Kapitel 15

Jason konnte lange genug aufrecht stehen, um zu duschen, und er erklärte, dass das die beste Dusche war, die er in seinem ganzen Leben genommen hatte. Als er sauber war und nach sämtlichen Duftnoten roch, die in meinem Badezimmer verfügbar waren, verhüllte er sich einigermaßen mit einem großen Handtuch, und ich betupfte ihn überall mit Desinfektionsmittel. Ich verbrauchte eine ganze Flasche für die vielen Bisswunden. Es schien, als heilten sie bereits, doch ich musste immerzu darüber nachdenken, was ich noch für ihn tun konnte. Er hatte heiße Schokolade getrunken, warmen Haferbrei gegessen (was ich ziemlich seltsam fand, doch er sagte, Felton hätte ihm nichts außer halbrohem Fleisch zu essen gegeben), er hatte die Schlafanzughose angezogen, die ich für Eric gekauft hatte (zu groß, doch der Tunnelzug im Bündchen war die Rettung), und ein ausgeleiertes altes T-Shirt von mir. Ein ums andere Mal befühlte er das Material, als wäre er ganz begeistert, endlich wieder etwas anzuhaben.

Mehr als alles andere schien Jason Wärme und Schlaf zu benötigen. Ich machte ihm das Bett in meinem alten Zimmer, und mit einem traurigen Blick auf den Schrank, den Eric unaufgeräumt zurückgelassen hatte, wünschte ich meinem Bruder eine gute Nacht. Er bat mich, das Licht in der Diele anzulassen und die Tür nur anzulehnen. Es fiel Jason nicht leicht, mich darum zu bitten, und so sagte ich kein Wort. Ich tat es einfach.

Sam saß in der Küche und trank heißen Tee. Er sah auf und lächelte mich an. »Wie geht's ihm?«

Ich sank auf meinen Stuhl. »Es geht ihm besser, als ich zu hoffen wagte«, sagte ich. »Wenn ich bedenke, dass er die ganze Zeit in diesem ungeheizten Schuppen gewesen ist und jeden Tag gebissen wurde.«

»Wie lange Felton ihn da wohl festgehalten hätte?«

»Bis zum Vollmond, schätze ich. Dann hätte er gewusst, ob sein Plan aufgegangen ist oder nicht.« Mir wurde ganz mulmig.

»Ich habe mal auf deinen Kalender gesehen. Bis dahin sind's noch zwei Wochen.«

»Gut. So hat Jason wenigstens Zeit, wieder zu Kräften zu kommen, ehe er mit dem nächsten Problem konfrontiert wird.« Einige Minuten lang hielt ich den Kopf in Händen. »Ich muss die Polizei anrufen.«

»Damit sie die Suche nach ihm einstellt?«

»Ja.«

»Hast du dir schon überlegt, was du erzählen willst? Hatte Jason irgendeine Idee?«

»Vielleicht, dass die Verwandten irgendeines Mädchens ihn entführt hatten?« Das stimmte ja sogar irgendwie.

»Die Polizisten werden wissen wollen, wo er gefangen gehalten wurde. Wenn er sich selbst befreit hat, wollen sie wissen, wie, und sie erwarten sicher, dass er ihnen weitere Details erzählen kann.«

Ich fragte mich, ob ich noch genug Grips hatte, um überhaupt einen Gedanken zu fassen. Unverwandt starrte ich auf den Tisch: da waren der vertraute Serviettenhalter, den meine Großmutter auf einer Handwerksmesse gekauft hatte, die Zuckerdose und die Salz- und Pfefferstreuer in Form eines Hahns und einer Henne. Irgendetwas war unter den Salzstreuer gesteckt worden, sah ich.

Es war ein Scheck über 50000 Dollar, unterschrieben von Eric Northman. Eric hatte mich nicht nur bezahlt, er hatte mir auch das größte Trinkgeld meiner Karriere gegeben.

»Oh«, sagte ich sehr langsam. »Oh Mannomann.« Ich betrachtete den Scheck noch eine Minute länger, um sicherzugehen, dass ich mich nicht verlesen hatte. Dann reichte ich ihn Sam über den Tisch hinüber.

»Wow. Die Bezahlung dafür, dass du Eric aufgenommen hast?« Sam sah mich an, und ich nickte. »Was willst du damit machen?«

»Zur Bank bringen, gleich morgen früh.«

Er lächelte. »Ich habe da eigentlich in etwas längeren Zeiträumen gedacht.«

»Es wird mich einfach beruhigen, Geld zu haben. Zu wissen, dass ...« Wie peinlich, mir rollten Tränen herunter. »... dass ich mir wenigstens nicht dauernd Sorgen machen muss.«

»Die letzte Zeit war ganz schön hart für dich, stimmt's?« Ich nickte, und Sam presste die Lippen aufeinander. »Du ...«, begann er, konnte dann aber seinen Satz nicht beenden.

»Danke, aber das kann ich nicht«, sagte ich entschieden. »Meine Großmutter hat immer gesagt, das ist der sicherste Weg, um eine Freundschaft kaputtzumachen.«

»Du könntest das Grundstück hier verkaufen, ein Haus in der Stadt kaufen, Nachbarn haben«, schlug Sam vor, als habe er mir das schon seit Monaten sagen wollen.

»Aus diesem Haus ausziehen?« In diesem Haus wohnten schon seit mehr als hundertfünfzig Jahren Mitglieder meiner Familie. Das machte es natürlich nicht zu einem Heiligtum oder so was, und es war auch immer wieder umgebaut oder modernisiert worden. Ich überlegte, wie es wohl wäre, in einem kleinen modernen Haus zu wohnen, mit ebenen Fußböden, einem Bad auf dem neuesten technischen Stand und einer praktischen Küche, die ganz viele Steckdosen hatte. Kein offen dastehender Heißwasserboiler. Der ganze Dachboden gut isoliert. Eine Garage!

Verwirrt von dieser Vorstellung, schluckte ich. »Ich werde drüber nachdenken.« Schon das kam mir vor wie ein Wagnis. »Jetzt kann ich dazu nicht viel sagen. Es wird schwierig genug, den morgigen Tag zu überstehen.«

All die Arbeitsstunden, die die Polizei in die Suche nach Jason hineingesteckt hatte, dachte ich. Und plötzlich fühlte ich mich so müde, dass ich nicht mal mehr den Versuch unternahm, mir eine Geschichte für den Sheriff und seine Leute auszudenken.

»Du gehörst ins Bett«, sagte Sam ganz richtig.

Ich konnte nur noch nicken. »Danke, Sam. Ich danke dir so sehr für alles.« Wir standen auf, und ich umarmte ihn. Es wurde eine längere Umarmung, als ich beabsichtigt hatte, denn sie fühlte sich ganz unerwartet beruhigend und angenehm an. »Gute Nacht«, sagte ich. »Fahr bitte vorsichtig.« Kurz dachte ich daran, ihm eins der Betten im oberen Stock anzubieten. Aber da oben war alles abgeschlossen, und es würde fürchterlich kalt sein. Und außerdem müsste ich erst noch ein Bett beziehen. Es war besser, wenn er die kurze Fahrt nach Hause machte, selbst durch den Schnee.

»Das tue ich«, erwiderte er und ließ mich los. »Ruf mich morgen früh an.«

»Herzlichen Dank noch mal.«

»Genug bedankt«, sagte er. Eric hatte ein paar Nägel in die Vordertür geschlagen, um sie geschlossen zu halten, bis ich einen Riegel anbringen konnte. Ich schloss die Hintertür hinter Sam ab und schaffte es kaum noch, mir die Zähne zu putzen und ein Nachthemd anzuziehen, ehe ich ins Bett kroch.

Als ich am nächsten Morgen aufgestanden war, sah ich zuerst nach meinem Bruder. Jason schlief noch tief, und jetzt bei Tageslicht erkannte ich nur zu deutlich die Spuren seiner Gefangenschaft. Sein Gesicht war voller Stoppeln. Sogar im Schlaf sah er älter aus. Überall hatte er blaue Flecken, und dabei sah ich nur sein Gesicht und seine Arme. Er öffnete die Augen, als ich mich auf die Bettkante setzte. Ohne sich zu bewegen, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Er hielt inne, als er bei meinem Gesicht angekommen war.

»Also hab' ich nicht geträumt«, sagte er. Seine Stimme klang heiser. »Du und Sam, ihr habt mich geholt. Sie haben mich gehen lassen. Der Panther hat mich gehen lassen.«

»Ja.«

»Was ist denn passiert, während ich weg war?«, fragte er als Nächstes. »Warte, kann ich ins Bad gehen und mir eine Tasse Kaffee holen, bevor du mir das erzählst?«

Es gefiel mir, dass er fragte, statt mich einfach vor vollendete Tatsachen zu stellen (ein Charakterzug von Jason, das mit den vollendeten Tatsachen), und erfreut sagte ich ja und holte auch gleich noch freiwillig den Kaffee. Jason war ziemlich froh, dass er mit seinem Becher Kaffee wieder ins Bett kriechen konnte. Dann redeten wir.

Ich erzählte ihm von Catfishs Anruf, dem Hin und Her mit der Polizei, von der Suchaktion im Wald und meiner Beschlagnahmung seiner Benelli-Schrotflinte, die er sofort sehen wollte.

»Du hast sie abgefeuert!«, sagte er empört, nachdem er sie begutachtet hatte.

Ich starrte ihn bloß an.

Er sah zuerst weg. »Hat wahrscheinlich funktioniert, wie eine Schrotflinte das tun sollte«, sagte er langsam. »Denn du siehst ja ganz okay aus, so wie du dasitzt.«

»Danke, und frag nie wieder danach«, sagte ich.

Er nickte.

»Nun müssen wir uns erst mal eine Geschichte für die Polizei ausdenken.«

»Die Wahrheit können wir ihnen wohl nicht erzählen?«

»Na klar, Jason, erzählen wir ihnen doch, dass in Hotshot lauter Werpanther leben, und weil du mit einer von ihnen geschlafen hast, wollte ihr Freund dich auch zum Werpanther machen, damit sie dich ihm nicht vorzieht. Deswegen hat er sich jeden Tag in einen Panther verwandelt und dich gebissen.«

Eine lange Pause trat ein.

»Ich seh' schon Andy Bellefleurs Gesicht vor mir«, sagte Jason ziemlich fügsam. »Der ist immer noch nicht drüber weg, dass ich unschuldig war an diesen zwei Mädchenmorden letztes Jahr. Der würde mich liebend gern einweisen lassen. Catfish müsste mich entlassen, und ich glaub' kaum, dass es mir im Irrenhaus wirklich gefallen könnte.«

»Tja, deine Chancen auf Liebesaffären dürften da sicher eher begrenzt sein.«

»Crystal - Herrgott, dieses Mädchen! Du hast mich noch gewarnt. Aber ich war so hin und weg von ihr. Und jetzt stellt sich raus, dass sie eine... du weißt schon.«

»Oh, um Himmels willen, Jason, sie ist eine Gestaltwandlerin. Tu doch nicht so, als ob sie eine Kreatur aus einem Horrorfilm wäre oder so was.«

»Sook, du weißt eine Menge Zeug, von dem wir keine Ahnung haben, oder? So langsam fang' ich an zu kapieren.«

»Ja, das stimmt wohl.«

»Vampire sind nicht die Einzigen.«

»Richtig.«

»Da gibt's noch jede Menge andere.«

»Ich habe versucht, es dir zu erzählen.«

»Ich hab' ja geglaubt, was du gesagt hast, aber ich hab's einfach nicht begriffen. Einige Leute, die ich kenne - ich meine, außer Crystal sind nicht immer, äh, Leute, hm?«

»Stimmt.«

»Wie viele denn etwa?«

Ich zählte die Zweigestaltigen, die ich in der Bar gesehen hatte: Sam, Alcide, die kleine Werfüchsin, die vor zwei Wochen mal neben Jason und Hoyt gestanden hatte... »Mindestens drei«, sagte ich.

»Woher weißt du das alles?«

Ich starrte ihn bloß an.

»Okay«, sagte er nach einer ganzen Weile. »Ich will's gar nicht wissen.«

»Und jetzt auch du«, fügte ich sanft hinzu.

»Bist du sicher?« »Nein, und wir werden es auch erst in zwei Wochen sicher wissen«, sagte ich. »Aber Calvin wird für dich da sein, wenn du Hilfe brauchst.«

»Von denen nehm' ich keine Hilfe an!« Jasons Augen funkelten, und er wirkte richtig fiebrig.

»Du hast keine Wahl«, erklärte ich ihm und versuchte, ihn nicht anzufahren. »Calvin wusste nicht, dass du in dem Schuppen warst. Er ist okay. Aber darüber können wir später immer noch reden. Jetzt müssen wir erst mal klären, was wir der Polizei erzählen.«

Mindestens eine Stunde lang gingen wir unsere Geschichten wieder und wieder durch und versuchten, Fäden der Wahrheit zu finden, die das ganze Gewebe zusammenhielten.

Schließlich rief ich bei der Polizei an. Die Polizistin vom Telefondienst, die die Tagesschicht hatte, schien meine Stimme kaum noch hören zu können, blieb aber trotzdem nett. »Sookie, wie ich gestern schon sagte, wir rufen Sie an, wenn wir etwas über Jason herausfinden.« Sie war redlich bemüht, ihre Verzweiflung mit einem besänftigenden Tonfall zu kaschieren.

»Ich habe ihn«, sagte ich.

»Sie - was?« Der Schrei war laut und deutlich zu vernehmen. Selbst Jason zuckte zusammen.

»Ich habe ihn.«

»Ich schicke sofort jemanden zu Ihnen.«

»Gut«, sagte ich, auch wenn ich es nicht so meinte.

Ich besaß die Weitsicht, noch die Nägel aus der Vordertür zu ziehen, ehe die Polizei ankam. Auf die Fragen, was denn da passiert wäre, konnte ich verzichten. Jason hatte mich komisch angesehen, als ich Hammer und Zange herausholte, aber kein Wort gesagt.

»Wo ist dein Auto?«, fragte Andy Bellefleur als Erstes.

»Beim Merlotte's.«

»Warum?«

»Kann ich das dir und Alcee Beck nicht zusammen erzählen?« Alcee Beck kam eben die vorderen Stufen herauf. Er und Andy betraten das Haus gemeinsam, und als sie Jason in eine Decke gewickelt auf meinem Sofa liegen sahen, blieben sie abrupt stehen. Da wusste ich, dass sie nicht erwartet hatten, Jason lebend wiederzusehen.

»Schön, dass du gesund und munter bist, Mann«, sagte Andy und schüttelte Jason die Hand. Alcee Beck folgte ihm auf dem Fuße. Sie setzten sich, Andy in Großmutters Lehnsessel und Alcee in den Sessel, den ich gewöhnlich benutzte. Ich selbst setzte mich ans Fußende des Sofas zu Jason. »Wir freuen uns, dass du noch unter den Lebenden weilst, aber wir müssen wissen, wo du warst und was passiert ist.«

»Ich habe keine Ahnung.«

Und dabei blieb er.

Es hatte einfach keine glaubwürdige Geschichte gegeben, die Jason erzählen konnte und die alles erklärt hätte: seine Abwesenheit, seinen miserablen körperlichen Zustand, die Bisswunden, seine plötzliche Wiederkehr. Die einzige vernünftige Lösung bestand darin, von den letzten Erinnerungen zu erzählen, die er hatte: dass er draußen ein komisches Geräusch hörte, als Crystal bei ihm war, und dass er hinausging, um nachzusehen, und dann einen Schlag auf den Kopf erhielt. Und er hatte keine weiteren Erinnerungen bis zu dem Zeitpunkt, als er gestern Nacht vor meinem Haus aus einem Fahrzeug gestoßen wurde und hart auf dem Boden aufschlug. Ich hatte ihn gefunden, nachdem Sam mich nach der Arbeit nach Hause brachte, denn ich wollte bei dem Schnee lieber nicht selbst fahren.

Natürlich hatten wir das vorher mit Sam abgesprochen. Etwas widerwillig hatte er zugestimmt, dass es sicher das Beste wäre, so was zu erzählen. Ich wusste, dass Sam nicht gern log, ich ja auch nicht, aber in dieses ganz spezielle Wespennest wollte keiner von uns stechen.

Die Schönheit dieser Geschichte lag in ihrer Schlichtheit. Und solange Jason der Versuchung widerstand, sie auszuschmücken, war er auf der sicheren Seite. Ich wusste, das würde hart für ihn werden, denn Jason redete sehr gern, und er gab gern ein bisschen an. Doch solange ich dort saß und ihn an die Konsequenzen gemahnte, gelang es meinem Bruder, sich zurückzuhalten. Dann stand ich auf, um ihm noch eine Tasse Kaffee zu holen - die beiden Gesetzeshüter wollten keinen mehr und als ich zurück ins Wohnzimmer kam, sagte Jason gerade, dass er sich irgendwie an einen kalten dunklen Raum zu erinnern meinte. Ich warf ihm einen unmissverständlichen Blick zu, und er sagte: »Aber ich bin im Moment so konfus, das kann ich genauso gut geträumt haben.«

Andy sah von Jason zu mir, er wurde wütender und wütender. »Ich verstehe euch beide einfach nicht«, sagte er. Seine Stimme war fast ein Knurren. »Sookie, du hast dir doch Sorgen um ihn gemacht. Das bilde ich mir doch nicht ein, oder?«

»Nein, und ich bin so froh, ihn wiederzuhaben.« Ich klopfte meinem Bruder unter der Decke auf die Füße.

»Und du, du wolltest nicht da sein, wo immer du auch warst, richtig? Du konntest nicht arbeiten, die Suche nach dir hat Tausende Dollar aus dem Budget des Gemeinwesens verschlungen, und du hast das Leben von Hunderten Leuten auf den Kopf gestellt. Und jetzt sitzt du hier und lügst uns an!« Andy schrie fast, als er den letzten Satz sagte. »Noch dazu taucht in derselben Nacht wie du dieser vermisste Vampir wieder auf und ruft die Polizei in Shreveport an. Und was erzählt er? Er hat unter Gedächtnisverlust gelitten, genau wie du! Außerdem gab es in Shreveport einen großen Brand mit einer Menge Leichen! Und du versuchst uns weiszumachen, dass es da keine Verbindung gibt!«

Jason und ich starrten uns verwundert an. Es gab tatsächlich keine Verbindung, nicht zwischen Jason und Eric. Bisher war mir noch gar nicht aufgefallen, wie merkwürdig das wirken musste.

»Welcher Vampir?«, fragte Jason. Das klang so echt, ich glaubte ihm fast selbst.

»Gehen wir, Alcee«, sagte Andy. Er klappte sein Notizbuch zu. Seinen Stift steckte er mit einem so energischen Ruck wieder in die Brusttasche seines Hemdes, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn sie abgerissen wäre. »Dieser Mistkerl wird uns sowieso nicht die Wahrheit erzählen.«

»Glaubt ihr, ich würde sie euch nicht erzählen, wenn ich nur könnte?«, fragte Jason. »Glaubt ihr, ich würde den, der mir das angetan hat, nicht gern in die Finger kriegen?« Er klang absolut und hundertprozentig aufrichtig, denn er war es. Die beiden Polizisten wurden in ihren Zweifeln erschüttert, vor allem Alcee Beck. Dennoch waren sie nicht zufrieden mit uns beiden, als sie gingen. Das tat mir wirklich leid, doch da war nun mal nichts zu machen.

Später kam Arlene mich abholen, damit ich mein Auto vom Merlotte's zurückfahren konnte. Sie schloss Jason fest in die Arme. »Du hast deiner Schwester einen ziemlichen Schrecken eingejagt, du Gauner«, sagte sie mit gespielter Strenge. »Tu Sookie so was ja nie wieder an.«

»Ich werde mich bemühen«, erwiderte Jason mit einem Lächeln, das schon ganz gut an seinen alten spitzbübischen Charme erinnerte. »Sie ist wirklich eine klasse Schwester.«

»Verdammt wahr, und eine gute Krankenschwester noch dazu«, sagte ich leicht säuerlich. »Wenn ich mein Auto geholt habe, könnte ich dich doch gleich nach Hause fahren, großer Bruder.«

Einen Moment sah Jason verschreckt drein. Allein war er noch nie gern gewesen, und nach den einsamen Stunden in dem Schuppen mochte es ihm noch schwerer fallen.

»Wetten, dass überall in Bon Temps die Mädels schon fleißig Essen vorbereiten, um dir was vorbeizubringen, jetzt, wo du wieder da bist«, sagte Arlene, und Jasons Miene hellte sich merklich auf. »Vor allem, seit ich jedem erzählt habe, was für ein armer Invalide du bist.«

»Danke, Arlene«, sagte Jason, der immer mehr seine alte Form wiedererlangte.

Auf dem Weg in die Stadt bedankte ich mich auch bei ihr. »Es war wirklich nett von dir, ihn so aufzumuntern. Keine Ahnung, was er alles durchgemacht hat, aber es wird sicher hart werden für ihn, darüber hinwegzukommen.«

»Schätzchen, mach dir mal über Jason keine Sorgen. Der ist der klassische Überlebende. Ich frag' mich sowieso, warum er nicht längst schon mal bei dieser Fernsehshow mitgemacht hat.«

Wir lachten die ganze Fahrt in die Stadt über die Idee, eine Folge von >Überleben im Camp< in Bon Temps zu inszenieren.

»Mit den Wildschweinen im Wald und dieser Pantherspur könnten die doch bestimmt was Spannendes auf die Beine stellen, Titel: >Überleben im Camp Bon Temps<«, sagte Arlene. »Tack und ich würden uns jedenfalls scheckig lachen.«

Das bot mir einen guten Einstieg, um sie ein bisschen mit Tack aufzuziehen, was ihr viel Spaß machte. Und alles in allem munterte sie mich genauso sehr auf wie Jason. So etwas konnte Arlene einfach.

Im Vorratslager vom Merlotte's unterhielt ich mich kurz mit Sam. Andy und Alcee waren bereits bei ihm gewesen und hatten überprüft, ob seine Geschichte mit meiner übereinstimmte.

Als ich mich erneut bedanken wollte, ließ er mich nicht zu Wort kommen.

Dann fuhr ich Jason nach Hause, obwohl er unüberhörbar andeutete, dass er lieber noch eine weitere Nacht bei mir geblieben wäre. Ich nahm die Benelli mit und bat ihn, sie unbedingt noch am selben Abend zu reinigen. Das versprach er mir, und als er mich ansah, hätte ich schwören können, dass ihm die Frage auf der Zunge lag, warum ich sie benutzt hatte. Aber er fragte nicht. Auch Jason hatte in den letzten Tagen ein paar Dinge dazugelernt.

Ich hatte wieder die Spätschicht, und damit würde mir zu Hause noch ein wenig Zeit bleiben, ehe ich zur Arbeit fahren musste. Das waren doch gute Aussichten. Auf der Fahrt zurück zu meinem Haus sah ich nirgends am Straßenrand rennende Vampire, und zwei ganze Stunden lang wurde ich von Anrufen und sonstigen Katastrophen verschont. Ich konnte beide Betten neu beziehen, die Wäsche aufhängen, die Küche fegen und den Schrank so aufräumen, dass die Falltür zum Versteck abgedeckt war, ehe es an meiner Vordertür klopfte.

Ich wusste schon, wer da kam. Draußen war es stockdunkel, und tatsächlich, auf der Veranda stand Eric.

Mit nicht allzu glücklicher Miene sah er mich an. »Ich bin beunruhigt«, sagte er ohne lange Vorrede.

»Na, dann lasse ich doch sofort alles stehen und liegen, um dir zu helfen«, sagte ich und ging gleich zum Angriff über.

Er zog eine Augenbraue hoch. »Ich werde höflich sein und fragen, ob ich hereinkommen darf.« Ich hatte seine Erlaubnis, mein Haus zu betreten, nicht widerrufen, aber er wollte nicht einfach so hereinplatzen. Wie taktvoll.

»Ja, das darfst du.« Ich trat zur Seite.

»Hallow ist tot, und vorher wurde sie gezwungen, den Fluch über mich aufzuheben.«

»Da hat Pam gute Arbeit geleistet.«

Er nickte. »Entweder Hallow oder ich«, sagte er. »Und da bin ich mir lieber.«

»Warum hatte sie sich ausgerechnet Shreveport vorgenommen?«

»Ihre Eltern saßen in Shreveport im Gefängnis. Sie waren beide auch Hexen und haben Betrügereien begangen, ihre magischen Kräfte missbraucht, um ihre Opfer von ihrer Aufrichtigkeit zu überzeugen. In Shreveport hat das Glück sie dann verlassen. Die Gemeinde der Supras hat sich rundheraus geweigert, die alten Stonebrooks aus dem Gefängnis zu holen. Ihre Mutter geriet mit einer Voodoopriesterin in Streit, als sie eingekerkert war, und ihr Vater rannte während einer Schlägerei in einem Waschraum in ein Messer.«

»Das ist natürlich ein Grund, sich die Supras von Shreveport vorzuknöpfen.« »Die anderen haben mir erzählt, dass ich mehrere Nächte lang hier war.« Eric hatte beschlossen, das Thema zu wechseln.

»Ja«, sagte ich und versuchte, freundlich interessiert an dem zu wirken, was er zu sagen hatte.

»Und in der ganzen Zeit haben wir nie...«

Ich tat nicht, als würde ich ihn missverstehen.

»Eric, für wie wahrscheinlich hältst du das?«, fragte ich.

Er hatte sich nicht hingesetzt und trat jetzt näher an mich heran, als müsste er mich nur intensiv genug ansehen, um die Wahrheit herauszufinden. Es wäre so leicht gewesen, ihm noch näher zu kommen.

»Ich weiß es einfach nicht«, sagte er. »Und das bekümmert mich.«

Ich lächelte ihn an. »Freust du dich, wieder arbeiten zu können?«

»Ja. Aber Pam hat sich in meiner Abwesenheit hervorragend um alles gekümmert. Ich schicke jede Menge Blumen ins Krankenhaus. Für eine Belinda und eine Werwolf-Frau namens Maria-Comet oder so ähnlich.«

»Maria-Star Cooper. Mir hast du keine geschickt«, bemerkte ich spitz.

»Nein, aber für dich habe ich etwas Sinnvolleres unter den Salzstreuer gesteckt«, sagte er gereizt. »Vergiss nicht, es zu versteuern. Und wie ich dich kenne, wirst du deinem Bruder etwas abgeben. Ich habe gehört, er ist wieder da.«

»Ja«, erwiderte ich knapp. Mir war klar, dass ich immer mehr in Gefahr geriet, mit allem herauszuplatzen, und dass es besser war, wenn er bald wieder ging. Ich hatte Jason so gute Ratschläge erteilt, den Mund zu halten, fand es nun aber ganz schön schwierig, sie selbst zu befolgen. »Und?«

»Es wird nicht lange reichen.«

Eric schien keine Ahnung zu haben, wie viel Geld fünfzigtausend Dollar nach meinen Maßstäben waren. »Worauf willst du eigentlich hinaus?«

»Wie kommt es, dass ich an meinem Mantelärmel ein paar Spritzer Hirnmasse gefunden habe?«

Ich spürte, wie mir alles Blut aus dem Kopf wich, so als stünde ich kurz vor einer Ohnmacht. Und darin saß ich auf dem Sofa und Eric saß neben mir. Das war das Nächste, woran ich mich erinnerte.

»Ich fürchte, es gibt da einiges, was du mir nicht erzählst, Sookie, meine Liebe«, sagte er. Seine Stimme klang sehr sanft.

Die Versuchung überwältigte mich fast.

Doch ich dachte an die Macht, die Eric dann über mich haben würde, noch größere Macht als jetzt schon. Er würde wissen, dass ich mit ihm geschlafen hatte, und er würde wissen, dass ich eine Frau getötet hatte und er der einzige Zeuge gewesen war. Er würde wissen, dass nicht nur er mir sein Leben verdankte (wahrscheinlich jedenfalls), sondern dass ich ihm vor allem auch meins verdankte.

»Ich mochte dich sehr viel lieber, als du dich nicht erinnern konntest, wer du bist«, entgegnete ich und wusste, dass ich an diesem Stück der Wahrheit festhalten und von nun an schweigen musste.

»Harte Worte«, sagte er, und fast nahm ich ihm ab, dass er wirklich verletzt war.

Zu meinem Glück kam in diesem Augenblick noch jemand an meine Tür. Das Klopfen war laut und gebieterisch und versetzte mir einen Schreck.

Die Besucherin war Amanda, die unverschämte rothaarige Werwolf-Frau aus Shreveport. »Ich bin in offiziellem Auftrag hier und werde heute höflich sein«, versicherte sie mir.

Na, das wäre doch mal eine nette Abwechslung.

Sie nickte Eric zu und sagte stichelnd: »Schön, dass Sie wieder richtig im Kopf sind, Vampir.« Da waren die Werwölfe und die Vampire von Shreveport also schon wieder zu ihren alten Beziehungen zurückgekehrt, dachte ich.

»Freut mich auch, Sie zu sehen, Amanda«, sagte ich.

»Klar«, erwiderte sie ganz so, als wäre es ihr vollkommen egal. »Miss Stackhouse, wir stellen Nachforschungen für die Gestaltwandler aus Jackson an.«

Oh, nein. »Ach ja? Wollen Sie sich nicht setzen? Eric wollte sowieso gerade gehen.«

»Nein, ich bleibe gern noch und höre mir Amandas Fragen an«, entgegnete Eric mit strahlendem Lächeln.

Amanda sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Verdammt noch mal, dagegen konnte ich überhaupt nichts tun.

»Oh, selbstverständlich, bleib ruhig da«, sagte ich. »Setzen Sie sich, bitte, Amanda. Es tut mir leid, aber viel Zeit habe ich nicht, ich muss zur Arbeit.«

»Dann komme ich gleich zur Sache«, sagte Amanda. »Vor zwei Nächten ist die Frau, von der Alcide sich losgesagt hat - diese Gestaltwandlerin aus Jackson, die mit der idiotischen Frisur...?«

Ich nickte. Eric sah verständnislos drein. Das würde sich schon in einer Minute ändern.

»Debbie«, erinnerte mich die Werwolf-Frau. »Debbie Pelt.«

Erics Augen wurden größer. Den Namen kannte er. Er begann zu lächeln. »Alcide hat sich von ihr losgesagt?«

»Sie haben doch danebengesessen«, fuhr Amanda ihn an. »Oh, warten Sie, das hatte ich vergessen. Da standen Sie ja noch unter einem Fluch

Es bereitete ihr höllische Freude, das auszusprechen.

»Nun, wie auch immer, Debbie ist nicht nach Jackson zurückgekehrt. Ihre Familie macht sich Sorgen, vor allem seit sie wissen, dass Alcide sich von ihr losgesagt hat. Sie fürchten, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte.«

»Und warum glauben Sie, Debbie hätte mit mir gesprochen?«

Amanda verzog das Gesicht. »Nun ja, eigentlich glaube ich auch, sie hätte eher Glas gefressen, als noch mal mit Ihnen zu sprechen. Doch wir sind verpflichtet, jeden zu befragen, der anwesend war.«

Es war also reine Routine. Sie hatten mich nicht gezielt herausgepickt. Ich spürte, wie ich mich entspannte. Nur leider konnte auch Eric das spüren. Ich hatte sein Blut in mir, bestimmte Dinge über mich wusste er einfach. Er stand auf und ging in die Küche hinüber. Ich fragte mich, was er dort tat.

»Ich habe sie seit jener Nacht nicht wieder gesehen«, sagte ich, und das war die Wahrheit, denn ich hatte ja keine bestimmte Uhrzeit genannt. »Ich habe keine Ahnung, wo sie jetzt ist.« Das entsprach nun wirklich der Wahrheit.

»Keiner hat Debbie mehr gesehen, nachdem sie den Schauplatz des Kampfs verlassen hat. Sie ist in ihrem eigenen Auto weggefahren«, erzählte Amanda.

Eric schlenderte ins Wohnzimmer zurück. Was würde jetzt kommen?

»Wurde ihr Auto irgendwo gesehen?«, fragte Eric.

Er wusste ja nicht, dass er derjenige war, der es entsorgt hatte.

»Nein, mit Haut und Haar verschwunden«, sagte Amanda, eine seltsame Metapher für ein Auto. »Sie ist bestimmt nur irgendwo untergetaucht, um ihre Wut und die Demütigung zu verdauen. Diese Lossagung, so was ist ziemlich fürchterlich. Es ist schon Jahre her, seit ich diese Worte das letzte Mal hörte.«

»Ihre Familie glaubt das nicht? Dass sie irgendwohin verschwunden ist, um, äh, nachzudenken?«

»Sie fürchten, sie hat sich etwas angetan.« Amanda schnaubte verächtlich. Wir tauschten Blicke und waren vollkommen einer Meinung über die Wahrscheinlichkeit von Debbies Selbstmord. »Etwas so Angemessenes würde sie nie tun«, sagte Amanda, die den Nerv besaß, laut auszusprechen, was ich bloß zu denken wagte.

»Wie nimmt Alcide es denn auf?«, fragte ich besorgt.

»Er kann sich schlecht an der Suche beteiligen«, erklärte sie, »weil er sich ja von ihr losgesagt hat. Er tut, als ob es ihm egal wäre. Soweit ich weiß, ruft der Colonel ihn regelmäßig an und hält ihn auf dem Laufenden. Aber da gibt's bislang ja nichts.« Amanda erhob sich, und ich stand auf, um sie zur Tür zu bringen. »Zur Zeit haben Vermisstenmeldungen Hochsaison«, sagte sie. »Aber mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr Bruder wieder da ist, und wie's aussieht, hat auch Eric seine normale Persönlichkeit zurückerhalten.« Sie warf ihm einen Blick zu, der ihm deutlich zu verstehen gab, wie wenig sie diese normale Persönlichkeit schätzte. »Vielleicht taucht ja auch Debbie einfach wieder auf. Tut mir leid, dass ich Sie stören musste.«

»Das ist schon in Ordnung. Viel Glück«, sagte ich, was unter den gegebenen Umständen natürlich völlig sinnlos war. Die Tür schloss sich hinter ihr, und ich wünschte, ich könnte auch einfach hinausgehen, in mein Auto steigen und zur Arbeit fahren.

Ich zwang mich, mich umzudrehen. Eric war aufgestanden.

»Gehst du?«, fragte ich und konnte nicht verhindern, dass ich überrascht und erleichtert zugleich klang.

»Ja, du musst doch zur Arbeit, hast du gesagt«, erwiderte er freundlich.

»Stimmt.«

»Zieh am besten die Jacke an, die eigentlich zu leicht ist für dieses Wetter«, riet er mir. »Dein Mantel ist ja immer noch in ziemlich miserablem Zustand.«

Ich hatte ihn kalt mit der Waschmaschine gewaschen, aber wohl doch nicht gut genug geprüft, ob auch wirklich alles rausgegangen war. Das hatte Eric also getan, nach meinem Mantel gesucht. Und ihn auf der hinteren Veranda aufgehängt gefunden. Und ihn untersucht.

»Also eigentlich«, sagte Eric, als er zur Vordertür ging, »würde ich ihn wegwerfen. Oder besser verbrennen.«

Und damit ging er und zog die Tür sehr leise hinter sich zu.

Ich war sicher, so sicher, wie ich meinen Namen kannte, dass er mir morgen einen neuen Mantel schicken würde, in einer großen extravaganten Schachtel, mit einer großen Schleife darum. Er würde die richtige Größe haben, er würde von einer Topmarke stammen, und er würde warm sein.

Er war preiselbeerrot, mit ausknöpfbarem Innenfutter, abnehmbarer Kapuze und Schildpattknöpfen.