Kapitel 12

»Wer sind Sie?«, fragte eine dünne Stimme.

Da sie mir mit einer Hand den Mund zuhielt und mit der anderen ein Messer an die Kehle, konnte ich nicht antworten. Schon in der nächsten Sekunde schien sie das begriffen zu haben, denn sie sagte: »Wir gehen rein« und stieß mich vor sich her auf die Rückseite des Gebäudes zu.

Nicht mit mir. Wenn sie eine der Hexen aus dem Hexenzirkel gewesen wäre, eine der bluttrinkenden Hexen, wäre ich damit wohl nicht durchgekommen. Doch sie war bloß eine einfache Hexe alten Schlags, und sie hatte längst nicht so oft wie ich gesehen, wie Sam in der Bar eine Rauferei beendete. Mit beiden Händen griff ich nach dem Gelenk ihrer Hand, in der sie das Messer hielt, und verdrehte es so stark wie möglich, während ich mich mit der ganzen Wucht meines Körpers gegen sie warf. Sie fiel auf den dreckigen kalten Fußweg, und ich landete genau auf ihr und schlug ihre Hand gegen den harten Asphalt, bis sie das Messer losließ. Sie schluchzte laut, und ihre Willenskraft erlahmte.

»Was bist du für ein lausiger Wachposten«, sagte ich sehr leise zu Holly.

»Sookie?« Hollys große Augen spähten unter einer Strickmütze hervor. Sie war für ihre nächtliche Aufgabe nützlich und praktisch gekleidet, trug aber dennoch ihren hellrosa Lippenstift.

»Was zum Teufel tust du hier?«

»Sie haben mir gedroht, sich meinen Jungen zu schnappen, wenn ich ihnen nicht helfe.«

Mir wurde übel. »Seit wann hilfst du ihnen? Schon als ich zu dir nach Hause kam und dich um Hilfe bat? Seit wann?« Ich schüttelte sie, so stark ich konnte.

»Als sie mit ihrem Bruder ins Merlotte's kam, wusste sie sofort, dass noch eine andere Hexe da ist. Und nachdem sie mit Sam und dir gesprochen hatte, wusste sie auch, dass ihr keine Hexen seid. Hallow weiß alles. Spätnachts kam sie dann mit Mark in mein Apartment. Die beiden hatten einen Kampf hinter sich und waren völlig verdreckt und wütend. Mark hat mich festgehalten, während Hallow auf mich einschlug. Das hat ihr Spaß gemacht. Dann sah sie das Bild von meinem Sohn. Sie nahm es und drohte, sie könnte auch aus großer Entfernung, selbst von Shreveport aus, einen Fluch über ihn aussprechen - und dann läuft er vor ein Auto oder er lädt das Gewehr seines Vaters ...« Holly weinte. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Selbst mir wurde schlecht bei dem Gedanken, und es ging nicht mal um mein eigenes Kind. »Ich musste ihr helfen«, wimmerte Holly.

»Gibt's da drin noch andere wie dich?«

»Die gezwungen wurden? Ein paar.«

Das ließ einige Gedanken, die ich gehört hatte, verständlicher erscheinen.

»Und Jason? Ist er auch da drin?« Obwohl ich mir alle drei männlichen Gehirne genau angesehen hatte, musste ich fragen.

»Jason ist ein Wicca? Wirklich?« Sie zog die Mütze vom Kopf und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

»Nein, nein. Hält Hallow ihn als Geisel gefangen?«

»Ich habe ihn nirgends gesehen. Warum um Himmels willen sollte Hallow Jason entführen?«

Ich hatte mir die ganze Zeit etwas vorgemacht. Eines Tages würde ein Jäger die Überreste meines Bruders im Wald entdecken. Es sind doch meist Jäger oder Leute, die mit ihrem Hund spazieren gehen, oder? Ich spürte, wie mir der Boden unter den Füßen schwand, wie er sich einfach unter mir auflöste. Doch ich rief mich sogleich zurück ins Hier und Jetzt, weg von meinen Gefühlen, die ich mir erst an einem sichereren Ort wieder leisten konnte.

»Du musst von hier verschwinden«, sagte ich so leise wie möglich. »Du musst weg hier, sofort.«

»Dann schnappt sie sich meinen Sohn!«

»Das tut sie nicht, ich garantiere es dir.«

Holly schien trotz der Dunkelheit, die uns umgab, etwas in meinem Gesicht zu lesen. »Hoffentlich tötet ihr sie alle«, sagte sie so leidenschaftlich, wie ein Flüstern es zulässt. »Nur Parton, Chelsea und Jane nicht. Hallow erpresst sie, genau wie mich, und nur deshalb machen sie mit. Im Grunde sind sie ganz normale Wiccas, die ein ruhiges Leben führen möchten. Wir wollen niemandem Böses.«

»Wie sehen sie aus?«

»Parton ist etwa fünfundzwanzig, eher klein, er hat braunes Haar und ein Muttermal auf der Wange. Chelsea ist siebzehn, ihr Haar ist hellrot gefärbt. Und Jane, hm, na ja - Jane ist einfach eine alte Frau, du weißt schon. Weißes Haar, Hose, geblümte Bluse, Brille.« Meine Großmutter hätte Holly eine ordentliche Standpauke gehalten, weil sie hier alle alten Frauen über einen Kamm scherte. Aber sie war nicht mehr da, und die Zeit hatte ich jetzt wahrlich nicht.

»Warum hat Hallow nicht eine ihrer knallharten Hexen hier draußen Wache schieben lassen?«, fragte ich aus reiner Neugierde.

»Heute Nacht ist ein großes Ritual der Hexenkunst geplant. Ich kann kaum fassen, dass der Abwehrzauber auf dich nicht wirkt. Du musst immun sein oder so was«, flüsterte Holly, und mit einem kleinen Lachen fügte sie hinzu: »Außerdem wollte sich keine hier draußen den Arsch abfrieren.«

»Los jetzt, verschwinde«, sagte ich fast lautlos und half ihr auf. »Ganz egal, wo dein Auto steht, geh in nördliche Richtung.« Wusste sie, wo Norden war? Zur Sicherheit zeigte ich es ihr.

Holly lief davon. Ihre Nikes verursachten kaum einen Laut auf dem rissigen Gehweg, und ihr stumpfes schwarz gefärbtes Haar schien alles Licht der Straßenlaternen aufzusaugen, als sie darunter entlanglief. Der Geruch um das Gebäude, der Geruch der Magie, wurde noch intensiver. Ich überlegte, was jetzt zu tun war. Irgendwie musste ich dafür sorgen, dass die drei Wiccas in dem verfallenen Gebäude, in dem sie Hallow zwangsweise dienten, nicht zu Schaden kamen. Doch wie zum Teufel sollte ich das anstellen? Würde ich wenigstens eine unschuldige Hexe retten können?

In den nächsten sechzig Sekunden hatte ich eine ganze Sammlung halbgarer Ideen und fehlgeleiteter Einfälle, die alle in einer Sackgasse endeten.

Wenn ich hineinrannte und schrie: »Parton, Chelsea, Jane - raus hier!«, würde das nur den Hexenzirkel vor dem bevorstehenden Angriff warnen. Und nicht wenige meiner Freunde - oder zumindest Verbündeten - würden deswegen sterben.

Wenn ich blieb und den Vampiren zu erzählen versuchte, dass drei der Leute in dem Gebäude unschuldig waren, würden sie mich (höchstwahrscheinlich) ignorieren. Und falls sie in einem Anfall von Großmut doch auf mich hörten, müssten sie erst mal alle Hexen retten, um dann die unschuldigen auszusortieren - was wiederum den bösen Hexen Zeit für einen Gegenschlag gäbe. Hexen brauchten schließlich keine sichtbaren Waffen.

Zu spät erkannte ich, dass ich Holly besser hier behalten und als mein Eintrittsbillett in das Gebäude genutzt hätte. Andererseits, eine verängstigte Mutter weiterer Gefahr auszusetzen war auch nicht gerade ein brillanter Plan.

Etwas Großes und Warmes presste sich an meine Seite. Augen und Zähne schimmerten im nächtlichen Licht der Stadt. Fast hätte ich aufgeschrien, erkannte aber noch rechtzeitig, dass der Wolf Alcide war. Er war sehr groß. Die silbrig glänzenden Haare um seine Augen ließen das übrige Fell noch viel dunkler erscheinen.

Ich legte einen Arm auf seinen Rücken. »Da drin sind drei, die nicht sterben dürfen«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Da er ein Wolf war, wusste auch Alcide nicht, was zu tun war. Er sah mir ins Gesicht und jaulte ganz leise auf. Ich sollte längst wieder bei meinem Auto sein und hockte hier mitten in der Gefahrenzone herum. Überall in der Dunkelheit, die mich umgab, spürte ich jetzt Bewegung. Alcide trottete weg von mir zu seiner Position bei der Hintertür des Gebäudes.

»Was tust du denn hier?«, fragte Bill wütend, es klang recht seltsam, denn er wisperte so unglaublich leise. »Pam sagte doch, du sollst gehen, wenn du fertig bist mit Zählen.«

»Drei da drin sind unschuldig«, flüsterte ich zurück. »Sie sind Hexen aus der Umgebung und wurden von Hallow erpresst.«

Bill murmelte etwas vor sich hin, sicher nichts Erfreuliches. Ich wiederholte ihm Hollys Beschreibung der drei Hexen. Ich spürte die wachsende Anspannung in seinem Körper.

Und dann drängte sich Debbie Pelt neben uns. Was fiel der denn ein, sich derart an den Vampir und den Menschen heranzuschmeißen, die sie am meisten hassten?

»Ich sagte dir, du sollst zurückbleiben«, zischte Bill ihr zu, und seine Stimme klang furchteinflößend.

»Alcide hat sich von mir losgesagt«, erzählte sie mir, als wäre ich nicht dabei gewesen.

»Was hast du denn erwartet?« Ihr Timing war wirklich zum Verzweifeln, und dann noch diese schmerzerfüllte Attitüde. Hatte sie noch nie was von »selbst schuld« gehört?

»Ich muss etwas tun, um sein Vertrauen zurückzugewinnen.«

Da war sie bei mir im falschen Laden gelandet, wenn sie eine Portion Selbstachtung kaufen wollte.

»Dann hilf mir, die drei Unschuldigen da drin zu retten.« Ich erzählte noch einmal von meinem Problem. »Warum hast du deine Gestalt nicht gewandelt?«

»Das kann ich nicht«, sagte sie bitter. »Ich bin ausgestoßen. Ich kann mich nicht mehr zusammen mit Alcides Rudel verwandeln. Sie haben das Recht, mich zu töten, wenn ich es tue.«

»In welches Tier verwandelst du dich eigentlich?«

»In einen Luchs.«

Wie passend.

»Dann komm«, sagte ich und schlängelte mich vorwärts auf das Gebäude zu. Ich verabscheute diese Frau, aber wenn sie mir nutzen konnte, sollte ich mich lieber mit ihr verbünden.

»Warte, ich soll mit dem Werwolf zur Hintertür gehen«, fauchte Bill. »Eric ist bereits dort.«

»Dann geh!«

Ich spürte, dass noch jemand hinter mir war, riskierte einen schnellen Blick und entdeckte Pam. Sie lächelte mich an, ihre Fangzähne waren bereits ausgefahren. Es war kein beruhigender Anblick.

Hätten die Hexen da drin nicht gerade ein Ritual vollzogen und sich auf ihren denkbar ungeeigneten Wachposten und den Abwehrzauber verlassen, dann wären wir wohl niemals unentdeckt bis zur Tür gelangt. Doch in diesen wenigen Minuten war uns das Glück hold. Wir erreichten den vorderen Eingang des Gebäudes, Pam, Debbie und ich, und trafen dort auf den jungen Werwolf Sid. Selbst in seiner Wolfsgestalt war er unverkennbar. Bubba war bei ihm.

Plötzlich hatte ich einen Geistesblitz. Ich zog Bubba beiseite.

»Kannst du zu den Wiccas zurücklaufen, den Hexen auf unserer Seite? Weißt du, wo sie sind?«, wisperte ich.

Bubba nickte eifrig mit dem Kopf.

»Erzähl ihnen, dass in dem Gebäude drei Wiccas aus der Umgebung sind, die unter Druck gesetzt wurden. Frag, ob sie einen Zauber über die drei Unschuldigen legen können, damit man sie erkennt.« »Das tue ich, Miss Sookie. Diese Wiccas sind ja so nett zu mir.«

»Guter Kerl. Beeil dich und sei leise.«

Er nickte, und schon war er in der Dunkelheit verschwunden.

Der Geruch um das Gebäude herum war so intensiv geworden, dass mir das Atmen schwer fiel. Die Luft war derart geschwängert von Duftaromen, dass sie mich an diese stinkenden Kerzenläden in Einkaufspassagen erinnerte.

»Wohin hast du Bubba geschickt?«, fragte Pam.

»Zu den Wiccas. Sie müssen die drei Unschuldigen da irgendwie kenntlich machen, damit wir sie nicht töten.«

»Nein, wir brauchen ihn hier. Er muss für mich die Türschwelle überschreiten!«

»Aber ...« Pams Reaktion verwirrte mich. »Er kann das Haus auch nicht ohne Erlaubnis betreten, genauso wenig wie du.«

»Bubba hat eine Hirnverletzung, er wurde zurückgestuft. Er ist kein echter Vampir. Doch, er kann ohne Erlaubnis ein Haus betreten.«

Ich starrte Pam an. »Warum hast du mir das nicht gesagt?« Sie hob nur eine Augenbraue. Es stimmte, wenn ich zurückdachte, fielen mir mindestens zwei Gelegenheiten ein, bei denen Bubba ein Haus ohne Erlaubnis betreten hatte. Ich hatte nur nie eins und eins zusammengezählt.

»Dann muss eben ich zuerst durch die Tür«, sagte ich abgeklärter, als ich mich tatsächlich fühlte. »Und was danach? Bitte ich euch einfach alle herein?«

»Genau. Deine Erlaubnis dürfte ausreichen. Das Gebäude gehört den Hexen ja nicht.«

»Und das soll ich jetzt machen?«

Pam lachte lautlos auf. Plötzlich war sie ganz aufgeregt und grinste mich im schimmernden Licht der Straßenlaterne an. »Willst du die Erlaubnis etwa erst noch auf Büttenpapier drucken lassen?«

Herr, schütze mich vor sarkastischen Vampiren. »Meinst du denn, Bubba hat die Wiccas bereits erreicht?«

»Sicher. Und jetzt lass uns diesen Hexen den Arsch aufreißen«, sagte sie fröhlich. Das Schicksal der drei unschuldigen Wiccas hatte für sie nicht gerade oberste Priorität, so viel war klar. Jeder außer mir schien sich auf das Kommende zu freuen. Sogar der junge Werwolf zeigte viel Zahn.

»Ich trete die Tür ein, du gehst rein«, sagte Pam und drückte mir überraschenderweise einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

Wenn ich doch bloß woanders wäre, dachte ich.

Dann erhob ich mich aus der Hocke, stellte mich hinter Pam und schaute ehrfürchtig zu, wie sie ein Bein anwinkelte und mit der Kraft von vier, fünf Mauleseln die Tür eintrat. Das Schloss zerbarst, und die Tür sprang auf, während das alte Sperrholz, das davorgenagelt war, splitterte. Ich rannte hinein und schrie den Vampiren hinter mir und jenen an der rückwärtigen Tür zu: »Kommt rein!« Einen Augenblick lang stand ich ganz allein in der Höhle der Hexen. Sie fuhren alle zu mir herum und starrten mich fassungslos an.

Der Raum war voller Kerzen und Leute, die auf Kissen auf dem Fußboden saßen. Während wir draußen gewartet hatten, waren anscheinend alle nach und nach in diesen vorderen Raum gekommen und hatten sich in einem großen Kreis hingesetzt, alle mit einer brennenden Kerze vor sich, einer Schale und einem Messer.

Von den dreien, die ich zu retten versuchte, war die »alte Frau« am leichtesten zu erkennen. Es saß nur eine weißhaarige Frau in dem Kreis. Sie trug einen hellrosa Lippenstift, ein bisschen verschmiert, und auf einer ihrer Wangen klebte getrocknetes Blut. Ich fasste sie beim Arm und zog sie in eine Ecke, während um mich herum das Chaos losbrach. Es waren nur drei Männer im Raum. Hallows Bruder Mark, der jetzt von gleich mehreren Werwölfen angegriffen wurde, war einer von ihnen. Der zweite war ein hohlwangiger Mann mittleren Alters mit verdächtig schwarzem Haar, der nicht nur irgendeinen Hexenspruch vor sich hin murmelte, sondern gleichzeitig ein Springmesser aus einer Jacke rechts von ihm auf dem Boden zog. Er war zu weit weg, als dass ich irgendwie hätte eingreifen können. Ich verließ mich darauf, dass die anderen sich selbst schützen konnten. Dann entdeckte ich den dritten Mann, er hatte ein Muttermal auf der Wange - das musste Parton sein. Er hockte geduckt da und hielt sich schützend die Hände über den Kopf. Ich wusste, wie er sich fühlte.

Ich ergriff ihn beim Arm, zog ihn hoch, und er boxte natürlich sofort los. Doch da war er bei mir an die Falsche geraten, ich würde mich hier von niemandem verprügeln lassen. Und so zielte ich mit der Faust durch seine wirkungslos fuchtelnden Arme hindurch und traf ihn genau auf die Nase. Er brüllte auf, was die allgemeine Kakophonie im Raum noch um eine weitere Variante bereicherte, und ich schubste ihn in dieselbe Ecke wie schon Jane. Dann sah ich, dass die ältere Frau und der junge Mann beide leuchteten. Okay, die Wiccas hatten es geschafft, ihr Zauber wirkte, wenn auch einen Tick spät. Jetzt musste ich nur noch nach einer leuchtenden jungen Frau mit rotgefärbten Haaren suchen, der dritten unschuldigen Hexe.

Doch meine Glückssträhne war vorbei; und ihre erst recht. Sie leuchtete, aber sie war tot. Ein Werwolf hatte ihr die Kehle durchgebissen: ob einer der unseren oder einer der anderen, darauf kam es eigentlich nicht mehr an.

Ich stolperte durch das Gewühl zurück in die Ecke und fasste die beiden überlebenden Wiccas beim Arm. Debbie Pelt kam auf uns zugerannt. »Raus hier«, sagte ich zu den beiden. »Sucht da draußen nach den anderen Wiccas oder geht nach Hause. Lauft, nehmt ein Taxi, was auch immer.«

»Die Gegend da draußen ist aber sehr gefährlich«, sagte Jane mit bebender Stimme.

Ich starrte sie an. »Und das hier etwa nicht?« Debbie ging mit den beiden zur Tür hinaus und zeigte ihnen den Weg. Das war das Letzte, was ich von ihnen sah. Ich wollte ihnen eben folgen und auch verschwinden - eigentlich sollte ich gar nicht hier sein -, als eine Werwolf-Hexe nach meinem Bein schnappte. Ihre Zähne hatten mein Fleisch verfehlt und nur mein Hosenbein erwischt, aber es riss mich heftig zurück. Ich stolperte und fiel fast hin, erwischte jedoch noch den Türpfosten und konnte mich so auf den Füßen halten. In diesem Augenblick brach aus dem rückwärtigen Raum die zweite Angriffswelle der Werwölfe und Vampire herein, und die Werwolf-Hexe schoss davon, um diese neue Attacke von hinten zu parieren.

Der Raum war erfüllt von umherfliegenden Körpern, spritzendem Blut und gellenden Schreien.

Die Hexen kämpften mit aller Kraft, und jene, die ihre Gestalt wandeln konnten, hatten dies bereits getan. Hallow hatte sich verwandelt und war jetzt eine einzige knurrende Masse wild um sich schnappender Zähne. Ihr Bruder versuchte sich an irgendeiner Art Fluch, wozu er in seiner menschlichen Gestalt verharren musste, und bemühte sich, die Werwölfe und Vampire so lange abzuhalten, bis sein Fluch vollendet war.

Er hatte einen Singsang angestimmt, zusammen mit dem hohlwangigen Mann. Und Mark Stonebrook sang sogar noch weiter, als er Eric einen Hieb in die Magengrube versetzte.

Schwere Nebelschwaden durchzogen inzwischen den Raum. Die Hexen, die mit Messern oder Wolfszähnen kämpften, merkten, was da ablief, und jene, die sprechen konnten, fielen ein in das, was immer Mark da auch singen mochte. Der Nebel wurde dichter und dichter, bis schließlich keiner mehr Freund und Feind auseinander halten konnte.

Ich lief in Richtung Tür, um den erstickenden Nebelschwaden zu entkommen. Dies Zeug machte das Atmen zu einer echten Qual. Es war, als wollte man Watte ein- und ausatmen. Ich streckte meine Hand aus, aber in diesem Teil der Wand befand sich keine Türöffnung. Sie war doch genau dort gewesen! Ich spürte, wie Panik in mir aufstieg, während ich wie eine Wilde die Wand entlang tappte und versuchte, den Ausgang zu ertasten.

Doch ich scheiterte nicht nur daran, den Türpfosten zu finden. Bei meinem nächsten Schritt seitwärts verlor ich auch den Kontakt zur Wand. Ich stolperte über den Körper eines Wolfs. Und weil ich keine Wunde an ihm sah, packte ich ihn bei den Schultern und zog ihn aus den erstickenden Nebelschwaden hinaus.

Noch unter meinen Händen begann sich der Werwolf zu winden und verwandelte sich, was ziemlich unheimlich war. Schlimmer noch, er verwandelte sich in die nackte Hallow. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass sich jemand so schnell verwandeln konnte. Entsetzt ließ ich sie los und stolperte rückwärts zurück in die dichten Nebelschwaden. Da hatte ich meine Anwandlungen als guter Samariter wohl an das falsche Opfer verschwendet. Und sogleich packte mich irgendeine namenlose Frau, eine der Hexen, mit übermenschlicher Kraft. Während sie mich mit der einen Hand am Arm festhielt, versuchte sie mit der anderen meinen Hals zu fassen. Doch ihre Hand glitt immer wieder ab, und ich biss sie, so fest ich konnte. Sie mochte ja vielleicht eine Hexe sein, und sie mochte auch ein Werwolf sein, ja, sie mochte vielleicht sogar fünf Liter Vampirblut getrunken haben, doch eine Kämpferin war sie nicht. Sie schrie auf und ließ mich los.

Mittlerweile hatte ich total die Orientierung verloren. Wo ging es hinaus? Ich hustete, und meine Augen tränten. Das Einzige, dessen ich noch sicher war, war die Schwerkraft. Sehen, Hören, Fühlen: alles wurde beeinträchtigt von diesen undurchdringlichen weißen Schwaden, die immer noch dichter wurden. In so einer Situation waren Vampire klar im Vorteil, sie mussten nicht atmen. Nur wir andern alle. Verglichen mit der dicken Luft, die hier im ehemaligen Blumen- und Bäckerladen herrschte, war die verschmutzte Stadtluft draußen geradezu rein und frisch gewesen.

Keuchend und weinend streckte ich die Arme aus und versuchte, eine Tür oder eine Wand zu finden, irgendeinen Anhaltspunkt. Der Raum, der gar nicht so riesig gewirkt hatte, schien gähnend große Ausmaße angenommen zu haben. Mir kam es so vor, als wäre ich schon kilometerweit durch das reine Nichts gestolpert. Doch das war unmöglich - es sei denn, die Hexen hatten die Dimensionen des Raums verändert. Mein prosaischer Verstand wollte sich mit dieser Möglichkeit nicht anfreunden. Um mich herum hörte ich Schreie und vom Nebel gedämpfte Geräusche, die deshalb nicht weniger furchterregend waren. Plötzlich ging ein Regen von Blut auf die Vorderseite meines Mantels nieder. Ich spürte, wie es bis in mein Gesicht spritzte. Ich stieß einen Laut der Verzweiflung aus, die ich nicht in Worte kleiden konnte. Ich wusste, dass es nicht mein Blut war, und ich wusste auch, dass ich nicht verletzt war - doch irgendwie konnte ich das kaum glauben.

Dann fiel etwas vor mir um, und während es noch zu Boden ging, erkannte ich ein Gesicht. Es war das Gesicht von Mark Stonebrook, und es war vom Tod gezeichnet. Der Nebel verschluckte ihn sofort wieder und so absolut vollständig, als wäre er in eine andere Stadt abgetaucht.

Sollte ich in die Hocke gehen? Vielleicht war die Luft direkt über dem Boden besser. Doch da unten lag Marks Leiche und noch vieles andere mehr. So viel also zu Mark Stonebrook und seiner Aufgabe, Erics Fluch aufzuheben, dachte ich ganz wirr. Jetzt brauchten wir Hallow doch. »Noch so wohl bedachte Pläne ...« Woher hatte meine Großmutter nur dieses Zitat gehabt? Gerald schubste mich zur Seite, als er in einer wilden Verfolgungsjagd an mir vorbei rannte; doch was er verfolgte, konnte ich schon nicht mehr erkennen.

Ich sagte mir, dass ich mutig und einfallsreich war, doch die Worte klangen hohl. Ich tappte vorwärts, immer bemüht, nicht über die Trümmer auf dem Boden zu stolpern. Die Utensilien der Hexen, Schalen, Messer, Knochenteile und Pflanzen, die ich noch nie gesehen hatte, lagen überall verstreut. Unerwartet stand ich plötzlich vor einem relativ leeren Fleck, und zu meinen Füßen sah ich eine umgekippte Schale und ein Messer. Ich hob das Messer auf, ehe eine neue Nebelschwade es wieder meinen Blicken entziehen konnte. Dies Messer wurde für irgendein Ritual verwendet, da war ich mir ziemlich sicher - aber ich war keine Hexe und brauchte es zu meiner Verteidigung. Ich fühlte mich gleich besser mit dem Messer in der Hand, das sehr schön aussah und zum Glück auch sehr scharf zu sein schien.

Was unsere Wiccas wohl taten, fragte ich mich. Waren sie etwa für diese Nebelschwaden verantwortlich?

Später stellte sich heraus, dass unseren Hexen eine Art Live-Übertragung des Kampfes geboten wurde von einer ihrer Mithexen, einer Wahrsagerin. Obwohl sie körperlich bei den Wiccas war, sah sie in einer Schale Wasser auf der Oberfläche gespiegelt, was bei uns in dem Gebäude passierte. Mit dieser Methode konnte sie mehr vom Geschehen erkennen als wir. Warum sie allerdings auf der Oberfläche des Wassers nicht einfach nur dicke Schwaden weißen Nebels gesehen hat, ist mir nicht ganz klar.

Unsere Hexen haben es dann schließlich regnen lassen ... im Gebäude drinnen. Allmählich löste der Regen die Nebelschwaden immer weiter auf. Und auch wenn ich durch und durch nass wurde und erbärmlich fror, entdeckte ich doch endlich, wie nahe ich der Tür war, die in den zweiten großen Raum führte. Langsam kam mir zu Bewusstsein, dass ich wieder etwas sehen konnte. Im Raum erglühte ein Licht, und ich konnte verschiedene Gestalten unterscheiden. Eine von ihnen stürzte auf mich zu - auf Beinen, die nicht menschlich erschienen, und mit dem knurrenden Gesicht von Debbie Pelt. Was machte die denn hier? Sie war doch mit den Wiccas hinausgegangen und hatte ihnen den Weg in die Sicherheit gezeigt. Und jetzt war sie wieder hier.

Keine Ahnung, ob es ihre Absicht war oder ob sie einfach vom Wahnsinn des Kampfes mit fortgetragen worden war, aber Debbie hatte sich teilweise verwandelt. In ihrem Gesicht sprießte Fell, und ihre Zähne waren länger und schärfer geworden. Sie schnappte nach meiner Kehle, doch ihre Verwandlung schüttelte sie in einem so starken Krampf, dass ihre Zähne ins Leere fassten. Ich versuchte einen Schritt zurückzutreten, stolperte aber über etwas auf dem Boden und brauchte ein, zwei wertvolle Sekunden, bis ich wieder fest auf den Füßen stand. Debbie nahm einen erneuten Anlauf, ihre Absicht war unmissverständlich. Erst da erinnerte ich mich an das Messer in meiner Hand und stieß es ihr entgegen. Knurrend hielt sie in ihrem Angriff inne.

Debbie wollte mit mir eine Rechnung begleichen. Gegen eine Gestaltwandlerin konnte ich nicht kämpfen, dazu war ich nicht stark genug. Ich würde das Messer benutzen müssen, auch wenn sich tief in mir etwas dagegen sträubte.

Und dann kam aus den Schwaden und Fetzen des Nebels eine große blutbefleckte Hand. Sie packte Debbie Pelt bei der Kehle und drückte zu. Und drückte. Noch ehe ich von der Hand den Arm hinauf bis zum Gesicht ihres Besitzers geschaut hatte, sprang ein Werwolf an mir hoch und warf mich zu Boden.

Er beschnupperte mein Gesicht.

Okay, das war's... doch dann wurde der Werwolf über mir von den Beinen gefegt und rollte knurrend und nach einem anderen Werwolf schnappend über den Boden. Ich konnte meinem Retter nicht helfen, denn die beiden bewegten sich so schnell, dass ich nicht sicher gewesen wäre, ob ich auch dem richtigen half.

Der Nebel lichtete sich immer schneller, und ich konnte bereits wieder den ganzen Raum überblicken, auch wenn es hier und da noch Fetzen undurchdringlichen Dunstes gab. Obwohl ich diesen Augenblick verzweifelt herbeigesehnt hatte, bedauerte ich fast, dass er jetzt da war. Auf dem Boden lagen zwischen all den Utensilien des Hexenzirkels eine Unzahl von Körpern, tote wie verwundete, und die Wände waren blutbespritzt. Portugal, der gutaussehende junge Werwolf vom Luftwaffenstützpunkt, lag auf dem Boden ausgestreckt vor mir. Er war tot. Culpepper kauerte neben ihm, ganz in Trauer aufgelöst. Dies war es, was ein Krieg mit sich brachte, und ich fand es entsetzlich.

Hallow war immer noch unversehrt und stand aufrecht in ihrer menschlichen Gestalt da, nackt und blutverschmiert. Sie hob einen Werwolf vom Boden auf und schlug ihn gegen die Wand, als ich hinsah. Sie war prachtvoll und schrecklich zugleich. Eine völlig zerlumpte und dreckige Pam schlich sich von hinten an sie heran. Ich hatte die Vampirin bislang nicht mal in einer zerknitterten Bluse gesehen und erkannte sie fast nicht wieder. Pam packte Hallow bei den Hüften und warf sie zu Boden. Das war ein Tackling so gut wie jene, die ich über Jahre hinweg freitagabends beim Football gesehen hatte; und wenn Pam Hallow ein bisschen weiter oben erwischt und sie fest im Griff gehabt hätte, wäre alles sehr schnell vorbei gewesen. Doch Hallows Körper war glitschig von feuchtem Nebel und Regen und all dem Blut, und sie hatte die Arme frei. Sie drehte sich in Pams Griff herum, ergriff Pams langes Haar mit beiden Händen und riss daran. Ganze Büschel von Haar lösten sich und mit ihnen ein gutes Stück Kopfhaut.

Pam kreischte wie ein gigantischer Teekessel. Ich hatte noch nie einen so lauten Schrei gehört. Da Pam sich immer gern revanchierte, drängte sie Hallow zu Boden, ergriff ihre Oberarme und drückte und drückte, bis Hallow völlig geplättet dalag. Die Hexe hatte ungeheure Kräfte, es war ein schrecklicher Kampf, und Pam war gehandicapt durch das Blut, das ihr Gesicht herunterströmte. Doch Hallow war ein Mensch und Pam nicht. Pam hatte schon fast gewonnen, da kroch der hohlwangige Mann zu den beiden Frauen hinüber und biss Pam in den Hals. Sie hatte keine Hand frei und konnte ihn nicht davon abhalten. Er hatte nicht einfach nur zugebissen, sondern er trank, und während er trank, nahm seine Stärke immer mehr zu - wie eine Batterie, die aufgeladen wurde. Er trank das Vampirblut direkt aus der Quelle. Keiner außer mir schien das zu sehen. Ich kletterte über die schlaffe Leiche eines Werwolfs und über die eines Vampirs und trommelte auf den hohlwangigen Mann ein - er ignorierte mich einfach.

Ich würde das Messer benutzen müssen. So etwas hatte ich noch nie zuvor getan. Mein Zuschlagen war stets nur ein Zurückschlagen gewesen, und es war immer um Leben und Tod gegangen, um mein Leben oder meinen Tod. Hier lagen die Dinge anders. Ich zögerte, aber ich musste handeln, und zwar schnell. Ich konnte zusehen, wie Pam immer schwächer wurde. Und lange würde sie Hallow nicht mehr bändigen können. Ich nahm das Messer mit der schwarzen Klinge und hielt es dem Mann an die Kehle. Ich stieß an seinen Hals, nur ein wenig.

»Weg von ihr«, sagte ich. Er ignorierte mich.

Ich stieß stärker zu, und ein scharlachroter Strom lief jetzt seinen Hals herab. Endlich ließ er von Pam ab. Sein Mund war rot verschmiert von ihrem Blut. Doch noch ehe ich mich darüber freuen konnte, dass er von ihr abgelassen hatte, fuhr er herum - immer noch auf den Knien - und fixierte mich. In seinem Blick stand der reine Wahnsinn, und er riss den Mund auf, um auch von mir zu trinken. Ich spürte das ungezügelte Verlangen in seinen Gedanken, dieses Ich will, Ich will, Ich will. Wieder hielt ich das Messer an seinen Hals, und gerade als ich mich innerlich rüstete, stürzte er sich mit einem Riesensatz auf mich und rammte sich dabei die Klinge in den Hals.

Sein Blick erlosch fast augenblicklich.

Er hatte sich selbst getötet, und ich hatte es möglich gemacht. Ich glaube nicht, dass er das Messer überhaupt bemerkt hatte.

Ich war das Instrument seines Todes gewesen, wie unabsichtlich auch immer.

Als ich aufblicken konnte, saß Pam auf Hallows Brust, ihre Knie drückten Hallows Arme auf den Boden, und sie lächelte. Das war so bizarr, dass ich mich im Raum nach dem Grund dafür umsah. Und ich erkannte, dass der Kampf vorüber war. Keine Ahnung, wie lange er gedauert hatte, dieser lärmende, unsichtbare Kampf in den dichten Nebelschwaden. Seine Ergebnisse lagen jetzt jedenfalls nur allzu deutlich vor unser aller Augen.

Vampire töten nicht fein säuberlich, sie töten auf grausame Weise. Und auch Werwölfe sind nicht für ihre Tischmanieren bekannt. Hexen scheinen ein bisschen weniger Blut zu verspritzen, doch das Endergebnis war wirklich fürchterlich, wie in einem richtig schlechten Film, bei dem man sich hinterher schämt, dass man dafür auch noch Eintritt bezahlt hat.

Wir hatten anscheinend gewonnen.

Das war mir in dem Augenblick allerdings fast egal. Ich war total erschöpft, körperlich wie geistig, und daher wirbelten all die Gedanken der Menschen und auch einige Gedanken der Werwölfe in meinem Hirn herum wie Wäsche in einem Trockner. Dagegen war nichts zu machen, also ließ ich diese Fetzen durch meinen Kopf fliegen und nahm meine letzten Kräfte zusammen, um die Leiche von mir zu stoßen. Ich lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Da ich überhaupt keinen eigenen Gedanken mehr fassen konnte, war ich völlig mit den Gedanken anderer angefüllt. Fast jeder dachte das Gleiche: wie erschöpft sie waren, wie blutig alles um sie herum war und wie unvorstellbar es war, dass sie einen Kampf wie diesen überlebt hatten. Der Typ mit dem stachelig aufgestellten Haar hatte sich in seine menschliche Gestalt zurückverwandelt und dachte gerade, wie viel mehr er dies alles genossen hatte, als angebracht war. Sein nackter Körper lieferte denn auch den deutlich sichtbaren Beweis, wie sehr er es genossen hatte. Er unternahm immerhin den Versuch, sich dessen ein wenig zu schämen. Vor allem aber wollte er diese süße junge Wicca aufstöbern und sich mit ihr in eine stille Ecke verkriechen. Hallow hasste Pam, sie hasste mich, sie hasste Eric, sie hasste einfach jeden. Sie begann einen Fluch zu murmeln, der uns alle erledigen sollte, doch Pam stieß ihr den Ellbogen gegen den Hals, und das ließ sie sofort verstummen.

Debbie Pelt erhob sich im Türrahmen vom Boden und sah sich um. Sie wirkte erstaunlich unversehrt und energiegeladen, als hätte sie nie Fell im Gesicht gehabt und als wüsste sie nicht mal ansatzweise, wie man tötet. Zwischen den verstreut herumliegenden Körpern, lebendigen wie toten, bahnte sie sich einen Weg, bis sie schließlich Alcide fand, der noch seine Wolfsgestalt hatte. Sie hockte sich neben ihn und suchte ihn nach Wunden ab, worauf er mit einem deutlich warnenden Knurren reagierte. Vielleicht glaubte sie einfach nicht, dass er sie tatsächlich angreifen würde, jedenfalls legte sie ihm eine Hand auf die Schulter, und er biss sie so brutal, dass es blutete. Sie schrie auf und taumelte zurück. Ein paar Sekunden lang hielt sie kauernd ihre blutende Hand und weinte. Ihr Blick traf den meinen, und in ihren Augen loderte der Hass. Sie würde mir nie verzeihen. Sie würde mir für den Rest ihres Lebens die Schuld daran geben, dass Alcide die dunkle Seite ihrer Natur gesehen hatte. Zwei Jahre lang hatte sie mit ihm gespielt, ihn angelockt und wieder weggestoßen, und dabei die Wesenszüge verborgen, die er niemals akzeptiert hätte, denn gewollt hatte sie ihn immer. Doch jetzt war alles vorbei.

Und das sollte meine Schuld sein?

Aber ich dachte nicht in den Kategorien einer Debbie Pelt, ich dachte wie ein vernünftiger Mensch, und das war Debbie ja nun wirklich nicht. Hätte die große Hand aus dem dichten Nebel, die sie vorhin im Kampf am Hals gepackt hatte, sie doch bloß erwürgt. Ich sah zu, wie sie die Tür aufstieß und mit schnellen Schritten in die Nacht hinauseilte. In diesem Augenblick wusste ich, dass Debbie Pelt für den Rest ihres Lebens hinter mir her sein würde. Vielleicht würde sich die Bisswunde, die Alcide ihr verpasst hatte, entzünden, so dass sie an Blutvergiftung starb?

Reflexartig machte ich mir gleich wieder Vorwürfe: Das war ein bösartiger Gedanke, Gott wollte nicht, dass wir irgendjemandem Böses wünschten. Da blieb nur zu hoffen, dass Er auch Debbie gut zuhörte; so wie du hoffst, dass der Verkehrspolizist, der dir wegen überhöhter Geschwindigkeit einen Strafzettel gibt, auch deinen Hintermann anhält, der dich trotz durchgezogener Linie noch zu überholen versucht hatte.

Die rothaarige Werwolf-Frau Amanda kam herüber zu mir. Sie hatte hier und dort Bisswunden und eine große Beule auf der Stirn, doch sie strahlte förmlich: »Wenn ich schon mal gute Laune habe, möchte ich mich bei dir auch gleich noch für die Beleidigung entschuldigen«, sagte sie ganz direkt. »Du hast einen guten Kampf geführt. Selbst wenn du mit Vampiren Umgang hast, von mir hörst du keinen Vorwurf mehr. Vielleicht siehst du irgendwann das Licht.« Ich nickte, und sie machte sich davon, um nach den anderen Werwölfen ihres Rudels zu sehen.

Pam hatte Hallow gefesselt, und jetzt knieten Pam, Eric und Gerald neben jemand anderem auf der anderen Seite des Raums. Flüchtig fragte ich mich, was da wohl los war, doch Alcide verwandelte sich eben in seine menschliche Gestalt zurück und kroch, nachdem er sich orientiert hatte, zu mir herüber. Ich war viel zu erschöpft, als dass seine Nacktheit mich noch verlegen gemacht hätte. Mich streifte vielmehr die Idee, mir den Anblick einzuprägen, weil ich mich in einer Mußestunde sicher gern mal daran erinnern würde.

Er hatte einige Hautabschürfungen, ein paar blutende Risse und eine tiefe Fleischwunde, sah insgesamt jedoch recht gut aus.

»Du hast Blut im Gesicht«, sagte er mühsam.

»Das ist nicht meins.«

»Gott sei Dank«, erwiderte er und legte sich neben mich auf den Boden. »Wie schwer bist du verletzt?«

»Ich bin nicht verletzt, nicht richtig«, sagte ich. »Na ja, ich wurde viel herumgestoßen, ein bisschen gewürgt, und es wurde nach mir geschnappt, aber ich bin nicht zusammengeschlagen worden!« Menschenskind, mein Wunsch fürs neue Jahr hatte sich also tatsächlich erfüllt.

»Tut mir leid, dass wir Jason hier nicht gefunden haben«, sagte Alcide.

»Eric hat Pam und Gerald gefragt, ob die Vampire ihn haben, und sie haben nein gesagt«, erzählte ich. »Ihm war ein sehr guter Grund eingefallen, warum die Vampire ihn entführt haben könnten. Aber sie haben es nicht getan.«

»Chow ist tot.«

»Wie das?«, fragte ich so ruhig, als würde es nichts weiter ausmachen. Ehrlich gesagt, hatte ich nie eine besondere Schwäche für den Barkeeper gehabt, hätte aber wenigstens angemessen betroffen reagiert, wenn ich nicht so erschöpft gewesen wäre.

»Einer von Hallows Leuten hatte ein Messer aus Holz.«

»So was habe ich noch nie gesehen«, sagte ich nach einer Weile, und das war alles, was ich zu sagen hatte zum Tod von Chow.

»Ich auch nicht.«

Nach einem längeren Schweigen sagte ich: »Das mit Debbie tut mir leid.« Ich meinte natürlich, es tue mir leid, dass Debbie ihn so verletzt und sich als so schrecklich erwiesen hatte, dass er sich zu dem drastischen Schritt gezwungen sah, sie aus seinem Leben zu entfernen.

»Welche Debbie?«, fragte er, stand mit einer geschmeidigen Bewegung auf und trottete davon über all den Schmutz, das Blut, die Leichen und die Trümmer der übernatürlichen Welt hinweg.