Kapitel 3
»Wie konnte das bloß passieren?«, fragte ich das Feuer, als sie alle gegangen waren.
Alle außer dem großen Wikinger-Vampir, den ich nun also schützen und verteidigen sollte.
Ich saß auf dem Kaminvorleger direkt vor dem Feuer. Gerade hatte ich ein weiteres Scheit Holz hineingeworfen, und die Flammen waren wirklich wunderschön. Ich hatte jetzt etwas Angenehmes und Tröstliches bitter nötig.
Aus dem Augenwinkel sah ich einen großen nackten Fuß. Eric ließ sich neben mir auf den Kaminvorleger nieder. »Ich glaube, das ist passiert, weil dein Bruder habgierig ist und weil du die Art Frau bist, die meinetwegen anhält, selbst wenn sie Angst hat«, sagte Eric treffsicher.
»Wie fühlst du dich eigentlich bei der ganzen Sache?« Diese Frage hätte ich ihm niemals gestellt, wäre Eric seiner selbst völlig mächtig gewesen. Doch er wirkte so anders auf mich, vielleicht nicht mehr wie das verängstigte Häufchen Elend, das er gestern Abend gewesen war, aber doch immer noch sehr Eric-untypisch. »Ich meine - es ist doch so, als wärst du ein Paket, das jemand zur Aufbewahrung gegeben hat, und ich bin sozusagen das Schließfach dazu.«
»Ich bin nur froh, dass sie Angst genug vor mir haben, um bestens auf mich aufzupassen.«
»Hm«, sagte ich intelligenterweise. Das war nicht die Antwort, die ich erwartet hatte.
»Ich muss ein ziemlich angsteinflößender Mensch sein, wenn ich ganz ich selbst bin. Oder erwecke ich etwa durch meine guten Taten und mein freundliches Wesen so viel Loyalität?«
Ich kicherte.
»Dachte ich's mir doch.«
»Du bist schon okay«, versicherte ich ihm. Wenn ich ihn so ansah, schien er mir allerdings solcherlei Bestätigungen gar nicht zu brauchen. »Hast du keine kalten Füße?«
»Nein«, sagte er. Doch ich hatte nun mal die Verantwortung für Eric übernommen. Und außerdem bekam ich eine ungeheure Menge Geld dafür, dass ich mich um ihn kümmerte, ermahnte ich mich selbst streng. Also holte ich die alte Quiltdecke von der Rückenlehne des Sofas und bedeckte seine Beine und Füße mit den grünen, blauen und gelben Steppkaros. Dann ließ ich mich wieder auf den Kaminvorleger neben ihn plumpsen.
»Das Ding ist ja scheußlich«, sagte er.
»Genau das hat Bill auch gesagt.« Ich drehte mich auf den Bauch und bemerkte, dass ich lächelte.
»Wo ist dieser Bill?«
»In Peru.«
»Hat er dir gesagt, dass er dorthin geht?«
»Ja.«
»Darf ich also annehmen, dass eure Beziehung in Auflösung begriffen ist?«
Das war eine wirklich hübsche Art, es zu formulieren. »Wir haben Schluss gemacht. Und es sieht ganz nach einem endgültigen Ende aus«, sagte ich mit gleichbleibend ruhiger Stimme.
Er lag jetzt neben mir, auch auf dem Bauch und die Ellbogen aufgestützt, so dass wir miteinander reden konnten. Er war mir ein bisschen näher, als mir angenehm war, aber ich wollte keine große Sache daraus machen, indem ich von ihm abrückte. Er drehte sich halb herum und zog die Quiltdecke über uns beide.
»Erzähl mir von ihm«, sagte Eric ganz unerwartet. Er und Pam und Chow hatten alle ein Glas >TrueBlood< getrunken, ehe die beiden gegangen waren, und seine Haut wirkte etwas rosiger.
»Du kennst Bill«, begann ich. »Er arbeitet schon eine ganze Weile für dich. Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht, aber Bill - na ja, er ist ziemlich cool und gelassen, und er ist ein richtiger Beschützer, nur, einige Dinge scheint er einfach nicht in seinen Kopf zu bekommen.« Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Beziehung zu Bill ausgerechnet mal mit Eric besprechen würde.
»Liebt er dich?«
Ich seufzte und meine Augen füllten sich mit Tränen, wie so oft, wenn ich an Bill dachte - das personifizierte heulende Elend, ich war's. »Na ja, behauptet hat er es jedenfalls«, murmelte ich deprimiert. »Aber als diese Vampirschlampe irgendwie mit ihm in Kontakt trat, war er plötzlich auf und davon.« Womöglich hatte sie ihm sogar eine E-Mail geschickt. »Er hatte früher schon mal eine Affäre mit ihr, und sie scheint so was zu sein wie seine - ach, keine Ahnung, wie ihr die nennt. Diejenige, die ihn zum Vampir gemacht hat. Sie hat ihn herübergeholt, hat er gesagt. Und deswegen hat Bill sich wieder auf sie eingelassen. Er meinte, das musste er tun. Und dann fand er heraus -«, ich sah Eric von der Seite an und hob bedeutungsvoll eine Augenbraue, Eric wirkte fasziniert, »dass sie ihn bloß auf die noch dunklere Seite herüberlocken wollte.«
»Wie bitte?«
»Sie wollte ihn dazu bringen, zu einer anderen Vampirgruppe in Mississippi überzulaufen und seine enorm wertvolle PC-Datenbank mitzubringen, die er für deine Leute hier in Louisiana erarbeitet hat«, erklärte ich, indem ich die Dinge um der Kürze willen etwas vereinfachte.
»Und was ist passiert?«
Das machte genauso viel Spaß wie die Gespräche mit Arlene. Vielleicht sogar noch mehr, da ich vor ihr ja nie die ganze Geschichte ausbreiten konnte. »Tja, Lorena, so heißt sie, hat ihn gefoltert«, sagte ich und Eric machte große Augen. »Kannst du dir das vorstellen? Dass sie jemanden foltert, den sie mal geliebt hat? Jemanden, mit dem sie jahrelang zusammengelebt hat?« Eric schüttelte ungläubig den Kopf. »Na egal, du hast mich nach Jackson geschickt, dort sollte ich ihn suchen, und ich habe ihn tatsächlich aufgespürt, in diesem Nachtclub nur für Supras.« Eric nickte. Offensichtlich musste ich ihm nicht erst erklären, dass Supras für Supranaturale, also Übernatürliche stand. »Du hast mir diesen wirklich süßen Werwolf als Begleiter mitgegeben, der dir noch einen großen Gefallen schuldete, und ich habe bei ihm übernachtet.« Alcide Herveaux tauchte immer noch in meinen Tagträumen auf. »Doch es endete alles damit, dass ich ziemlich stark verletzt wurde«, beendete ich die Geschichte. Ziemlich stark verletzt, wie immer eben.
»Wie denn?«
»Sie haben mich gepfählt, ob du's glaubst oder nicht.«
Eric war angemessen beeindruckt. »Hast du eine Narbe?«
»Ja, obwohl -« An dieser Stelle erstarben mir die Worte.
Eric ließ erkennen, dass er praktisch an meinen Lippen hing. »Ja?«
»Du hast einen der Vampire aus Jackson dazu überredet, sich um meine Wunde zu kümmern, sonst hätte ich nicht überlebt... und dann hast du mir dein Blut gegeben, damit ich schnell wieder gesund wurde und tagsüber nach Bill suchen konnte.« Als ich daran dachte, wie Eric mir Blut gespendet hatte, errötete ich. Ich konnte bloß hoffen, dass er die Röte meines Gesichts auf die Hitze des Kaminfeuers zurückführte.
»Und du hast Bill gerettet?«, fragte er, womit er das heikle Terrain verließ.
»Ja, habe ich«, sagte ich stolz. »Ich hab' seinen verdammten Arsch gerettet.« Ich rollte mich auf den Rücken und sah zu ihm hinauf. Es war klasse, jemanden zum Reden zu haben. Ich zog mein T-Shirt hoch, um Eric meine Narbe zu zeigen. Er berührte die schimmernde Haut mit der Fingerspitze und schüttelte den Kopf. Ich ordnete meine Kleidung wieder.
»Und was wurde aus der Vampirschlampe?«, fragte er.
Ich musterte ihn misstrauisch, aber er schien sich nicht über mich lustig zu machen. »Na ja«, sagte ich, »äh, eigentlich habe ich sie irgendwie ... Sie kam herein, als ich Bill gerade losband, und griff mich sofort an, und irgendwie habe ich sie... getötet.«
Eric sah mich an. Ich wurde nicht schlau aus seiner Miene. »Hattest du vorher schon mal jemanden getötet?«, fragte er.
»Natürlich nicht!«, rief ich empört. »Okay, ich habe schon mal einen Typen verletzt, der mich umbringen wollte, aber daran ist er nicht gestorben. Nein, ich bin ein Mensch. Ich muss niemanden töten, um zu leben.«
»Aber Menschen töten ständig andere Menschen. Und sie müssen sich nicht mal von ihnen ernähren oder ihr Blut trinken.«
»Nicht alle Menschen tun so etwas.«
»Das stimmt«, sagte er. »Aber wir Vampire sind alle Mörder.«
»In gewisser Weise seid ihr wie Löwen.«
Eric sah mich erstaunt an. »Löwen?«, sagte er leise.
»Alle Löwen töten.« In dem Augenblick erschien mir diese Idee wie eine Erleuchtung. »Ihr seid wie Raubtiere, wie Löwen und andere Fleischfresser. Ihr nutzt das, was ihr tötet. Ihr müsst töten, um zu essen und dadurch zu leben.«
»Der Haken an dieser tröstlichen Theorie ist nur, dass wir fast genauso aussehen wie ihr. Und einst waren wir sogar Menschen. Aber wir können euch ebenso lieben wie wir uns von euch ernähren. Man kann wohl kaum behaupten, dass der Löwe die Antilope liebkosen will.«
Und plötzlich lag da etwas in der Luft, was nur Sekunden vorher noch nicht da gewesen war. Ich fühlte mich ein wenig wie eine Antilope, an die sich jemand anpirschte - ein Löwe, der ganz aus der Art schlug.
Ich hatte mich viel wohler gefühlt, als ich mich um ein verängstigtes Opfer hatte kümmern müssen.
»Eric«, sagte ich sehr vorsichtig, »du weißt, dass du mein Gast bist. Und du weißt auch, wenn ich dich rauswerfe - was ich sicher tue, falls du dich nicht benimmst -, dann stehst du da draußen mitten auf irgendeinem Feld in einem Bademantel, der zu kurz für dich ist.«
»Habe ich irgendwas gesagt, das dir unangenehm ist?« Er war (anscheinend) völlig zerknirscht, seine blauen Augen glühten vor Aufrichtigkeit. »Das tut mir leid. Ich wollte nur deinen Gedanken weiterführen. Hast du noch etwas >TrueBlood< da? Was hat Jason für mich zum Anziehen mitgebracht? Dein Bruder ist sehr clever.« Er klang nicht gerade hundertprozentig überzeugt, als er das sagte. Aber das warf ich ihm nicht vor. Jasons Cleverness würde ihn 35 000 Dollar kosten. Ich stand auf, um die Wal-Mart-Tüte zu holen, und hoffte, Eric würde Gefallen an seinem neuen »Louisiana Tech«-Sweatshirt und den billigen Jeans finden.
Um Mitternacht herum legte ich mich aufs Ohr und überließ Eric meinen Videos, die ersten Folgen von >Buffy< hatten ihn bereits ganz gefangen genommen. (Eigentlich war das mal so eine Art Witzgeschenk von Tara gewesen.) Eric fand das alles zum Schreien komisch, vor allem wie die Stirn der Vampire sich immer vorwölbte, wenn sie blutrünstig wurden. Von Zeit zu Zeit hörte ich Erics Lachen bis in mein Zimmer. Aber das störte mich nicht weiter. Ich fand es sogar eher beruhigend, dass noch jemand im Haus war.
Ich brauchte etwas länger als sonst, bis ich einschlief, denn ich musste über all die Dinge nachdenken, die an diesem Tag passiert waren. Eric war also jetzt im Zeugenschutzprogramm, und ich stellte das sichere Haus zur Verfügung. Niemand auf der Welt - okay, außer Jason, Pam und Chow - wusste, wo der Sheriff von Bezirk Fünf in diesem Augenblick war.
Nämlich in meinem Bett.
Ich wollte meine Augen nicht öffnen und mit ihm streiten, als ich spürte, wie er neben mich schlüpfte. Ich war gerade auf der Schwelle zwischen Wachen und Träumen. Als er die Nacht zuvor zu mir ins Bett gekommen war, hatte Eric so viel Angst gehabt, dass ich fast mütterliche Gefühle empfunden und gern seine Hand gehalten und ihn beruhigt hatte. Heute Nacht dagegen schien es mir nicht mehr ganz so, nun, neutral, ihn in meinem Bett zu haben.
»Kalt?«, murmelte ich, als er sich ankuschelte.
»Mhmm«, flüsterte er. Ich lag auf dem Rücken, und zwar so bequem, dass mich umzudrehen nicht in Frage kam. Er lag auf der Seite, das Gesicht mir zugewandt, und legte einen Arm über meine Taille. Doch er bewegte sich keinen Zentimeter weiter und entspannte sich vollständig. Nach einem Moment der Anspannung tat ich dasselbe, und dann schlief ich auch schon tief und fest.
Als Nächstes nahm ich wahr, dass Morgen war und das Telefon klingelte. Ich lag natürlich allein in meinem Bett, und durch die offene Tür konnte ich durch die Diele in das kleinere Zimmer hinübersehen. Die Schranktür stand offen, so wie Eric sie zurücklassen musste, wenn die Morgendämmerung kam und er in sein dunkles Versteck verschwand.
Es war heller und wärmer heute, so um die fünf Grad mit Tendenz zu zehn Grad und mehr. Ich war viel fröhlicher beim Aufwachen als tags zuvor. Jetzt wusste ich, was vor sich ging; oder wenigstens wusste ich mehr oder weniger, was von mir erwartet wurde und wie die kommenden Tage verlaufen würden. Zumindest glaubte ich das. Als ich ans Telefon ging, wurde mir klar, dass ich weit davon entfernt war.
»Wo ist dein Bruder?«, brüllte Jasons Chef, Shirley Hennessey. Shirley als Vorname für einen Mann hielt jeder nur so lange für witzig, bis er sich mit dem realen Beispiel konfrontiert sah. In dem Moment hatten noch alle entschieden, ihre Belustigung für sich zu behalten.
»Woher soll ich das wissen?«, fragte ich berechtigterweise. »Er hat wahrscheinlich bei irgendeiner Frau die Uhrzeit verschlafen.« Shirley, den alle Welt nur als Catfish kannte, hatte noch nie zuvor hier angerufen, um Jason aufzuspüren. Eigentlich wäre ich sogar höchst überrascht gewesen, wenn er überhaupt je irgendwo angerufen hätte. In einem war Jason wirklich perfekt, und das war, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen und wenigstens den Anschein von Betriebsamkeit zu erwecken, bis Feierabend war. Im Grunde war Jason sogar ganz gut in seinem Job, den ich nie so richtig begriffen hatte. Es schien irgendwas damit zu tun zu haben, dass er seinen Pick-up an der Landstraße unserer Gemeinde parkte, in einen anderen Truck mit dem Logo des Landkreises Renard umstieg und darin herumfuhr, um verschiedenen Straßenbautrupps zu erzählen, was sie zu tun hatten. Ein wichtiger Bestandteil des Jobs war anscheinend auch, dass er aus dem Truck ausstieg, um mit den anderen Männern zusammen herumzustehen und in große Löcher in oder nahe bei der Straße zu starren.
Meine Offenheit hatte Catfish etwas aus dem Konzept gebracht. »Sookie, solche Sachen solltest du aber nicht sagen«, erklärte er, sehr schockiert darüber, dass eine unverheiratete Frau frei heraus aussprach, dass ihr Bruder keine Jungfrau mehr war.
»Wollen Sie mir etwa erzählen, dass Jason nicht zur Arbeit erschienen ist? Und deshalb rufen Sie hier an?«
»Ja und ja«, sagte Catfish, der in keiner Hinsicht ein Dummkopf war. »Ich habe sogar Dago zu ihm nach Hause geschickt.« Dago (eine nicht sehr nette Bezeichnung für italienische Einwanderer) war Antonio Guglielmi, der in seinem Leben noch nie weiter als ein paar Kilometer aus Louisiana herausgekommen war. Und ich war mir ziemlich sicher, dass das Gleiche auch für seine Eltern galt und wahrscheinlich auch für seine Großeltern, obwohl ein Gerücht besagte, dass die mal in Branson im Kino gewesen waren. Als Straßenbauer musste man mit solchen Spitznamen rechnen.
»War sein Pick-up denn da?« Mich beschlich langsam, aber sicher das kalte Grausen.
»Ja«, sagte Catfish. »Der parkte vor seinem Haus, der Schlüssel steckte. Und die Tür stand offen.«
»Die Tür vom Pick-up oder die Haustür?«
»Was?«
»Was stand offen? Welche Tür?«
»Oh, die vom Pick-up.«
»Das klingt nicht gut, Catfish«, sagte ich. Mittlerweile zitterte ich richtig.
»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«
»Gestern Abend. Er war kurz bei mir, und gegangen ist er etwa um ... das muss so um halb zehn oder zehn gewesen sein.«
»War irgendjemand bei ihm?«
»Nein.«
Das war die reine Wahrheit, er hatte niemanden dabeigehabt.
»Meinst du, ich sollte den Sheriff verständigen?«, fragte Catfish.
Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht. So weit war ich noch nicht, ganz egal wie katastrophal die Situation auch zu sein schien. »Warten wir noch eine Stunde«, schlug ich vor. »Wenn er innerhalb der nächsten Stunde nicht zur Arbeit erscheint, lassen Sie es mich wissen. Wenn er auftaucht, soll er mich anrufen. Und es ist wohl eher meine Aufgabe, den Sheriff zu benachrichtigen, falls es nötig ist.«
Ich legte auf, nachdem Catfish alle Einzelheiten der Geschichte noch mehrere Male wiederholt hatte, einfach weil er sich davor fürchtete, aufzulegen und mit seinen Sorgen allein zu sein. Nein, übers Telefon kann ich keine Gedanken lesen, aber ich konnte es an seiner Stimme hören. Schließlich kannte ich Catfish Hennessey schon viele Jahre. Er war ein Freund meines Vaters gewesen.
Ich nahm das schnurlose Telefon mit ins Badezimmer, wo ich erst mal duschte, um wach zu werden. Mein Haar wusch ich nicht, es hätte ja sein können, dass ich jeden Augenblick das Haus verlassen musste. Ich zog mich an, kochte mir einen Kaffee und flocht mein Haar zu einem langen Zopf. Und während ich all diese Aufgaben erledigte, dachte ich nach - was mir immer schwer fällt, wenn ich still sitze.
Drei mögliche Szenarien fielen mir ein.
Erstens. (Dieses gefiel mir am besten.) Irgendwo auf dem Weg von meinem Haus zu seinem Haus hatte mein Bruder eine Frau getroffen und sich so augenblicklich und total in sie verliebt, dass er mit seiner jahrelangen Gewohnheit gebrochen und einfach vergessen hatte, zur Arbeit zu gehen. Und in diesem Moment lagen die beiden irgendwo im Bett und hatten großartigen Sex miteinander.
Zweitens. Die Hexen, oder was immer zum Teufel sie auch waren, hatten irgendwie herausgefunden, dass Jason Erics Aufenthaltsort kannte, und ihn entführt, um ihm die Information gewaltsam zu entreißen. (Ich nahm mir vor, unbedingt mehr über Hexen in Erfahrung zu bringen.) Wie lange würde Jason Erics Unterschlupf geheim halten können? Mein Bruder spielt sich oft ziemlich auf, aber eigentlich ist er ein tapferer Kerl - oder vielleicht trifft »stur« es etwas genauer. Es war sicher nicht leicht, etwas aus ihm herauszuholen. Ob eine Hexe ihn durch Verzauberung zum Reden zwingen konnte? Wenn die Hexen ihn hatten, war er vielleicht sogar schon tot, da er bereits seit Stunden verschwunden war. Und wenn er geredet hatte, war ich in Gefahr und Eric verloren. Sie könnten jede Minute auftauchen, zumal Hexen nicht an die Dunkelheit gebunden waren. Eric war tagsüber tot, wehrlos. Dies war eindeutig das schlimmste Szenario.
Drittens. Jason war mit Pam und Chow nach Shreveport gefahren. Vielleicht hatten sie ihm einen Vorschuss gezahlt oder vielleicht wollte er das Fangtasia besuchen, einfach weil es ein beliebter Nachtclub war. Dort könnte er von irgendeiner verführerischen Vampirin becirct worden sein und die ganze Nacht mit ihr verbracht haben. Denn in dieser Hinsicht war Jason wie Eric, die Frauen flogen geradezu auf ihn. Und falls sie ihm etwas zu viel Blut ausgesaugt hatte, musste er sich erst mal ausschlafen. Okay, das dritte Szenario war eigentlich nur eine Variation des ersten.
Wenn Pam und Chow wussten, wo Jason war, aber nicht angerufen hatten, ehe sie ihren Tagestod starben, war ich richtig, richtig sauer. Der Impuls packte mich, zur Axt zu greifen und gleich mal ein paar Pfahlpflöcke zu schnitzen.
Doch dann erinnerte ich mich an das, was ich so unbedingt zu vergessen versuchte: wie es sich angefühlt hatte, als ich den Pfahl in Lorenas Körper trieb; der Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie begriff, dass ihr langes Leben nun zu Ende ging. Ich schob diesen Gedanken mit aller Kraft von mir. Niemand tötet jemand anderen (nicht einmal eine bösartige Vampirin), ohne dass es einen früher oder später emotional einholt: es sei denn, man ist ein totaler Soziopath - was ich nicht war.
Lorena hätte mich getötet, ohne mit der Wimper zu zucken. Und sie hätte es bestimmt noch genossen. Andererseits war sie eine Vampirin, und Bill war nie müde geworden, mir zu erklären, dass Vampire nun einmal anders waren, dass sie zwar ihre (mehr oder weniger) menschliche Gestalt bewahrten, ihre inneren Funktionen und ihre Persönlichkeit aber radikalen Veränderungen unterlagen. Ich hatte ihm das geglaubt und mir seine Warnungen zu Herzen genommen, größtenteils jedenfalls. Doch sie sahen so menschlich aus, und es war so leicht, ihnen auch ganz normale menschliche Reaktionen und Gefühle zuzuschreiben.
Ich war frustriert, weil Chow und Pam nicht vor der Dämmerung aufstanden und ich nicht wusste, wen - oder was - ich aufschrecken würde, wenn ich tagsüber im Fangtasia anrief. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die beiden im Club wohnten. Ich hatte eher den Eindruck, Pam und Chow bewohnten gemeinsam ein Haus ... oder ein Mausoleum ... irgendwo in Shreveport.
Ich war ziemlich sicher, dass tagsüber menschliche Angestellte zum Saubermachen in den Club kamen, aber Menschen würden (könnten) mir natürlich nichts über die Angelegenheiten der Vampire erzählen. Menschen, die für Vampire arbeiteten, lernten sehr schnell, den Mund zu halten. Das konnte ich selbst bestätigen.
Andererseits hätte ich, wenn ich zum Club fuhr, die Möglichkeit, irgendjemanden von Angesicht zu Angesicht zu sprechen. Und ich hätte die Möglichkeit, die Gedanken eines Menschen zu lesen. Die Gedanken von Vampiren konnte ich nicht lesen, was anfangs übrigens einen Großteil von Bills Anziehungskraft auf mich ausgemacht hatte. Stellt euch bloß diese Erleichterung über absolute Stille vor, nach einem Leben voll akustischer Dauerberieselung. (Und warum konnte ich keine Vampirgedanken lesen? Hier meine eigene Theorie zu dem Thema. Ich bin in etwa so wissenschaftlich gebildet wie eine Salzstange, habe aber einiges über diese Neuronen gelesen, die in unserem Gehirn an den Synapsen feuern, okay? Jetzt denke mal jeder selbst nach. Da Vampire nur durch Magie zum Dasein erwachen, und nicht mittels normaler Lebenskräfte, feuert da eben nichts in ihrem Gehirn. Also kann ich auch nichts aufschnappen - bloß so etwa alle drei Monate erreicht mich mal eine Art Gedankenblitz eines Vampirs. Und ich habe mir immer größte Mühe gegeben, das zu verbergen, denn das wäre der direkte Weg in den sicheren Tod.)
Seltsamerweise war der einzige Vampir, den ich je zweimal >gehört< hatte - Eric, wer sonst.
Gestern Abend war ich mit Eric genauso gern zusammen gewesen wie früher mit Bill, abgesehen von meiner Liebesbeziehung zu Bill natürlich. Selbst Arlene hatte eine Tendenz, mir nicht mehr zuzuhören, wenn ich ins Erzählen kam, sobald ihr etwas Interessanteres einfiel, wie die Schulnoten ihrer Kinder oder was die wieder Niedliches gesagt hatten. Aber falls Eric darüber nachdachte, dass sein Auto neue Scheibenwischer brauchte, während ich ihm mein Herz ausschüttete, so erfuhr ich es wenigstens nicht.
Die Stunde Aufschub, um die ich Catfish gebeten hatte, war fast herum. All meine konstruktiven Gedanken schrumpften auf die immer gleiche düstere Grübelei zusammen. Blablabla. Das kommt dabei heraus, wenn man zu oft Selbstgespräche führt.
Okay, Zeit, etwas zu unternehmen.
Das Telefon klingelte nach genau einer Stunde, und Catfish musste zugeben, dass er keine Neuigkeiten hatte. Niemand hatte etwas von Jason gehört oder ihn gesehen. Andererseits hatte Dago auch nichts Verdächtiges bei Jasons Haus bemerkt, mal abgesehen von dem offen stehenden Pick-up.
Es widerstrebte mir immer noch, den Sheriff zu verständigen, aber ich wusste, dass mir gar nichts anderes übrig blieb. Wenn ich ihn jetzt nicht anrief, würde das doch ziemlich merkwürdig wirken.
Ich erwartete jede Menge Aufregung und Wirbel; was mir entgegenschlug, war jedoch noch viel schlimmer: freundliche Gleichgültigkeit. Sheriff Bud Dearborn lachte eigentlich bloß.
»Du rufst mich an, weil dein Bruder, der alte Weiberheld, mal einen Tag in der Arbeit fehlt? Sookie Stackhouse, ich muss mich doch sehr wundern.« Bud Dearborn hatte eine langsame Redeweise und das eingedrückte Gesicht eines Pekinesen, und ich sah sofort vor meinem geistigen Auge, wie er ins Telefon hinein schnüffelte.
»Er fehlt nie in der Arbeit, und sein Pick-up steht zu Hause. Die Tür war offen«, erklärte ich.
Die Tragweite dessen begriff er, denn Bud Dearborn war ein Mann, der einen schönen Pick-up zu schätzen wusste.
»Stimmt, das ist ein bisschen komisch, aber trotzdem, Jason ist weit über einundzwanzig, und er steht im Ruf...« (Alles zu bumsen, was zwei Minuten still steht, dachte ich.) »... bei den Ladys sehr beliebt zu sein«, beendete Bud vorsichtig seinen Satz. »Ich wette, er ist ganz hin und weg von irgendeiner Neuen, und es wird ihm richtig leid tun, dass du dir solche Sorgen gemacht hast. Ruf mich noch mal an, wenn du bis morgen Nachmittag nichts von ihm gehört hast, ja?«
»Okay«, sagte ich im kältesten Ton, zu dem ich fähig war.
»Komm, Sookie, jetzt sei doch nicht sauer auf mich. Ich sage dir nur, was dir jeder andere Polizist auch sagen würde.«
Jeder Polizist mit Bleihintern, dachte ich. Aber ich sprach es nicht laut aus. Außer Bud war keiner im Angebot, und ich sollte mich besser gut mit ihm stellen.
Ich murmelte irgendetwas halbwegs Höfliches und legte den Hörer auf. Nachdem ich Catfish davon berichtet hatte, entschied ich, dass mir nur eine Möglichkeit blieb, und zwar nach Shreveport zu fahren. Ich wollte schon Arlene anrufen, erinnerte mich jedoch, dass ihre Kinder sicher zu Hause waren, weil sie noch Schulferien hatten. Dann fiel mir Sam ein. Doch er würde sich verpflichtet fühlen, irgendetwas zu unternehmen, und ich konnte mir selbst nicht genau vorstellen, was das sein sollte. Ich wollte einfach bloß mit jemandem meine Sorgen teilen. Ich wusste, dass das nicht richtig war. Keiner konnte mir helfen, nur ich selbst. Als ich mich schließlich dazu durchgerungen hatte, tapfer und selbstständig zu sein, hätte ich trotzdem beinahe Alcide Herveaux angerufen, einen wohlhabenden und hart arbeitenden Typen in Shreveport. Alcides Vaters besaß eine Baufirma, die in drei verschiedenen Staaten Filialen hatte, und so reiste Alcide häufig zwischen den verschiedenen Büros hin und her. Ich hatte ihn am Abend vorher Eric gegenüber erwähnt; Eric hatte mich zusammen mit Alcide nach Jackson geschickt. Aber zwischen Alcide und mir war so eine Mann-Frau-Geschichte gelaufen, die noch nicht geklärt war, und es wäre nicht in Ordnung, wenn ich ihn nur anrief, um ihm von einer Sache zu erzählen, bei der er mir ohnehin nicht helfen konnte. Wenigstens empfand ich das so.
Ich machte mir Sorgen, dass eine Nachricht von Jason kommen könnte, während ich weg war. Aber der Sheriff suchte ja nicht nach ihm, also würde ich wohl nicht so bald etwas hören.
Ehe ich ging, achtete ich noch darauf, dass der Schrank im kleinen Schlafzimmer auch wirklich aufgeräumt aussah und alles völlig normal wirkte. Sollte ich Eric eine Nachricht hinterlassen? Dann wäre er sofort verraten, falls jemand einbrach. Ans Telefon würde er nicht gehen, dazu war er zu klug. Durch seinen Gedächtnisverlust war er allerdings auch derart verwirrt, dass es ihn erschrecken würde, wenn er sich nach seinem Erwachen ganz allein im Haus wiederfand, ohne eine Erklärung für meine Abwesenheit, dachte ich.
Dann hatte ich einen Geistesblitz. Ich griff nach einem kleinen quadratischen Blatt Papier, einem >Wort des Tages< aus dem Kalender des Vorjahres (>Obsession<), und schrieb:
Jason, solltest du zufällig hier hereinschauen, ruf mich an! Ich mache mir große Sorgen um dich. Keiner weiß, wo du bist. Ich bin am Nachmittag oder am Abend wieder zurück. Ich fahre jetzt mal bei dir zu Hause vorbei, und dann schaue ich, ob du nach Shreveport gefahren bist. Danach komme ich zurück. Alles Liebe, Sookie.
Ich klebte den Zettel mit Tesafilm an den Kühlschrank, genau dorthin also, wohin der Weg einen Bruder als Erstes führen würde, wenn er bei seiner Schwester hereinschaute.
So. Eric war auf jeden Fall gewitzt genug, zwischen den Zeilen zu lesen. Und dennoch klang es alles auch in sich plausibel. Sollte also jemand einbrechen und das Haus durchsuchen, würde der Zettel wie eine reine Vorsichtsmaßnahme wirken.
Dennoch hatte ich Angst, den schlafenden und so angreifbaren Eric allein zu lassen. Was, wenn die Hexen kamen?
Aber warum sollten sie?
Wenn sie Erics Spur gefunden hätten, wären sie doch längst hier. Zumindest wollte ich das glauben. Ich überlegte, ob ich Terry Bellefleur anrufen und bitten sollte, das Haus zu hüten - er war enorm stark, und als Ausrede könnte ich vorschieben, dass ich jemanden brauchte, um das Telefon zu bewachen. Doch es war nicht fair, jemand anderen zu Erics Schutz in Gefahr zu bringen.
Ich rief in jedem Krankenhaus im Umkreis an, mit dem Gefühl, dass der Sheriff mir wenigstens diese kleine Aufgabe hätte abnehmen können. In den Krankenhäusern kannten sie die Namen aller neu Aufgenommenen, aber keiner von ihnen war Jason. Ich rief bei der Verkehrspolizei an, fragte nach den Unfällen der letzten Nacht und fand heraus, dass es in der Umgebung keine gegeben hatte. Ich rief ein paar Frauen an, mit denen Jason mal zusammen gewesen war, und erhielt eine ganze Menge abweisender Antworten, einige davon sogar obszön.
Damit war alles Grundsätzliche erledigt. Jetzt konnte ich zu Jasons Haus fahren, und ich war einigermaßen stolz auf mich, als ich die Hummingbird Road Richtung Norden entlangfuhr und dann nach links abbog. Während ich westwärts auf das Haus zusteuerte, in dem ich die ersten sieben Jahre meines Lebens verbracht hatte, ließ ich Merlotte's Bar rechts liegen und fuhr an der großen Abfahrt nach Bon Temps vorbei. Ich nahm die linke Abzweigung, und da sah ich unser altes Zuhause auch schon, gut zu erkennen an Jasons Pick-up, der direkt davor parkte. Daneben stand ein anderer, genauso glänzender Pick-up, etwa sechs Meter entfernt von Jasons Wagen.
Als ich aus dem Auto ausstieg, überprüfte ein sehr schwarzer Mann gerade den Boden rund um Jasons Pick-up. Erstaunt erkannte ich, dass der zweite Wagen Alcee Beck gehörte, dem einzigen afroamerikanischen Detective der Bezirkspolizei. Alcees Anwesenheit wirkte sowohl beruhigend als auch verwirrend auf mich.
»Miss Stackhouse«, sagte er ernst. Alcee Beck trug ein Jackett, Hosen mit Bügelfalte und abgewetzte Stiefel. Die Stiefel passten nicht zum Rest seiner Kleidung, und ich hätte wetten mögen, dass er sie in seinem Pick-up aufbewahrte und nur anzog, wenn er mal irgendwo auf dem Land herumstapfen musste, wo es reichlich Schlamm gab. Alcee (dessen Name Al-ßej ausgesprochen wurde) war außerdem ein starker »Sender«, und ich konnte seine Gedanken sehr klar erkennen, wenn ich mich aufs Zuhören konzentrierte.
Kurz zusammengefasst erfuhr ich so, dass Alcee Beck nicht erfreut war, mich hier anzutreffen, dass er mich nicht mochte und glaubte, Jason sei etwas zugestoßen. Mein Bruder war Detective Beck völlig egal, aber vor mir hatte er Angst. Er fand, ich sei eine zutiefst unheimliche Person, und er ging mir aus dem Weg, wo er nur konnte.
Was mir nur recht war, um ehrlich zu sein.
Ich wusste mehr über Alcee Beck, als mir lieb war, und was ich über Alcee wusste, war alles andere als angenehm. Unkooperativen Gefangenen gegenüber verhielt er sich brutal, obwohl er seine Frau und seine Tochter auf Händen trug. Er hielt die Hand auf, wann immer sich ihm die Gelegenheit bot; und er sorgte dafür, dass sich diese Gelegenheiten ziemlich regelmäßig boten. Alcee Beck beschränkte seine Praktiken allerdings auf die afroamerikanischen Mitbürger, denn seine Theorie besagte, die würden ihn nicht an seine weißen Kollegen verpfeifen - womit er bislang Recht hatte.
Ist jetzt klar, was ich meinte, als ich sagte, dass ich all diese Dinge eigentlich gar nicht hören möchte? Das hier war etwas ganz anderes als zu erfahren, dass Arlene Charlsies Ehemann nicht gut genug für Charlsie fand oder dass Hoyt Fortenberry beim Ausparken einem anderen Auto eine Delle verpasst und es dem Besitzer nicht gesagt hatte.
Und ehe jetzt jemand fragt, was ich tue, wenn ich so etwas erfahre, sage ich es lieber gleich. Ich halte einfach die Klappe. Ich habe auf übelste Weise erlebt, dass es fast nie funktioniert, wenn ich versuche mich einzumischen. Keiner wird dadurch glücklicher, stattdessen gerät nur meine Seltsamkeit in den Mittelpunkt des Interesses und einen Monat lang fühlt sich niemand wohl in meiner Gegenwart. Bei mir liegen mehr Geheimnisse als Geld in Fort Knox. Und diese Geheimnisse werden ganz genauso streng gehütet.
Zugegeben, das meiste davon hätte im großen Lauf der Dinge nicht viel Unterschied gemacht, Alcees mieses Verhalten führte dagegen zu echtem menschlichem Elend. Bislang hatte ich jedoch noch keine einzige Idee gehabt, wie Alcee zu stoppen wäre. Er war ziemlich clever, wenn es darum ging, seine Aktivitäten zu kontrollieren und vor denen zu verbergen, die ihm dazwischenfunken könnten. Und ich war gar nicht sicher, ob Bud Dearborn tatsächlich nichts wusste.
»Detective Beck«, sagte ich. »Suchen Sie nach Jason?«
»Der Sheriff hat mich gebeten, hier mal vorbeizufahren und nachzusehen, ob mir irgendwas Ungewöhnliches auffällt.«
»Und ist Ihnen etwas aufgefallen?«
»Nein, Ma'am, nichts.«
»Hat Jasons Boss Ihnen erzählt, dass die Tür seines Pick-up offen stand?«
»Ich habe sie zugemacht, damit sich die Batterie nicht völlig verbraucht. Dabei habe ich natürlich aufgepasst und nichts angefasst. Aber ich bin sicher, Ihr Bruder taucht hier jede Minute wieder auf.«
»Ich habe einen Schlüssel zu seinem Haus und möchte Sie bitten, mich hineinzubegleiten.«
»Nehmen Sie an, dass Ihrem Bruder in seinem Haus etwas zugestoßen ist?« Alcee Beck sprach jedes Wort so deutlich aus, dass ich mich fragte, ob er in seiner Jacketttasche einen Kassettenrecorder laufen ließ.
»Könnte sein. Er fehlt normalerweise nicht bei der Arbeit. Nein, er fehlt nie bei der Arbeit. Und ich weiß immer, wo er ist. Mich auf dem Laufenden halten, das kann er richtig gut.«
»Würde er Ihnen auch erzählen, dass er mit einer Frau abhauen will? Die meisten Brüder täten so was wohl eher nicht, Miss Stackhouse.«
»Er würde es mir erzählen, oder er würde es Catfish erzählen.«
Alcee Beck tat sein Bestes, um die skeptische Miene in seinem dunklen Gesicht aufrechtzuerhalten. Doch so leicht wollte ihm das nicht gelingen.
Das Haus war abgeschlossen. Ich suchte den richtigen Schlüssel an meinem Schlüsselbund, und wir gingen hinein. Ich empfand kein Gefühl von Nachhausekommen, als ich eintrat, jenes Gefühl, das ich als Kind stets empfunden hatte. Mittlerweile lebte ich schon so viel länger in Großmutters Haus als hier. Als Jason zwanzig wurde, war er sofort hierher gezogen; und obwohl ich immer mal vorbeischaute, hatte ich in den letzten acht Jahren wohl kaum mehr als vierundzwanzig Stunden insgesamt in diesem Haus verbracht.
Ich blickte mich um. Mein Bruder hatte das Haus in all den Jahren nicht sehr verändert. Es war ein kleines Haus im Ranchstil mit kleinen Zimmern, und natürlich war es längst nicht so alt wie Großmutters Haus - mein Haus - und viel besser zu heizen und kühl zu halten. Mein Vater hatte das meiste selbst gemacht, und er war ein guter Handwerker gewesen.
In dem kleinen Wohnzimmer standen noch die Ahornmöbel, die meine Mutter einst im Discount-Möbelhaus ausgesucht hatte, und die Polster (cremefarben mit grünen und blauen Blumen, wie es sie in der Natur so nicht gab) waren immer noch von leuchtender Farbe, leider. Es hatte Jahre gedauert, bis mir klar wurde, dass meine Mutter zwar in mancherlei Hinsicht eine clevere Frau gewesen war, aber leider überhaupt gar keinen Geschmack gehabt hatte. Jason hatte das bis heute nicht begriffen. Er hatte die Vorhänge ersetzt, als sie ausgefranst und ausgeblichen waren, und er hatte einen neuen Vorleger gekauft, um die abgetretenen Stellen des alten blauen Teppichs zu überdecken. Die Haushaltsgeräte waren alle neu, und er hatte sich viel Arbeit mit der Renovierung des Badezimmers gemacht. Doch meine Eltern hätten sich, könnten sie das Haus noch einmal betreten, dort sicher ziemlich wohl gefühlt.
Mit einem Schock wurde mir bewusst, dass sie bereits seit fast zwanzig Jahren tot waren.
Während ich in der Nähe der Tür stehen blieb und betete, ich möge nirgends Blutflecken sehen, strich Alcee Beck durchs Haus. Nach einer Sekunde der Unentschlossenheit folgte ich ihm. Es gab nicht viel zu sehen; wie gesagt, es ist ein kleines Haus. Drei Schlafzimmer (zwei davon winzig), eine Küche, ein Badezimmer, ein recht großes Wohnzimmer und ein kleines Esszimmer: ein Haus, wie es zu Dutzenden in jeder amerikanischen Stadt zu finden war.
Das Haus war ziemlich aufgeräumt. Jason hatte nie wie ein Schwein gehaust, auch wenn er sich manchmal wie eines benahm. Sogar das extra große Bett, das das größte Schlafzimmer fast ganz ausfüllte, war mehr oder weniger gemacht; die Laken waren schwarz und glänzend. Es sollte wie Seide wirken, ich war aber sicher, dass es sich um irgendeine Kunstfaser handelte. Wäre mir zu rutschig.
»Kein Hinweis auf irgendeinen Kampf«, betonte der Detective.
»Wenn ich schon hier bin, nehme ich gleich noch etwas mit«, sagte ich und ging zum Waffenschrank hinüber, der meinem Vater gehört hatte. Er war verschlossen, also sah ich noch mal an meinem Schlüsselbund nach. Ja, dafür besaß ich auch einen Schlüssel. Dunkel erinnerte ich mich an irgendeine lange Geschichte, mit der Jason mir erklärt hatte, warum ich diesen Schlüssel brauchte - für den Fall, dass er mal draußen auf der Jagd war und ein anderes Gewehr benötigte oder irgend so was. Als ob ich einfach alles stehen und liegen lassen würde, um für ihn ein anderes Gewehr zu holen!
Na, vielleicht doch, wenn ich nicht gerade zur Arbeit musste oder so.
Jasons Gewehre, und auch die meines Vaters, waren vollzählig im Schrank - wie auch all die erforderliche Munition.
»Alles da?« Der Detective stand in der Tür zum Esszimmer und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
»Ja. Ich werde eins davon mit nach Hause nehmen.«
»Erwarten Sie irgendwelchen Ärger?« Zum ersten Mal sah Beck interessiert aus.
»Wer weiß, was es mit Jasons Verschwinden auf sich hat?«, fragte ich und hoffte, dass das vieldeutig genug klang. Beck hielt ohnehin sehr wenig von meiner Intelligenz, ungeachtet dessen, dass er mich fürchtete. Jason hatte versprochen, mir die Schrotflinte zu bringen, und ich wusste, ich würde mich besser fühlen, wenn ich sie erst im Haus hatte. Also holte ich die Benelli heraus und fand auch die richtigen Patronen. Jason hatte mir sehr sorgfältig beigebracht, wie eine Schrotflinte geladen und abgefeuert wurde - sie war sein Stolz und seine Freude.
»Wow, eine Benelli.« Detective Beck nahm sich die Zeit und bewunderte das Gewehr eingehend. »Das da ist die Munition dafür.«
Ich steckte die Schachtel, auf die er gedeutet hatte, in meine Tasche. Dann trug ich die Schrotflinte hinaus zu meinem Auto, Beck trottete hinter mir her.
»Sie müssen die Schrotflinte im Kofferraum einschließen und die Patronen vorn im Auto«, ließ mich der Detective wissen. Ich tat genau das, was er gesagt hatte, legte die Patronen sogar ins Handschuhfach, und drehte mich dann zu ihm herum. Er würde froh sein, wenn er mich endlich los war, und ich glaubte nicht, dass er mit großem Einsatz weiter nach Jason suchen würde.
»Haben Sie auch hinten nachgesehen?«, fragte ich.
»Ich war gerade erst angekommen, als Sie auftauchten.«
Mit einer Kopfbewegung deutete ich zu dem kleinen Teich hinter dem Haus, und vorsichtig gingen wir ums Haus herum. Vor zwei Jahren hatte mein Bruder mit Hoyt Fortenberrys Hilfe eine große Veranda an der Rückseite angebaut. Dort waren ein paar schöne Gartenmöbel aufgestellt, die er im Ausverkauf bei Wal-Mart ergattert hatte. Für seine Freunde, die zum Rauchen hinausgingen, hatte Jason sogar einen Aschenbecher auf den schmiedeeisernen Tisch gestellt. Irgendwer hatte ihn benutzt. Hoyt rauchte, erinnerte ich mich. Sonst war auf der Veranda nichts Auffälliges zu sehen.
Der Boden fiel von der Veranda zum Teich hin etwas ab. Während Alcee Beck die Hintertür überprüfte, schaute ich zu dem Steg hinunter, den noch mein Vater gebaut hatte, und sah dort einen verschmierten Fleck auf dem Holz. Bei diesem Anblick krampfte sich irgendetwas in mir zusammen, und ich muss einen Laut ausgestoßen haben. Plötzlich stand Alcee neben mir, und ich sagte: »Sehen Sie sich den Steg an.«
Er war sofort ganz Aufmerksamkeit, wie ein Jagdhund. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte er in unmissverständlich offiziellem Tonfall. Vorsichtig bewegte er sich vorwärts und suchte vor jedem Schritt den Boden um seine Füße mit den Augen ab. Es schien mir eine Stunde zu dauern, bis Alcee endlich den Steg erreichte. Auf den von der Sonne ausgeblichenen Holzbohlen ging er in die Hocke und sah sich die Sache von nahem an. Er konzentrierte seinen Blick auf etwas rechts neben dem Schmierfleck und versuchte es einzuordnen. Ich konnte weder sehen, was es war, noch konnte ich es in seinen Gedanken ausmachen. Doch als er überlegte, was für Schuhe mein Bruder wohl bei der Arbeit trug, kam das klar und deutlich bei mir an.
»Caterpillars«, rief ich. Angst breitete sich in mir aus, bis ich spürte, wie sie meinen ganzen Körper erzittern ließ. Jason war alles, was ich hatte.
Und dann merkte ich, dass ich einen Fehler begangen hatte, der mir schon seit Jahren nicht mehr unterlaufen war: Ich hatte eine Frage beantwortet, ehe sie laut ausgesprochen worden war. Ich schlug mir die Hand vor den Mund und sah das Weiße in Becks Augen. Er wollte nur noch weg von mir. Und er dachte, dass Jason vielleicht im Teich lag, tot. Er vermutete, dass Jason gefallen, mit dem Kopf auf den Steg aufgeschlagen und dann ins Wasser geglitten war. Aber da war auch dieser rätselhafte Abdruck...
»Wann können Sie den Teich absuchen lassen?«, rief ich.
Er drehte sich zu mir um, nackte Angst im Gesicht. Seit Jahren hatte mich niemand mehr mit diesem Ausdruck angesehen. Ich hatte ihm einen Schreck eingejagt, obwohl das ganz und gar nicht meine Absicht gewesen war.
»Da ist Blut auf den Holzbohlen«, fügte ich hinzu, um die Sache etwas zu entspannen. Es war mir in Fleisch und Blut übergegangen, vernünftige Erklärungen zu liefern. »Ich habe Angst, dass Jason ins Wasser gefallen ist.«
Das schien Beck etwas zu beruhigen. Er richtete seinen Blick wieder aufs Wasser. Mein Vater hatte gerade diese Stelle für das Haus ausgesucht, weil er hier den Teich anlegen wollte. Als ich ein Kind war, hatte er mir erzählt, dass der Teich sehr tief sei und von einem kleinen Bach gespeist werde. Etwa zwei Drittel des Landes drum herum waren gerodet und wurden als Hofgelände genutzt, doch auf der anderen Seite reichte immer noch ein dichter Wald bis ans Ufer heran. Jason saß abends gern mit einem Fernglas auf der Veranda und beobachtete die Tiere, die zum Trinken hierher kamen.
Es waren auch Fische im Teich. Er hatte den Bestand selbst angesiedelt. Mir drehte sich der Magen um.
Schließlich kam der Detective wieder zur Veranda herauf. »Ich muss erst mal rumtelefonieren und sehen, wer tauchen kann«, sagte Alcee Beck. »Es kann eine Weile dauern, bis wir jemanden finden. Und der Sheriff muss sein Okay geben.«
Natürlich, so etwas kostete Geld, und der Betrag war wohl kaum im Gemeindebudget vorgesehen. Ich holte tief Luft. »Sprechen Sie von Stunden oder von Tagen?«
»Ein, zwei Tage wahrscheinlich«, sagte er schließlich. »So was kann auf keinen Fall jemand Ungeübtes tun. Es ist zu kalt, und Jason selbst hat mir erzählt, dass der Teich tief ist.«
»In Ordnung«, sagte ich und versuchte, meine Ungeduld und meine Wut zu unterdrücken. Die schiere Angst nagte an mir.
»Carla Rodriguez war gestern Abend in der Stadt«, erzählte Alcee Beck, und erst einen langen Augenblick später begriff ich, was das bedeutete.
Carla Rodriguez, zierlich und dunkel und elektrisierend, war die einzige Frau, an die Jason fast sein Herz verloren hätte. Die kleine Gestaltwandlerin, mit der er zu Silvester verabredet war, hatte ihr ziemlich ähnlich gesehen. Carla war zu meiner großen Erleichterung vor drei Jahren nach Houston gezogen. Ich hatte die explosiven Ausbrüche, die ihre Liebesaffäre mit meinem Bruder begleiteten, allmählich satt gehabt. Ihre Beziehung war gespickt gewesen mit langen und lauten und in aller Öffentlichkeit ausgetragenen Streitigkeiten, aufgeknallten Telefonhörern und zugeschlagenen Türen.
»So? Bei wem wohnt sie?«
»Bei ihrer Cousine in Shreveport«, sagte Beck. »Sie wissen schon, diese Dovie.«
Dovie Rodriguez war oft nach Bon Temps gekommen, als Carla hier wohnte. Die kultivierte Cousine aus der Stadt, die aufs Land kam, um uns Bauerntölpeln Lebensart beizubringen. Natürlich hatten wir alle Dovie beneidet.
Ich fand, mich mit Dovie anlegen war eigentlich genau das, was ich jetzt tun wollte.
Es sah ganz danach aus, als würde ich doch nach Shreveport fahren.