, was Eric durchaus auffiel.

»Das war unhöflich«, sprach Eric weiter. Es war keine richtige Entschuldigung, aber immerhin. »Ich bin auf Ihrem Territorium. Ich gehe dann, Sookie«, sagte er zu mir. »Wir haben unser Gespräch noch nicht beendet, aber ich sehe ein, dass hier und jetzt weder der Ort noch die Zeit dafür ist.«

»Wir sehen uns«, entgegnete ich; mir blieb sowieso keine Wahl.

Eric verschmolz mit der Dunkelheit - ein toller Trick, den ich irgendwann auch gern beherrschen würde.

»Warum ist er so unglücklich?«, fragte Sam, humpelte aus der Tür heraus und lehnte sich gegen die Wand.

»Er kann sich an nichts aus der Zeit erinnern, während der er unter dem Fluch stand«, sagte ich langsam, denn das Thema hatte ich wirklich satt. »Und jetzt fühlt er sich, als hätte er die Kontrolle verloren. Vampire sind die reinsten Kontrollfreaks. Aber das ist dir sicher schon aufgefallen.«

Sam lächelte - nur andeutungsweise, aber aufrichtig. »Ja, das ist mir schon aufgefallen«, gab er zu. »Und auch, dass sie ziemlich besitzergreifend sind.«

»Du meinst Bills Reaktion, als er uns beide überraschte?«, fragte ich. Sam nickte. »Tja, mittlerweile scheint er ja darüber hinweg zu sein.«

»Er will es dir nur auf gleiche Weise heimzahlen, glaube ich.«

Irgendwie war es mir peinlich. Gestern Abend war ich kurz davor gewesen, mit Sam ins Bett zu gehen. Doch in diesem Augenblick fühlte ich mich alles andere als leidenschaftlich, und Sam hatte sich beim Hinfallen das angeschossene Bein erneut verletzt. Er sah nicht so aus, als könnte er auch nur eine Stoffpuppe verführen, ganz zu schweigen von einer kräftigen Frau wie mir. Es war sowieso falsch, sich mit seinem Boss auf Sex einzulassen, ich weiß, auch wenn Sam und ich schon seit Monaten eine heikle Gratwanderung hinlegten. Wenn ich mich jetzt für ein »Nein« entschied, war es das Sicherste und Vernünftigste, was ich tun konnte. Heute Abend, vor allem nach den emotional aufwühlenden Ereignissen der letzten Stunde, sehnte ich mich einfach nur nach Sicherheit.

»Er hat uns gerade rechtzeitig gestört«, sagte ich.

Sam zog eine seiner rotblonden Augenbrauen hoch. »Wolltest du gestört werden?«

»Zu dem Zeitpunkt nicht«, räumte ich ein. »Aber ich schätze, so ist es wohl am besten.«

Einen Augenblick lang sah Sam mich einfach an. »Was ich dir sagen wollte ... eigentlich ja erst, wenn das Merlotte's schließt. Also, in einem der Doppelhäuser, die ich vermiete, steht gerade die eine Hälfte leer, und zwar gleich neben der - na ja, du weißt schon, neben der, in der Dawn...«

»... gestorben ist«, beendete ich den Satz.

»Richtig. Die Hälfte habe ich renovieren lassen, und sie ist jetzt auch vermietet. Du hättest also einen Nachbarn, woran du nicht gewöhnt bist. Aber die leere Hälfte ist möbliert. Du müsstest nur etwas Wäsche, deine Kleidung und ein paar Töpfe und Pfannen mitbringen.« Sam lächelte. »Das passt alles in ein Auto. Übrigens, wo hast du den eigentlich her?« Er nickte zu dem Malibu hinüber.

Ich erzählte Sam, wie großzügig Tara gewesen war und auch welche Sorgen ich mir um sie machte. Und ich berichtete außerdem davon, wie eindringlich Eric mich vor Mickey gewarnt hatte.

Als ich bemerkte, wie besorgt Sam plötzlich war, fühlte ich mich wie ein egoistisches Miststück, weil ich ihm all das auflud. Sam hatte schließlich genug eigene Sorgen.

»Tut mir leid«, sagte ich, »du kannst wirklich keine weiteren Schwierigkeiten brauchen. Komm, gehen wir wieder hinein.«

Sam starrte mich an. »Ich muss mich setzen«, erklärte er nach einem kurzen Moment.

»Danke, dass ich in dem Haus wohnen darf. Natürlich zahle ich Miete. Ich bin ja so froh, dass ich jetzt etwas habe, wo ich kommen und gehen kann, ohne jemanden zu stören! Wie viel kriegst du? Meine Versicherung kommt sicher für die Miete auf, während mein Haus renoviert wird.«

Sam warf mir einen harten Blick zu und nannte dann einen Preis, der bestimmt deutlich unter seinen üblichen Mietforderungen lag. Ich stützte ihn, weil ihm sein Bein solche Schmerzen bereitete. Er akzeptierte es ohne Widerworte, was meine gute Meinung von ihm noch steigerte. Mit meiner Hilfe humpelte er den Flur entlang und ließ sich mit einem Seufzer in den Bürostuhl mit den Rollen hinter seinem Schreibtisch fallen. Ich schob einen der Besucherstühle zu ihm hinüber, damit er sein Bein hochlegen konnte, was er umgehend tat. In dem Neonlicht seines Büros wirkte Sams Gesicht eingefallen und verhärmt.

»Geh wieder an die Arbeit«, sagte er scherzhaft drohend. »Ich wette, sie sind schon über Charles hergefallen.«

In der Bar herrschte genau das Chaos, das ich befürchtet hatte, und ich kümmerte mich sofort um meine Tische. Danielle warf mir einen vernichtenden Blick zu, und sogar Charles wirkte alles andere als glücklich. So schnell ich konnte, servierte ich nach und nach neue Drinks, räumte leere Gläser ab, stellte frische Aschenbecher hin und wischte klebrige Tische ab, wobei ich alle Gäste stets anlächelte und ein paar Worte mit ihnen wechselte. Mein Trinkgeld konnte ich an diesem Abend zwar abschreiben, aber schließlich herrschte wieder Frieden.

Langsam fand alles zu seinem gewohnten Rhythmus zurück. Bill und seine Begleiterin waren in ein Gespräch vertieft, bemerkte ich - auch wenn ich mich bemühte, nicht dauernd in ihre Richtung zu blicken. Zu meiner eigenen Bestürzung überfiel mich jedes Mal, wenn ich die beiden dort so vertraut sitzen sah, eine Wut, die nicht gerade für meinen Charakter sprach. Meine Gefühle waren zwar etwa neunzig Prozent aller Gäste völlig egal, doch die restlichen zehn Prozent beobachteten mit Adleraugen, ob ich wegen der Frau in Bills Begleitung litt. Einige hätten sich darüber sehr gefreut, andere wiederum nicht - aber es ging niemanden etwas an, weder so noch so.

Ich wischte eben einen Tisch ab, der gerade frei geworden war, als mir jemand auf die Schulter tippte. Mich kam noch rechtzeitig eine Vorahnung an, so dass mir mein Lächeln nicht entglitt, als ich mich umdrehte. Selah Pumphreys Lächeln war strahlend und stählern.

Sie war größer als ich und ungefähr fünf Kilo leichter. Ihr Make-up wirkte exklusiv und teuer, und sie roch geradezu nach einer Million Dollar. Ohne darüber auch nur nachzudenken, klinkte ich mich in ihre Gedanken ein.

Selah fühlte sich mir absolut überlegen, sofern ich nicht fantastisch im Bett war. Sie vermutete allerdings, dass Frauen aus den unteren Schichten meist besser im Bett waren, weil sie sich nicht so verklemmt anstellten. Sie wusste, sie war schlanker, klüger, verdiente viel mehr Geld und war weitaus gebildeter und belesener als die Kellnerin, die sie gerade ansah. Doch Selah Pumphrey misstraute ihren eigenen sexuellen Fähigkeiten und hatte Angst davor, ihre verletzliche Seite zu zeigen. Das war mehr, als ich hatte wissen wollen.

Es war immerhin interessant, zu erfahren (aus Selahs Gedanken), dass ich - da ich ja arm und ungebildet war - einen besseren Zugang zu meinem sexuellen Wesen hatte. Das sollte ich unbedingt allen armen Leuten in Bon Temps erzählen. Was würden für großartige Zeiten anbrechen, wenn wir alle ständig miteinander vögeln würden und uns gegenseitig bestätigen könnten, dass wir viel besseren Sex hatten als die klugen reichen Leute der Oberschicht - was wir bislang nicht angemessen zu würdigen wussten.

»Ja?«, sagte ich.

»Wo sind denn bitte die Toiletten?«, fragte sie.

»Durch den Durchgang dort, über dem das Schild >Toiletten< angebracht ist.« Ich sollte dankbar sein, dass ich immerhin clever genug war, Schilder zu lesen.

»Oh! Der Durchgang. Den hatte ich gar nicht gesehen.«

Ich wartete einfach ab.

»Ja, äh, geben Sie mir einen Tipp? Wie das mit Vampiren so läuft?« Nervös und trotzig zugleich schaute sie mich erwartungsvoll an.

»Na klar«, erwiderte ich. »Essen Sie keinen Knoblauch.« Und damit wischte ich weiter den Tisch ab.

Als ich sicher sein konnte, dass sie auf die Toilette entschwunden war, drehte ich mich um und trug zwei leere Bierkrüge an die Bar. Und als ich mich erneut umwandte, stand Bill vor mir. Überrascht schnappte ich nach Luft. Bill hat dunkelbraune Haare und natürlich die weißeste Haut, die man sich vorstellen kann. Seine Augen sind genauso dunkel wie seine Haare. Jetzt starrten diese Augen in meine.

»Was wollte sie von dir?«, fragte er.

»Sie hat nach dem Weg zu den Toiletten gefragt.«

Er zog eine Augenbraue hoch und sah zu dem Schild hin.

»Sie wollte wohl einfach mal Maß nehmen«, sagte ich. »Das nehme ich jedenfalls an.« In diesem Augenblick fühlte ich mich in Bills Gegenwart seltsam wohl, ganz egal, was zwischen uns passiert war.

»Hast du ihr Angst eingejagt?«

»Ich hab's nicht mal versucht.«

»Hast du ihr Angst eingejagt?«, fragte er erneut, in ernsterem Ton.

»Nein«, entgegnete ich. »Hätte ich das etwa tun sollen?«

In gespielter Empörung schüttelte er den Kopf. »Bist du eifersüchtig?«

»Ja.« Mit der Wahrheit war ich wenigstens auf der sicheren Seite. »Ich hasse ihre dünnen Oberschenkel und ihre hochnäsige Attitüde. Hoffentlich ist sie ein grässliches Miststück und macht dich so unglücklich, dass du aufheulst, wann immer du an mich denkst.«

»Gut«, sagte Bill. »Es tut sehr gut, das zu hören.« Seine Lippen streiften meine Wange. Die Berührung seiner kühlen Haut rief Erinnerungen wach und ließ mich erzittern. Ihm erging es genauso. Ich sah den feurigen Blick seiner Augen, und seine Fangzähne begannen hervorzutreten. Dann rief Catfish Hunter, ich solle mal endlich in die Gänge kommen und ihm seinen Bourbon mit Coke bringen, und ich ließ meine erste große Liebe stehen.

Es war ein sehr, sehr langer Tag gewesen, nicht nur was körperliche Kraft und Ausdauer betraf, sondern auch emotional, hinsichtlich aller Tiefen und Untiefen. Als ich das Haus meines Bruders betrat, hörte ich Kichern und Quietschen aus seinem Schlafzimmer, und ich schloss messerscharf, dass Jason sich mal wieder auf die übliche Weise tröstete. Jason mochte vielleicht unglücklich sein, weil seine neuen Freunde ihn eines gemeinen Verbrechens verdächtigten, aber so unglücklich, dass es seine Libido beeinträchtigte, war er dann auch wieder nicht.

Ich verbrachte so wenig Zeit wie möglich im Badezimmer, ging ins Gästezimmer und schloss sorgfältig die Tür hinter mir. Heute Abend wirkte das alte Sofa sehr viel einladender als am Abend zuvor. Als ich mich in die Steppdecke wickelte und mich auf die Seite drehte, bemerkte ich, dass die Frau, mit der Jason die Nacht verbrachte, eine Gestaltwandlerin sein musste. Ich konnte es spüren, weil ein leicht pulsierendes Rot von ihrem Gehirn ausging.

Hoffentlich war es Crystal Norris. Hoffentlich hatte Jason sie irgendwie davon überzeugt, dass er mit den Schüssen nichts zu tun hatte. Wenn Jason seine Schwierigkeiten noch vergrößern wollte, brauchte er bloß Crystal zu betrügen, seine Freundin aus der Werpanther-Gemeinde. Aber so dämlich war bestimmt nicht mal Jason. Bestimmt nicht.

Nein, war er nicht. Ich traf Crystal am nächsten Morgen in der Küche, es war bereits nach zehn. Jason war schon lange weg, denn er musste um Viertel vor acht bei der Arbeit sein.

Ich trank gerade meinen ersten Becher Kaffee, als Crystal hereinstolperte, in einem T-Shirt von Jason und noch ganz verschlafen im Gesicht.

Crystal war nicht meine Lieblingsfreundin und ich nicht ihre, aber sie sagte »Morgen«, gerade höflich genug. Ich bestätigte ihr, dass es noch Morgen war, und holte einen Becher für sie aus dem Schrank. Sie verzog das Gesicht, griff nach einem Glas, füllte es mit Eiswürfeln und goss Coca-Cola darauf. Mich schüttelte es.

»Wie geht es deinem Onkel?«, fragte ich, als sie mir etwas wacher zu sein schien.

»Schon besser«, erwiderte sie. »Du solltest ihn besuchen gehen. Er freut sich, wenn du kommst.«

»Du bist hoffentlich davon überzeugt, dass nicht Jason auf ihn geschossen hat.«

»Bin ich«, sagte sie knapp. »Anfangs wollte ich nicht mit ihm sprechen, aber als er mich dann erst mal am Telefon hatte, hat er all meine Zweifel zerstreut.«

Ich hätte sie zu gern gefragt, ob die anderen Leute von Hotshot im Zweifelsfall auch zu Jasons Gunsten entscheiden würden, wollte aber ein so heikles Thema lieber nicht anschneiden.

Ich überlegte, was ich heute zu tun hatte: Ich musste ausreichend Kleidung, Handtücher, Bettwäsche und Decken sowie einige Küchenutensilien aus meinem Haus holen und mich in Sams Doppelhaushälfte einrichten.

In ein kleines möbliertes Haus einzuziehen war die perfekte Lösung für mein Wohnproblem. Ich hatte ganz vergessen, dass Sam an der Berry Street ein paar kleinere Häuser besaß, von denen drei Doppelhäuser waren. Er kümmerte sich selbst um sie, obwohl er manchmal JB du Rone, einen Schulfreund von mir, anheuerte, der einfachere Reparaturen oder Wartungsarbeiten für ihn erledigte. So einfach wie nur möglich war immer das Beste, wenn's um JB ging.

Sobald ich meine Sachen dorthin gefahren hatte, blieb vielleicht noch Zeit für einen Besuch bei Calvin. Ich duschte und zog mich an, Crystal saß im Wohnzimmer und sah fern, als ich ging. Dagegen hatte Jason sicher nichts.

Terry schuftete schon schwer, als ich über die von Bäumen gesäumte Auffahrt die Lichtung erreichte. Ich ging ums Haus herum, um mir anzusehen, wie er vorankam, und war ganz begeistert, weil er bereits viel mehr geschafft hatte, als ich je erwartet hätte. Er lächelte, als ich ihm das auch sagte, und hörte einen Moment lang auf, kaputte Bodendielen auf seinen Pick-up zu laden. »Einreißen ist immer einfacher als Aufbauen«, sagte er. Das war zwar keine große philosophische Einsicht, aber das ehrliche Resümee eines hart arbeitenden Handwerkers. »Zwei Tage noch, dann habe ich's geschafft, wenn nichts dazwischenkommt und mich aufhält. Keine Rede von Regen im Wetterbericht.«

»Prima. Wie viel kriegst du von mir?«

»Oh«, murmelte er, zuckte die Achseln und sah verlegen drein. »Hundert? Fünfzig?«

»Nein, das ist viel zu wenig.« Schnell überschlug ich im Kopf die Anzahl seiner Arbeitsstunden und multiplizierte. »Eher dreihundert.«

»Sookie, so viel würde ich dir nie in Rechnung stellen.« Terry setzte seine sture Miene auf. »Ich würde dir gar nichts in Rechnung stellen, wenn ich nicht einen neuen Hund bräuchte.«

Etwa alle vier Jahre kaufte sich Terry einen teuren Catahoula Leopard Dog, einen Jagdhund. Dabei tauschte er nicht etwa seine alten gegen neue. Irgendwie stieß Terrys Hunden immer irgendwas zu, obwohl er sich sehr gut um sie kümmerte. Nachdem er den ersten Hund drei Jahre lang gehabt hatte, überfuhr ihn ein Lastwagen. Der zweite war von irgendwem mit vergiftetem Fleisch gefüttert worden. Und der dritte, der, den er Molly genannt hatte, wurde von einer Schlange gebissen, und der Biss hatte sich entzündet. Seit Monaten war Terry jetzt schon auf einer Liste eingetragen, um einen Welpen aus dem nächsten Wurf des Catahoula-Züchters in Clarice kaufen zu können.

»Du musst mit dem Welpen unbedingt mal vorbeikommen, damit ich ihn knuddeln kann«, schlug ich vor, und er lächelte. Im Freien war Terry immer in bester Verfassung, fiel mir zum ersten Mal auf. Er schien sich körperlich und geistig sehr viel wohler zu fühlen, wenn er kein Dach über dem Kopf hatte. Und wenn er mit einem Hund draußen unterwegs war, wirkte er ganz normal.

Ich schloss das Haus auf und ging hinein, um das zu holen, was ich brauchen würde. Es war ein sonniger Tag und daher kein Problem, dass das elektrische Licht nicht ging. In einen großen Plastikwäschekorb legte ich zwei Sets Bettwäsche, einen alten Bettüberwurf aus Chenille und ein paar Töpfe und Pfannen. Ich würde mir eine neue Kaffeekanne kaufen müssen, meine alte war geschmolzen.

Und als ich dort stand, aus dem Fenster blickte und meine Kaffeemaschine betrachtete, die ich auf den Müllhaufen geworfen hatte, verstand ich plötzlich, wie nah ich dem Tod gekommen war. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag.

In der einen Minute stand ich noch am Fenster meines Schlafzimmers und sah hinaus auf das verformte Stück Plastik, und schon in der nächsten kauerte ich bebend auf dem Fußboden, starrte die angestrichenen Bodendielen an und versuchte zu atmen.

Warum traf es mich erst jetzt, drei Tage später? Keine Ahnung. Vielleicht lag es am Anblick der Kaffeemaschine: Das Kabel war verschmort, das Plastik von der Hitze aufgetrieben, es hatte Blasen geworfen. Ich sah auf die Haut meiner Hände und erschauderte. Eine unbestimmte Zeit lang saß ich auf dem Boden und schlotterte und zitterte. Die ersten ein, zwei Minuten danach war mein Kopf vollständig leer. Mich hatte ganz einfach die Vorstellung überwältigt, wie unglaublich nah ich am Tod vorbeigeschrammt war.

Claudine hatte nicht nur höchstwahrscheinlich mein Leben gerettet, sondern mich auch vor so qualvollen Schmerzen bewahrt, dass ich wohl lieber gestorben wäre. Ich stand in ihrer Schuld und würde nie in der Lage sein, das wieder gutzumachen.

Womöglich war sie wirklich mein Schutzengel.

Ich stand auf und schüttelte mich. Dann griff ich nach dem Plastikwäschekorb und machte mich auf den Weg in mein neues Zuhause.