Kapitel 9

Dank Maxine hatte ich frisch gewaschene Sachen, die ich zur Arbeit anziehen konnte, aber ich musste mir noch bei Payless ein Paar Schuhe kaufen. Normalerweise gab ich für Schuhe etwas mehr Geld aus, da ich so viel auf den Beinen war, doch es blieb keine Zeit, um in das eine gute Schuhgeschäft in Clarice zu fahren oder bis nach Monroe in die Mall. Als ich ins Merlotte's kam, trat Sweetie Des Arts, den dünnen Körper mit einer weißen Kochschürze umwickelt, aus der Küche und umarmte mich. Sogar der Küchenjunge, der die Tische zurechtrückte, sagte, wie leid ihm das alles tue. Holly und Danielle, die gerade Schichtwechsel machten, klopften mir beide auf die Schulter und meinten, ab jetzt könnten die Dinge für mich ja nur noch besser laufen.

Arlene fragte, ob ich glaubte, dass der gut aussehende Dennis Pettibone wirklich vorbeikommen würde, und ich versicherte ihr, dass ich mir da ganz sicher sei.

»Ich denke, er ist beruflich viel unterwegs«, sinnierte sie nachdenklich. »Wo er wohl wohnt?«

»Ich habe seine Visitenkarte bekommen. Er wohnt in Shreveport. Oder vielmehr außerhalb von Shreveport; ja, jetzt, wo ich darüber nachdenke, fällt's mir wieder ein. Er sagte, da hat er sich eine kleine Farm gekauft.«

Arlenes Augen wurden ganz schmal. »Hört sich ja an, als ob ihr euch gut unterhalten hättet, Dennis und du.«

Ich wollte schon einwenden, dass der Brandexperte wohl doch ein bisschen zu alt für mich wäre. Aber weil Arlene jetzt bereits seit drei Jahren behauptete, sechsunddreißig zu sein, erschien mir das alles andere als taktvoll. »Er hat nur seinen Job gemacht und mich außerdem gefragt, wie lange ich schon mit dir zusammenarbeite und ob du Kinder hast.«

»Oh. Das hat er gefragt?« Arlene strahlte. »Na, denn.« Sie ging, um an ihren Tischen nach dem Rechten zu sehen, und es lag ein fröhlicher Schwung in ihren Schritten.

Ich machte mich an die Arbeit, brauchte für alles aber viel länger als sonst, weil ich ständig unterbrochen wurde. Ich wusste, dass bald eine andere Sensation im kleinen Bon Temps den Brand meines Hauses überflügeln würde. Und auch wenn ich nicht hoffte, dass irgendein anderer eine ähnliche Katastrophe erlitt, war ich doch jetzt schon froh, dann nicht mehr länger Gesprächsthema Nummer eins eines jeden Gastes zu sein.

Terry war heute nicht imstande, Dienst an der Bar zu machen, und so teilten Arlene und ich uns diese Aufgabe. Wenn ich viel zu tun hatte, kam ich wenigstens nicht so viel zum Nachdenken.

Obwohl ich von nur drei Stunden Schlaf zehrte, kam ich gut zurecht, bis Sam mich von dem Durchgang her rief, der zu seinem Büro und den Gästetoiletten führte.

Vor kurzem waren zwei Leute zu Sam an den Ecktisch getreten und hatten mit ihm geredet. Mir waren sie nur im Vorübergehen aufgefallen. Die Frau war um die sechzig, ziemlich rundlich und klein und ging am Stock. Der junge Mann in ihrer Begleitung hatte braunes Haar, eine scharf geschnittene Nase und dicke Augenbrauen. Er erinnerte mich an irgendjemanden, aber ich konnte die Einzelteile in meinem Kopf partout nicht zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Sam hatte sie nach hinten in sein Büro geführt.

»Sookie«, sagte Sam in gedämpftem Ton, »die Leute in meinem Büro möchten mit dir reden.«

»Wer sind sie?«

»Sie ist Jeff Marriots Mutter, und der Mann ist sein Zwillingsbruder.«

»Oh mein Gott.« Mir wurde gerade klar, dass der Mann mich an die Leiche erinnert hatte. »Warum wollen sie mit mir reden?«

»Sie sind der Meinung, dass er nie etwas mit der Bruderschaft zu tun hatte. Ihnen ist sein Tod ein einziges Rätsel.«

Zu sagen, dass mir vor dieser Begrüßung graute, ist noch milde ausgedrückt. »Aber warum wollen sie denn mit mir reden?«, fragte ich erneut mit kläglicher Stimme. Ich stand jetzt schon am Rande meiner emotionalen Belastungsgrenze.

»Sie möchten einfach ... Antworten. Sie trauern.«

»Ich auch«, entgegnete ich. »Um mein Zuhause.«

»Um ihren geliebten Sohn und Bruder.«

Ich starrte Sam an. »Warum sollte ich mit ihnen reden? Was hältst du von der Sache?«

»Du solltest dir anhören, was sie zu sagen haben«, antwortete Sam mit einer gewissen Entschiedenheit in der Stimme. Er würde mich nicht weiter drängen, und er würde mir keine weiteren Fragen beantworten. Die Entscheidung lag jetzt bei mir.

Weil ich Sam vertraute, nickte ich. »Ich rede nach der Arbeit mit ihnen«, sagte ich und hoffte im Stillen, dass sie bis dahin gegangen waren. Doch als meine Schicht zu Ende war, saßen die beiden immer noch in Sams Büro. Ich nahm meine Schürze ab, warf sie in den großen Mülleimer mit der Aufschrift »Schmutzige Wäsche« (und fragte mich zum hundertsten Mal, ob die Wäsche wohl schon mal irrtümlich auf der Müllkippe statt in der Waschmaschine gelandet war) und trottete ins Büro.

Jetzt, da wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, musterte ich die Marriots aufmerksamer. Mrs (nahm ich jedenfalls an) Marriot war in schlechter Verfassung. Ihre Haut war grau, und ihr ganzer Körper schien erschlafft. Ihre Brille war verschmiert, weil sie so viel geweint hatte, und in den Händen hielt sie feuchte zusammengeknüllte Taschentücher. Ihr Sohn war starr vor Schock. Er hatte seinen Zwillingsbruder verloren, und aus seinen Gedanken kam mir so großer Kummer entgegen, dass ich es kaum ertragen konnte.

»Vielen Dank, dass Sie mit uns reden.« Automatisch stand er vom Stuhl auf und reichte mir die Hand. »Ich bin Jay Marriot, und dies ist meine Mutter Justine.«

Diese Familie hatte ihren Lieblingsbuchstaben im Alphabet gefunden und war dabei geblieben.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Konnte ich ihnen mein Beileid über den Verlust ihres geliebten Sohnes und Bruders aussprechen, wenn derjenige versucht hatte, mich zu töten? Für diesen Fall schrieb die Etikette keine Regeln vor; da wäre sogar meine Großmutter ratlos gewesen.

»Miss - Ms - Stackhouse, haben Sie meinen Bruder vorher schon jemals gesehen?«

»Nein«, sagte ich. Sam nahm meine Hand. Da die Marriots auf den beiden einzigen Stühlen saßen, die das Büro zu bieten hatte, lehnten Sam und ich an der Vorderseite seines Schreibtisches. Hoffentlich bereitete ihm sein Bein keine Schmerzen.

»Warum hätte er Ihr Haus in Brand stecken sollen? Er war der Polizei noch nie aufgefallen, in keiner Hinsicht.« Jetzt hatte Justine zum ersten Mal das Wort ergriffen. Ihre Stimme klang heiser und erstickt von Tränen; und ein bittender Unterton lag darin. Sie flehte fast darum, dass ich die Anschuldigung gegen ihren Sohn Jeff nicht bestätigen möge.

»Das weiß ich auch nicht.«

»Könnten Sie uns erzählen, wie es dazu gekommen ist? Ich meine, zu seinem - Tod.«

Ich spürte, wie Wut in mir aufflackerte, weil ich verpflichtet war, sie zu bedauern - weil ich gezwungen war, feinfühlig zu sein und sie umsichtig zu behandeln. Wer war denn hier schließlich fast gestorben? Wer hatte einen Teil seines Zuhauses verloren? Wer stand vor einer finanziellen Krise, die sich nur durch einen Zufall nicht zu einer Katastrophe auswuchs? Ich kochte fast vor Wut. Sam ließ meine Hand los und legte den Arm um meine Schultern. Er spürte die Anspannung in meinem Körper, hoffte aber, ich würde dem Impuls zu einem Wutausbruch nicht nachgeben.

Ich klammerte mich an den besseren Teil meines Wesens, wenn auch nur noch mit den Fingerkuppen.

»Eine Freundin hat mich geweckt«, sagte ich. »Und als wir aus dem Haus draußen waren, sahen wir den Vampir, der bei meinem Nachbarn - auch ein Vampir - zu Besuch ist, neben der Leiche von Mr Marriot stehen. Ein Benzinkanister lag gleich neben dem... ganz in der Nähe. Die Ärztin, die ihn untersucht hat, sagte, dass er Benzin an den Händen hatte.«

»Wer hat ihn getötet?«, fragte die Mutter.

»Der Vampir.«

»Hat er ihn gebissen?«

»Nein, er... nein. Nicht gebissen.«

»Wie dann?« Jay ließ etwas von seiner eigenen Wut erkennen.

»Er hat ihm das Genick gebrochen, glaube ich.«

»Genau das haben wir auch im Büro des Sheriffs zu hören bekommen«, sagte Jay. »Aber wir wussten einfach nicht, ob sie uns da die Wahrheit gesagt haben.«

Du meine Güte.

Sweetie Des Arts steckte den Kopf zur Tür herein und bat Sam um den Schlüssel für das Vorratslager, weil sie ein Glas Mixed Pickles brauchte. Sie entschuldigte sich für die Unterbrechung. Arlene winkte mir zu, als sie den Flur hinunter auf die Tür für Angestellte zuging; einen Augenblick lang fragte ich mich, ob Dennis Pettibone wohl in die Bar gekommen war. Ich war so sehr in meine eigenen Probleme versunken gewesen, dass ich es gar nicht mitgekriegt hatte. Als die Außentür hinter ihr ins Schloss fiel, machte sich Schweigen in dem kleinen Raum breit.

»Warum war der Vampir überhaupt vor Ihrem Haus?«, fragte Jay ungeduldig. »Mitten in der Nacht?«

Ich sagte nicht zu ihm, dass ihn das gar nichts angehe.

Sams Hand strich über meinen Arm. »Zu der Zeit sind sie wach. Und er wohnt in dem einzigen Haus, das bei mir in der Nähe ist.« Das hatten wir auch der Polizei erzählt. »Er hatte wohl irgendwas vor meinem Haus gehört und wollte nachsehen.«

»Wir wissen nicht, wie Jeff dorthin gekommen ist«, sagte Justine. »Wo ist sein Wagen?«

»Ich weiß nicht.«

»Und in seiner Brieftasche fand sich so eine Mitgliedskarte?«

»Ja, eine Mitgliedskarte der Bruderschaft der Sonne«, erwiderte ich.

»Aber er hatte überhaupt nichts gegen Vampire«, protestierte Jay. »Wir sind Zwillinge. Ich hätte es gewusst, wenn er einen Hass auf irgendwas gehabt hätte. Das ergibt alles gar keinen Sinn.«

»Er hat einer Frau in der Bar einen falschen Namen und eine falsche Heimatstadt genannt«, hielt ich dagegen, so freundlich wie möglich.

»Na ja, er war auf der Durchreise«, sagte Jay. »Ich bin ein verheirateter Mann, aber Jeff ist geschieden. Ich sage das nicht gern in Gegenwart meiner Mutter, aber so etwas tun Männer nun mal: Sie nennen Frauen, die sie in Bars kennen lernen, falsche Namen und sie erzählen erfundene Geschichten.«

Das stimmte. Auch wenn im Merlotte's vor allem Leute aus der Umgebung verkehrten, hatte ich doch schon so manche Geschichte von Auswärtigen gehört, die zufällig vorbeigekommen waren. Und ich hatte sofort gemerkt, dass sie logen.

»Wo war die Brieftasche?«, fragte Justine. Sie sah wie ein alter geprügelter Hund zu mir auf, und mir stockte das Herz.

»In der Innentasche seines Jacketts«, antwortete ich.

Unvermittelt stand Jay auf. Dann begann er auf dem kleinen Raum, der ihm zur Verfügung stand, hin und her zu tigern. »Auch das«, sagte er mit etwas lebhafterer Stimme, »ist so gar nicht Jeffs Art. Er trug die Brieftasche immer hinten in der Jeans, genau wie ich. Wir stecken unsere Brieftaschen nie ins Jackett.«

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Sam.

»Ich will damit sagen, dass Jeff meiner Ansicht nach nicht der Täter ist«, sagte sein Zwillingsbruder. »Auch diese Leute an der Fina-Tankstelle können sich geirrt haben.«

»Jemand bei Fina sagt, dass er dort einen Kanister gekauft hat?«, fragte Sam.

Justine zuckte zusammen, die weiche Haut um ihr Kinn erzitterte.

Ich dachte kurz über die Vermutungen der Marriots nach, da klingelte das Telefon, und wir fuhren alle auf. Sam nahm den Hörer ab und sagte mit ruhiger Stimme: »Merlotte's.« Er hörte zu, sagte: »Mhm-mhm« und »Wirklich?« und schließlich »Ich erzähl's ihnen«, dann legte er auf.

»Der Wagen Ihres Bruders wurde gefunden«, sagte er zu Jay Marriot. »Er steht in einer kleinen Straße, die beinahe direkt gegenüber von Sookies Auffahrt liegt.«

Jetzt erlosch auch noch der letzte Hoffnungsschimmer auf den Gesichtern der kleinen Familie, und ich konnte nur noch Mitleid für sie empfinden. Justine schien seit dem Zeitpunkt, als sie die Bar betreten hatte, um zehn Jahre gealtert, und Jay wirkte, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen und gegessen. Sie gingen, ohne noch einmal das Wort an mich zu richten, Gott sei Dank. Den wenigen Sätzen, die sie miteinander wechselten, entnahm ich, dass sie sich Jeffs Wagen ansehen und fragen wollten, ob sie seine Habseligkeiten mitnehmen dürften. Ich fürchtete, da würden sie erneut auf taube Ohren stoßen.

Auf dieser kleinen Straße, die eigentlich nur ein Feldweg war, der zu einem Futterplatz für Rotwild führte, hatte auch Debbie Pelt ihren Wagen versteckt (das wusste ich von Eric), ehe sie zu meinem Haus kam, um mich zu töten. Vielleicht sollte ich da gleich ein Schild aufstellen: Parkplatz für nächtliche Attentäter, die es auf Sookie Stackhouse abgesehen haben.

Sam schwang sich mit seinen Krücken wieder ins Büro hinein. Er hatte die Marriots zur Tür gebracht. Jetzt stellte er sich neben mich - ich lehnte immer noch am Tisch tat die Krücken zur Seite und legte seinen Arm um mich. Ich drehte mich zu ihm um und schlang meine Arme um seine Taille. Er hielt mich fest, und eine wunderbare Minute lang hatte ich meinen Frieden gefunden. Die Hitze seines Körpers wärmte mich, und seine deutliche Zuneigung tat mir gut.

»Tut dein Bein weh?«, fragte ich, als er sich ruhelos bewegte.

»Mein Bein nicht«, erwiderte er.

Verwirrt sah ich auf, und unsere Blicke trafen sich. Seine Augen wirkten reuevoll. Und plötzlich verstand ich, was Sam weh tat, und lief rot an. Aber ich ließ ihn nicht los. Das wunderbare Gefühl, jemandem nahe zu sein - nein, Sam nahe zu sein, wollte ich nicht beenden. Weil ich mich nicht abwandte, näherte er seinen Mund langsam dem meinen, wobei er mir alle Möglichkeiten ließ, mich zurückzuziehen. Seine Lippen berührten meine, einmal, zweimal. Und dann begann er mich zu küssen, und die Wärme seiner Zunge füllte meinen Mund.

Das fühlte sich unglaublich gut an. Der Besuch der Familie Marriot hatte eher in die Krimiabteilung gehört, aber jetzt war ich eindeutig bei den Liebesromanen angekommen.

Seine Größe entsprach der meinen so perfekt, dass ich mich nicht nach oben strecken musste, um seinen Mund zu treffen. Sein Kuss wurde dringlicher. Seine Lippen wanderten meinen Hals hinab bis zu jener verletzlichen und empfindlichen Stelle, und sehr sanft nagte er mit den Zähnen daran.

Ich atmete schwer. Ich konnte einfach nicht anders. Würde ich die Gabe der Teleportation besitzen, hätte ich uns umgehend an einen sehr viel privateren Ort versetzt. Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, dass es irgendwie geschmacklos war, sich in dem chaotischen Büro einer Bar einfach seiner Lust hinzugeben. Aber die Hitze wurde nur immer intensiver, als er mich erneut küsste. Zwischen uns war immer irgendetwas gewesen, und jetzt wandelte sich die glimmende Asche zu einer lodernden Flamme.

Ich versuchte angestrengt, mich an einen vernünftigen Gedanken zu klammern. War dies die Lust der Überlebenden? Was war mit seinem Bein? Brauchte er all diese Knöpfe an seinem Hemd wirklich?

»Das ist nicht gut genug hier für dich«, sagte er und atmete selbst ziemlich schwer. Er lehnte sich zurück, griff nach seinen Krücken, doch dann zog er mich wieder an sich und küsste mich. »Sookie, ich will -«

»Was willst du?«, fragte eine kalte Stimme von der Tür her.

Ich wurde fast besinnungslos vor Schreck, Sam dagegen war fuchsteufelswild vor Wut. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er mich beiseite geschoben und sich auf den Eindringling geworfen.

Mein Herz pochte wie das eines aufgeschreckten Hasen, und ich legte eine Hand darauf, damit es mir auf keinen Fall aus der Brust sprang. Sams Überraschungsangriff hatte Bill zu Boden gestreckt. Er holte mit der Faust zu einem neuen Schlag aus, doch Bill nutzte sein Gewicht und seine größere Körperkraft, rollte Sam herum und saß schließlich auf ihm. Bills Fangzähne waren ausgefahren und seine Augen glühten.

»Stopp!«, schrie ich mit nur halblauter Stimme, weil ich fürchtete, die Gäste würden sonst angerannt kommen. Mit einer schnellen kleinen Bewegung griff ich mit beiden Händen in Bills weiches schwarzes Haar und zerrte seinen Kopf zurück. Im Eifer des Gefechts langte Bill hinter sich, erwischte meine Handgelenke und verdrehte sie. Ich bekam kaum Luft vor Schmerz. Meine Arme waren kurz davor, zu brechen, als Sam die Gelegenheit ergriff und Bill mit aller Kraft einen Kinnhaken versetzte. Gestaltwandler sind nicht so stark wie Werwölfe oder Vampire, aber sie können ziemlich harte Schläge austeilen, und Bill kippte zur Seite weg. Kurz darauf kam er wieder zur Besinnung. Er stand vom Boden auf und sah mich direkt an.

In meinen Augen standen vor Schmerz die Tränen, und ich riss sie ganz weit auf, fest entschlossen, nicht eine einzige Träne die Wange hinunterrollen zu lassen. Aber ich hätte schwören können, dass ich haargenau aussah wie jemand, der sich das Weinen unbedingt verbeißen wollte. Ich hielt meine Arme weit von mir gestreckt und fragte mich, wann dieser Schmerz bloß wieder aufhören würde.

»Weil dein Wagen verbrannt ist, wollte ich dich nach der Arbeit abholen«, sagte Bill, während seine Finger sanft über die Abdrücke auf meinen Unterarmen fuhren. »Ich schwöre, dass ich dir nur einen Gefallen tun wollte und dir nicht nachspioniert habe. Und ich schwöre auch, dass ich dir nie irgendwelche Schmerzen zufügen wollte.«

Das war eine ziemlich gute Entschuldigung, und ich war froh, dass er zuerst das Wort ergriffen hatte. Aber jetzt hatte ich nicht nur heftige Schmerzen, sondern war auch noch total blamiert. Bill hatte natürlich nicht wissen können, dass Tara mir einen Wagen geliehen hatte. Ich hätte ihm eine kurze Notiz oder eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen müssen, aber ich war von meinem abgebrannten Haus direkt zur Arbeit gefahren und hatte einfach nicht daran gedacht. Dafür kam mir jetzt ein anderer Gedanke, der mir sogleich hätte kommen sollen.

»Oh Sam, ist deinem Bein auch nichts passiert?« Ich eilte an Bill vorbei, um Sam auf die Füße zu helfen. Denn ich wusste, dass er lieber für immer auf dem Boden liegen geblieben wäre als Bills Hilfe anzunehmen. Schließlich hatte ich es mit einiger Mühe fertig gebracht, Sam aufrecht hinzustellen, und ich sah, wie er sich bemühte, alles Gewicht auf sein gesundes Bein zu verlagern. Ich konnte mir nicht mal vorstellen, wie er sich fühlen musste.

Sam war stinksauer, das erkannte ich ziemlich schnell. Er starrte an mir vorbei zu Bill hinüber. »Du platzt hier einfach so rein, ohne ein Wort, ohne anzuklopfen? Du erwartest hoffentlich nicht, dass ich mich für meine Reaktion auch noch entschuldige.« So wütend hatte ich ihn noch nie gesehen. Ich konnte sehen, wie peinlich es ihm war, dass er mich nicht effektiver beschützt hatte, und wie sehr es ihn demütigte, dass Bill schließlich die Oberhand gewonnen und mich darüber hinaus auch noch beinahe richtig verletzt hatte. Und nicht zuletzt hatte Sam mit den Nachwirkungen all der Hormone zu kämpfen, die gerade explosionsartig ausgeschüttet worden waren, als wir unterbrochen wurden.

»Oh nein. Das erwarte ich nicht.« Bills Stimme verlor noch etwas mehr an Temperatur, als er jetzt mit Sam sprach. Ich erwartete geradezu, dass sich an der Decke gleich Eiszapfen bildeten.

Wenn ich doch bloß ein paar tausend Meilen weit weg gewesen wäre. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich in diesem Augenblick die Möglichkeit vermisste, einfach hinauszugehen, ins eigene Auto zu steigen und ins eigene Zuhause zu fahren. Aber das war natürlich nicht möglich. Wenigstens stand mir ein Auto zur Verfügung, und das erzählte ich Bill jetzt endlich.

»Dann hätte ich mir ja gar keine Gedanken machen müssen, wie du hier wegkommst, und ihr beide hättet ungestört weitermachen können«, erwiderte er in einem absolut todbringenden Tonfall. »Wo willst du denn übernachten, wenn ich fragen darf? Ich wollte noch in den Laden gehen, um für dich etwas zu essen einzukaufen.«

Für Bill, der den Einkauf von Lebensmitteln hasste, wäre das wirklich ein enormer Einsatz gewesen, und er wollte sichergehen, dass ich davon auch erfuhr. (Natürlich war es genauso wahrscheinlich, dass er das jetzt nur deshalb sagte, damit ich mich so schuldig wie möglich fühlte.)

Ich überschlug kurz meine Möglichkeiten. Auch wenn nie so ganz klar war, worauf ich im Haus meines Bruders treffen würde, schien mir das doch die ungefährlichste Wahl zu sein. »Ich werde mir von zu Hause aus dem Bad noch mein Make-up holen und dann zu Jason fahren. Danke, dass du mich gestern Nacht aufgenommen hast, Bill. Du hast sicher Charles zur Arbeit gefahren, oder? Richte ihm doch aus, dass er gern in meinem Haus schlafen kann. Das, äh, Loch ist wohl so weit okay.«

»Sag's ihm selbst. Er ist ja hier«, entgegnete Bill in einem Ton, den ich nur als unleidlich charakterisieren kann. Bill hatte sich für den Abend wohl ein ganz anderes Szenario vorgestellt. Und er war gar nicht erfreut darüber, wie sich die Dinge jetzt entwickelten.

Sam litt unter so starken Schmerzen (ich konnte sie wie ein rotes Glühen um ihn schweben sehen), dass ich ihm den größten Gefallen tat, wenn ich ging, ehe er sie nicht mehr beherrschen konnte. »Wir sehen uns morgen, Sam«, sagte ich und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Er versuchte mich anzulächeln. Ich wagte nicht, ihm für den Weg zu seinem Wohnwagen meine Hilfe anzubieten, solange der Vampir da war, denn das hätte Sam in seinem Stolz gekränkt. Und der war ihm in diesem Moment wichtiger als sein verletztes Bein.

Charles stand bereits hinter der Bar und war gut beschäftigt. Als Bill ihm auch für den nächsten Tag Unterkunft anbot, entschied er sich lieber dafür als für das Versteck in meinem Haus, das er noch nicht kannte. »Wir müssen den Schlafplatz bei dir erst noch auf mögliche Schäden durch das Feuer untersuchen, Sookie«, sagte Charles sehr ernst.

Die Notwendigkeit sah ich ein, und ohne ein weiteres Wort an Bill stieg ich in den geliehenen Wagen und fuhr zu meinem Haus. Die Fenster hatten den ganzen Tag offen gestanden, und der Gestank war bereits weitestgehend entwichen. Das war doch mal eine erfreuliche Entwicklung. Dank dem professionellen Vorgehen der Feuerwehrleute beim Löschen und dem unprofessionellen Vorgehen des Brandstifters beim Feuerlegen würde der Hauptteil meines Hauses bald wieder bewohnbar sein. Ich hatte am späten Nachmittag vom Merlotte's aus den Bauunternehmer Randall Shurtliff angerufen, und er hatte zugesagt, am nächsten Tag mittags vorbeizukommen. Terry Bellefleur hatte mir versprochen, gleich morgens die Überreste meiner Küche abzureißen. Da wollte ich dabei sein, um zu retten, was noch zu retten war. Irgendwie kam es mir vor, als hätte ich inzwischen zwei Jobs.

Ganz plötzlich fühlte ich mich völlig ausgelaugt, und meine Arme schmerzten. Am nächsten Tag würde ich riesige Blutergüsse haben. Es war fast schon zu warm für lange Ärmel, aber ich würde welche tragen müssen. Ausgerüstet mit einer Taschenlampe aus Taras Handschuhfach, holte ich mir das Make-up aus dem Bad, nahm noch ein paar Kleider aus dem Schrank und warf alles in eine Sporttasche, die ich mal bei einer Tombola der Krebshilfe gewonnen hatte. Ich tat noch ein paar Taschenbücher dazu, die ich bis jetzt nicht gelesen hatte - Bücher, die ich in der Tausch-Abteilung der Leihbücherei ergattert hatte. Das brachte mich auf einen anderen Gedanken. Hatte ich noch irgendwelche Videofilme, die ich wieder zurückbringen musste? Nein. Ausgeliehene Bücher? Ja, bei einigen lief die Leihfrist bald ab, und die würde ich besser erst mal auslüften. Irgendwas anderes, das anderen Leuten gehörte? Zum Glück hatte ich Taras Kostüm schon in die Reinigung gebracht.

Es war sinnlos, die Fenster zuzumachen und abzuschließen, denn das Haus konnte jederzeit ganz einfach über die abgebrannte Küche betreten werden. Als ich aus der Vordertür trat, schloss ich hinter mir ab. Ich war bereits auf der Hummingbird Road, ehe mir klar wurde, wie absurd das war, und merkte auf der Fahrt zu Jason, dass ich lächelte - zum ersten Mal seit vielen, vielen Stunden.