Kapitel 11

Erstaunlicherweise schlief ich tatsächlich. Als ich aufwachte, lag Eric neben mir auf dem Bett und beschnupperte mich.

»Sookie, was ist das?«, fragte er sehr leise. Er wusste natürlich, wann ich erwachte. »Du riechst nach Wald, und du riechst nach Gestaltwandler. Und nach etwas noch Wilderem.«

Der Gestaltwandler, den er roch, war vermutlich Sam. »Und nach Werwolf«, fügte ich hinzu, weil ich nicht wollte, dass ihm etwas entging.

»Nein, Werwolf nicht«, erwiderte er.

Das verblüffte mich. Calvin hatte mich über das dornige Gestrüpp gehoben, und sein Geruch musste eigentlich noch an mir sein.

»Verschiedene Gestaltwandler«, sagte Eric in das fast vollständige Dunkel meines Zimmers hinein. »Wo warst du, Geliebte, und was hast du getan?«

Er klang nicht richtig verärgert, aber glücklich klang er auch nicht. Vampire! Sie haben das Wort Besitzanspruch erfunden.

»Ich habe an der Suche nach meinem Bruder teilgenommen, im Wald hinter seinem Haus«, antwortete ich.

Eric schwieg eine Minute. Dann schloss er mich in die Arme und drückte mich fest an sich. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich weiß ja, dass du dir Sorgen machst.«

»Ich möchte dich etwas fragen«, entgegnete ich und ergriff die Gelegenheit, eine meiner Theorien zu testen.

»Natürlich.«

»Schau in dich hinein, Eric. Tut es dir wirklich und wahrhaftig leid? Machst du dir Sorgen um Jason?« Den echten Eric hätte das Verschwinden meines Bruders nicht die Bohne interessiert.

»Natürlich«, beteuerte er. Und eine ganze Weile später - hätte ich nur sein Gesicht sehen können -, sagte er dann: »Eigentlich nicht.« Er klang selbst überrascht. »Ich weiß, dass es mir leidtun sollte. Ich sollte mir Sorgen um deinen Bruder machen, weil ich so gern Sex mit dir habe. Denn ich möchte, dass du nur das Beste von mir denkst, damit du den Sex auch willst.«

Diese Aufrichtigkeit war doch einfach bewundernswert. Hier war er dem echten Eric so ähnlich wie schon seit Tagen nicht.

»Aber du hörst mir zu? Wenn ich darüber sprechen möchte? Aus demselben Grund?«

»Natürlich, Geliebte.«

»Weil du Sex mit mir haben möchtest.«

»Ja, natürlich. Aber auch, weil ich glaube, dass ich wirklich ...« Er hielt inne, als stünde er kurz davor, etwas Ungeheuerliches auszusprechen. »Ich glaube, dass ich wirklich etwas für dich empfinde.«

»Oh«, murmelte ich an seiner Brust und klang genauso überrascht wie Eric. Seine Brust war nackt, wie vermutlich auch der ganze Rest von ihm. An meiner Wange spürte ich einen Hauch gekräuselter blonder Haare.

»Eric«, begann ich nach einer langen Pause, »ich gebe es nicht gern zu, aber auch ich empfinde etwas für dich.« Ich hatte Eric noch so viel zu erklären, und eigentlich sollten wir längst mit dem Auto auf dem Weg nach Shreveport sein. Doch diesen Moment gönnte ich mir, um dies kleine Stück vom Glück ganz auszukosten.

»Nicht richtige Liebe«, sagte er. Seine Finger mühten sich, meine Kleider abzustreifen.

»Nein, aber etwas sehr nah daran.« Ich half ihm. »Wir haben nicht viel Zeit, Eric«, sagte ich, griff hinunter, berührte ihn, und er stöhnte auf. »Also lass es uns gut machen.«

»Küss mich«, sagte er, und er sprach nicht von seinem Mund. »Dreh dich so herum«, flüsterte er, »ich möchte dich auch küssen.«

Es dauerte nicht lange, und wir hielten einander in den Armen, befriedigt und glücklich.

»Was ist passiert?«, fragte er. »Irgendetwas macht dir Angst, das weiß ich.«

»Wir müssen nach Shreveport fahren«, sagte ich. »Wir sind schon später dran, als Pam mir am Telefon aufgetragen hat. Heute Nacht ist es so weit, wir treten an gegen Hallow und ihre Hexen.«

»Dann musst du hier bleiben«, erwiderte er sofort.

»Nein«, sagte ich sanft und legte ihm eine Hand auf die Wange. »Nein, Lieber, ich muss mit dir gehen.« Ich erzählte ihm nicht, dass Pam es für eine gute Idee hielt, meine Fähigkeiten für diesen Kampf zu nutzen. Ich erzählte ihm auch nicht, dass er als Kampfmaschine eingesetzt werden sollte. Und noch viel weniger erzählte ich ihm, dass heute Nacht ganz sicher jemand sterben würde; vielleicht würde es sogar mehrere Tote geben, Menschen, Werwölfe und Vampire. Wahrscheinlich war es das letzte Mal, dass ich Eric mit einem Kosewort anredete. Und wahrscheinlich war es auch das letzte Mal, dass Eric in meinem Haus erwachte. Einer von uns würde vielleicht diese Nacht nicht überleben; und wenn wir überlebten, wussten wir nicht, wie verändert wir aus ihr hervorgehen würden.

Auf der Fahrt nach Shreveport fiel kein Wort. Schon als wir uns wuschen und anzogen, hatten wir kaum geredet. Mindestens siebenmal dachte ich daran, sofort nach Bon Temps umzukehren, mit oder ohne Eric.

Aber ich tat es nicht.

Erics Fähigkeiten erstreckten sich leider nicht aufs Kartenlesen, und so musste ich am Straßenrand anhalten und einen

Blick auf meinen Stadtplan von Shreveport werfen, um Parchman Avenue 714 zu finden. (Irgendwie hatte ich angenommen, Eric könnte sich schon an die Richtung erinnern. Aber das konnte er natürlich nicht.)

»Dein Wort des Tages war übrigens >Desaster<«, erzählte er mir fröhlich.

»Oh, danke fürs Nachsehen.« Vermutlich klang das nicht sonderlich dankbar. »Du scheinst ja ziemlich begeistert über all das.«

»Sookie, es gibt nichts Besseres als einen guten Kampf«, sagte er zu seiner Rechtfertigung.

»Kommt drauf an, wer gewinnt, würde ich sagen.«

Das ließ ihn für ein paar Minuten verstummen, was auch gut war. Ich hatte ziemliche Schwierigkeiten, die fremden Straßen in der Dunkelheit zu erkennen, zumal ich noch so viel anderes im Kopf hatte. Doch schließlich fanden wir die richtige Straße und auch das richtige Haus in dieser Straße. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass Pam und Chow in einer Art Herrenhaus lebten, aber die Vampire bewohnten ein großes Einfamilienhaus in einem Vorort der oberen Mittelschicht. Es war eine Straße mit gepflegten Rasen, Fahrradwegen und Sprinkleranlagen, soweit ich erkennen konnte.

In der Auffahrt zu Nummer 714 brannte Licht, in der großen Garage an der rückwärtigen Seite des Hauses parkten drei Autos. Also fuhr ich die leichte Anhöhe zum betonierten Stellplatz für Besucher hinauf, wo bereits Alcides Pick-up stand und der Kombiwagen, den ich in der Auffahrt von Colonel Flood gesehen hatte.

Ehe wir aus meinem alten Auto stiegen, beugte sich Eric zu mir herüber und küsste mich. Wir sahen uns an. Seine großen Augen waren so blau und das Weiße so weiß, ich konnte den Blick kaum abwenden. Sein goldblondes Haar war ordentlich gekämmt und mit einem meiner Haargummis zurückgebunden, einem hellblauen. Er trug eine Jeans und ein neues Flanellhemd.

»Noch können wir umkehren«, sagte er. Im Schein der Innenleuchte meines Autos wirkte sein Gesicht hart wie Stein. »Noch können wir umkehren und zu dir nach Hause fahren. Ich kann für immer bei dir bleiben. Wir können auf alle erdenklichen Arten unsere Körper weiter erkunden, Nacht für Nacht. Ich könnte dich wirklich lieben.« Seine Nasenflügel bebten, und plötzlich sah er stolz aus. »Ich könnte arbeiten. Du wärst nicht länger arm. Ich würde dir helfen.«

»Klingt wie eine Ehe«, sagte ich und versuchte, die Atmosphäre zu entspannen. Aber meine Stimme zitterte zu sehr.

»Ja«, sagte er.

Und er würde nie wieder er selbst sein. Er würde immer die falsche Version von Eric bleiben, ein Eric, der um sein wahres Leben betrogen wurde. Falls unsere Beziehung (so wie sie war) tatsächlich andauerte, würde er immer derselbe bleiben; aber ich würde mich verändern.

Schluss jetzt mit den negativen Gedanken, Sookie, sagte ich zu mir selbst. Ich wäre doch total bescheuert, die Gelegenheit, mit diesem hinreißenden Geschöpf - wie lange auch immer - zu leben, einfach so an mir vorüberziehen zu lassen. Wir verstanden uns richtig gut, ich liebte seinen Humor, und ich hatte ihn sehr gern um mich, vom Sex mit ihm gar nicht erst zu reden. Seit er sein Gedächtnis verloren hatte, war es auf ganz unkomplizierte Weise sehr schön mit ihm.

Genau das war der Haken. Wir würden eine unwahrhaftige Beziehung führen, weil dies nicht der wahrhafte Eric war. Und da wären wir wieder am Ausgangspunkt.

Mit einem Seufzer stieg ich aus dem Auto. »Ich bin total bescheuert«, sagte ich, als wir auf das Haus zugingen.

Eric sagte gar nichts. Ich schätze mal, er war ganz meiner Meinung.

»Hallo«, rief ich und machte die Hintertür auf, nachdem keiner auf mein Klopfen reagiert hatte. Die Tür von der Garage ins Haus führte erst in einen Wirtschaftsraum und von dort in die Küche.

Wie in einem Vampirhaushalt nicht anders zu erwarten, war die Küche blitzblank, weil sie nie benutzt wurde. Für ein Haus dieser Größe war die Küche sehr klein. Wahrscheinlich hatte die Maklerin gemeint, ihren Glückstag - oder ihre Glücksnacht - erwischt zu haben, als sie den Vampiren das Haus zeigte. Denn eine normale Familie, die zu Hause kochte, dürfte wohl Schwierigkeiten haben mit einer Küche im Format eines Doppelbetts. Das Haus war weitgehend offen und ohne Zwischenwände gebaut, so dass wir über den Küchentresen direkt in den Wohnbereich blickten - in diesem Fall der Wohnbereich einer mächtig seltsamen Familie. Es gab drei Durchgänge, die in irgendwelche anderen Bereiche des Hauses führten.

Im Moment war der Wohnbereich voller Leute. In den offenen Durchgängen drängten sich noch mehr.

Vampire waren da: Pam, Chow und Gerald sowie mindestens zwei weitere, die ich im Fangtasia schon mal gesehen hatte. Die zweigestaltigen Geschöpfe waren vertreten durch Colonel Flood, die rothaarige Amanda (mein großer Fan), den jungen Typen mit dem braunen, stachelig aufgestellten Haar (Sid), Alcide, Culpepper und (zu meinem Entsetzen) Debbie Pelt. Debbie war nach dem allerletzten Schrei gekleidet - zumindest ihrer Ansicht nach -, was auf diesem Treffen allerdings ziemlich deplatziert wirkte. Vielleicht wollte sie mich nur wieder mal daran erinnern, dass sie einen sehr guten Job bei einer Werbeagentur hatte.

Auch gut. Debbies Anwesenheit machte das Grauen dieser Nacht doch geradezu perfekt.

Die Leute, die ich nicht kannte, waren dann wohl die Hexen aus der Umgebung, sagte ich mir. Die würdevolle Frau auf dem Sofa war vermutlich ihre Anführerin. Ich wusste nicht, wie ihr korrekter Titel lautete - Hexenmeister? Meisterin? Sie war über sechzig und hatte stahlgraues Haar, kaffeebraune Haut und braune Augen, die ungeheuer weise wirkten, aber skeptisch zugleich. Neben ihr stand ein blasser junger Mann mit Brille, der gebügelte Khakihosen, ein gestreiftes Hemd und blitzblanke Halbschuhe trug. Er sah aus, als würde er im Management einer Supermarktkette arbeiten, und seinen Kindern hatte er sicher erzählt, dass er an diesem kalten Januarabend zum Bowling oder auf ein Treffen des Kirchenvorstands ging. Doch stattdessen standen er und die junge Hexe an seiner anderen Seite kurz vor einem Kampf auf Leben und Tod.

Die zwei noch leeren Stühle waren eindeutig für Eric und mich bestimmt.

»Wir haben euch früher erwartet«, sagte Pam knapp.

»Hi, freut mich auch, euch zu sehen. Schön, dass ihr so kurzfristig kommen konntet«, murmelte ich böse. Eine ganze Weile blickten alle im Raum Eric an und warteten darauf, dass er die Sache in die Hand nahm, wie er es seit Jahren tat. Doch Eric sah sie nur verständnislos an. Die Pause begann peinlich zu werden.

»Also, legen wir das Vorgehen fest«, sagte Pam. Alle anwesenden Supras wandten sich zu ihr um. Pam hatte anscheinend keine Probleme damit, die Rolle des Anführers zu übernehmen.

»Dank der Spurenleser der Werwölfe wissen wir, wo sich Hallows Hauptquartier befindet«, erzählte Pam mir. Sie ignorierte Eric völlig, aber ich spürte, dass sie das nur tat, weil sie sich nicht anders zu helfen wusste. Sid grinste mich an. Richtig, er und Emilio hatten die Mörder von der Brautmoden-Boutique bis zu besagtem Gebäude verfolgt. Dann erst bemerkte ich, dass er mir seine Zähne zeigen wollte, die er spitz zugefeilt hatte. Wow.

Die Anwesenheit der Vampire, der Hexen und der Werwölfe verstand ich ja, aber warum eigentlich war Debbie Pelt auf diesem Treffen? Sie war eine Gestaltwandlerin, kein Werwolf. Die Werwölfe waren den Gestaltwandlern gegenüber immer so arrogant, und trotzdem war sie hier; noch dazu weit außerhalb ihres eigenen Territoriums. Ich verabscheute sie und misstraute ihr zutiefst. Sie hatte wohl darauf bestanden, dabei zu sein. Und das machte mein Misstrauen sogar noch größer, wenn das denn überhaupt möglich war.

Wenn sie so wild darauf war, sich uns anzuschließen, dann sollte man Debbie doch gleich in die vorderste Linie stellen, wäre mein Ratschlag gewesen. Dann müssten wir uns wenigstens keine Sorgen über das machen, was sie hinter unserem Rücken tat.

Meine Großmutter hätte sich für meine Rachsucht sicher sehr geschämt; aber nur, weil sie (wie Alcide) im Grunde nicht hätte glauben können, dass Debbie mich tatsächlich hatte umbringen wollen.

»Wir dringen langsam und in mehreren Wellen in ihre nächste Umgebung vor«, sagte Pam. Hatte sie vorher etwa ein militärisches Handbuch konsultiert, fragte ich mich. »Die Hexen haben bereits einiges an Magie in diese Gegend gesendet, damit nicht allzu viele Leute auf den Straßen sind. Wir wollen da nicht wie auf dem Präsentierteller stehen. Sookie geht als Erste.«

Alle versammelten Supras richteten im selben Moment ihre Augen auf mich. Das war ziemlich beunruhigend: als stünde ich bei Nacht in einem Kreis aus Autos, und dann leuchteten alle Scheinwerfer zugleich auf und strahlten mich gleißend an.

»Warum?«, fragte Alcide. Seine großen Hände umfassten seine Knie. Debbie, die sich neben dem Sofa auf dem Fußboden niedergelassen hatte, grinste mich an, wohlwissend, dass Alcide sie nicht sehen konnte.

»Weil Sookie ein Mensch ist«, erklärte Pam. »Und sie geht eher als natürliches Phänomen durch als ein Supra. Sie werden sie nicht aufspüren.«

Eric hatte meine Hand ergriffen. Er hielt sie so fest umschlossen, dass ich meinte, meine Fingerknochen knirschen zu hören. Der normale, unverzauberte Eric hätte entweder Pams Plan im Keim erstickt oder ihm enthusiastisch zugestimmt.

Doch jetzt war er zu eingeschüchtert, um etwas dazu zu sagen - was er offensichtlich eigentlich wollte.

»Und was soll ich tun, wenn ich dort bin?« Ich war stolz auf mich, weil ich so ruhig und überlegt wirkte. Lieber hätte ich einen ganzen Abend lang komplizierte Bestellungen eines Trupps schwer betrunkener Holzfäller aufgenommen, als die Erste in der Kampflinie zu sein.

»Versuch die Gedanken der Hexen zu lesen, während wir auf unsere Positionen gehen. Wenn sie uns zu früh entdecken, ist der Überraschungseffekt hin und die Gefahr ernster Verletzungen viel größer.« Wenn sie aufgeregt war, sprach Pam immer mit einem leichten Akzent, den ich allerdings nie einordnen konnte. Vielleicht war es einfach ein britisches Englisch, so wie es vor dreihundert Jahren gesprochen worden war. Oder was auch immer. »Kannst du sie zählen? Ist das möglich?«

Ich dachte einen Augenblick nach. »Ja, das kann ich.«

»Das wäre uns eine große Hilfe.«

»Was tun wir, wenn wir im Gebäude drin sind?«, fragte Sid. Aufgeregt grinste er in die Runde und zeigte seine spitzen Zähne.

Pam sah leicht verwundert drein. »Wir töten sie alle«, sagte sie völlig selbstverständlich.

Sids Grinsen verblasste. Ich fuhr zusammen. Und ich war nicht die Einzige.

Pam bemerkte, dass sie etwas ziemlich schwer Verdauliches ausgesprochen hatte. »Was sollten wir denn sonst tun?«, fragte sie erstaunt.

Alles schwieg.

»Sie werden alles tun, um uns zu töten«, erklärte Chow. »Sie haben nur ein einziges Mal versucht, Verhandlungen aufzunehmen, und das hat Eric das Gedächtnis und Clancy das Leben gekostet. Heute Morgen haben sie Clancys Kleider ins Fangtasia gebracht.« Verlegen wandten alle den Blick von Eric ab. Er wirkte niedergeschlagen, und ich strich mit meiner freien Hand über seinen Handrücken. Sein Griff um meine rechte Hand lockerte sich etwas. Sie war eingeschlafen und begann zu kribbeln.

»Jemand muss Sookie begleiten«, forderte Alcide. Finster blickte er Pam an. »Sie kann nicht ganz allein in die Nähe dieses Gebäudes gehen.«

»Ich gehe mit ihr«, sagte eine vertraute Stimme aus einer Ecke des Raums. Ich beugte mich vor und suchte die Gesichter ab.

»Bubba!«, rief ich erfreut. Verwundert starrte Eric das berühmte Gesicht an. Das glänzende schwarze Haar war zu einer Tolle zurückgekämmt, und der Schmollmund verzog sich zu dem weltberühmten Lächeln, das sein Markenzeichen war. Sein momentaner Hüter hatte ihn anscheinend extra für diesen nächtlichen Ausflug eingekleidet, denn statt eines strassbesetzten Glitzeroveralls trug er einen Tarnanzug.

»Wie schön, Sie zu sehen, Miss Sookie«, sagte Bubba. »Ich trage heute extra meine Militäruniform.«

»Das sehe ich. Sieht klasse aus, Bubba.«

»O danke, Ma'am.«

Pam dachte darüber nach. »Die Idee ist gar nicht schlecht«, sagte sie schließlich. »Seine, äh... mentalen Ströme, seine Signatur, ihr versteht, was ich meine? - sind so, äh, untypisch, daher werden die Hexen wohl nicht erkennen, dass ein Vampir in ihrer Nähe ist.« Pam war äußerst taktvoll.

Bubba war einfach der peinlichste Vampir der Welt. Er konnte sich zwar lautlos bewegen und war gehorsam, doch mit dem logischen Denken haperte es, und er trank auch viel lieber Katzenblut als Menschenblut.

»Wo ist Bill, Miss Sookie?«, fragte er. Ich hätte mir denken können, dass diese Frage kommen würde. Bubba hatte immer sehr an Bill gehangen.

»Er ist in Peru, Bubba. Das ist unten in Südamerika.«

»Nein, bin ich nicht«, sagte eine kühle Stimme, und mein Herz schlug einen Salto. »Ich bin wieder da.« Und aus einem der offenen Durchgänge trat meine alte Flamme.

Dieser Abend steckte wirklich voller Überraschungen. Hoffentlich waren auch noch einige angenehme darunter.

Bill so unerwartet wiederzusehen versetzte mir einen stärkeren Schock, als ich vermutet hätte. Ich hatte noch nie zuvor einen Exfreund gehabt - mein Leben war ja insgesamt ziemlich frei von Freunden geblieben -, und so wusste ich nicht, wie ich mit seiner Anwesenheit umgehen sollte - zumal Eric meine Hand so fest umklammert hielt, als wäre ich Mary Poppins und er mein Schützling.

Bill sah gut aus in seinen Khakihosen. Er trug ein Hemd von Calvin Klein, das ich mal für ihn ausgesucht hatte, in einem zurückhaltenden Karomuster in Braun und Gold. Nicht, dass ich weiter drauf geachtet hätte.

»Prima, heute Nacht können wir dich hier sehr gut gebrauchen«, sagte Pam, ganz Miss Geschäftstüchtig. »Von diesen berühmten Ruinen in Peru, von denen jeder spricht, kannst du ja ein andermal erzählen. Du kennst doch sicher die meisten Leute hier?«

Bill sah sich um. »Colonel Flood«, sagte er und nickte ihm zu. »Alcide.« Diesmal fiel sein Kopfnicken weniger herzlich aus. »Diese neuen Verbündeten dort habe ich noch nie gesehen«, meinte er mit Blick auf die Hexen. Bill wartete, bis er allen vorgestellt worden war, und fragte erst dann: »Was tut Debbie Pelt hier?«

Ich versuchte, nicht allzu erstaunt zu wirken, als ich meine innersten Gedanken laut ausgesprochen hörte. Genau meine Frage! Aber woher kannte Bill Debbie? Hatten sich ihre Wege in Jackson gekreuzt? An ein solches Aufeinandertreffen konnte ich mich nicht erinnern, obwohl Bill natürlich wusste, was Debbie getan hatte.

»Sie ist Alcides Freundin«, sagte Pam vorsichtig und leicht irritiert.

Ich zog die Augenbrauen hoch und sah Alcide an, der dunkelrot anlief.

»Sie ist zu Besuch bei ihm und wollte gern mitkommen«, fuhr Pam fort. »Hast du etwas dagegen, dass sie hier ist?«

»Sie war beteiligt, als ich im Kerker des Königs von Mississippi gefoltert wurde«, sagte Bill. »Und sie hat meine Qualen genossen.«

Alcide war so schockiert, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. »Debbie, ist das wahr?«

Debbie Pelt versuchte, keine Miene zu verziehen, jetzt, da aller Augen auf ihr ruhten und dabei höchst unfreundlich blickten. »Ich war nur zufällig zu Besuch bei einem Werwolf-Freund, der dort arbeitet, bei einem der Wächter«, erwiderte sie. Ihre Stimme klang nervös. »Was hätte ich denn tun sollen, um dich zu befreien? Das ging ja überhaupt nicht. Sie hätten mich in Stücke gerissen. Du kannst dich doch gar nicht deutlich an meine Anwesenheit dort erinnern. Du warst doch gar nicht richtig bei dir.« Eine Spur Verachtung lag in ihren Worten.

»Du hast dich an der Folter beteiligt«, sagte Bill. Sein Tonfall war noch immer ganz unpersönlich und dadurch umso überzeugender. »Dir haben die Zangen am besten gefallen.«

»Und du hast niemandem gesagt, dass er dort ist?«, fragte Alcide Debbie. Seine Stimme klang ganz und gar nicht unpersönlich. Darin schwangen Kummer und Wut über ihren Verrat. »Du wusstest, dass jemand aus einem anderen Königreich von Russell gefoltert wurde, und hast nichts unternommen?«

»Er ist ein Vampir, Herrgott noch mal«, sagte Debbie und klang nichts weiter als gereizt. »Als ich später erfuhr, dass du mit Sookie nach ihm gesucht hast, um die Schulden deines Vaters bei den Vampiren zu. begleichen, habe ich mich schrecklich gefühlt. Doch zu der Zeit war das einfach eine Vampir-Angelegenheit. Warum sollte ich mich da einmischen?«

»Warum sollte irgendein anständiges Wesen sich an Folter beteiligen?« Alcides Tonfall war angespannt.

Ein langes Schweigen trat ein.

»Und außerdem hat sie versucht, Sookie umzubringen«, sagte Bill, dem es weiterhin gelang, ziemlich leidenschaftslos zu sprechen.

»Ich wusste nicht, dass Bill im Kofferraum des Autos lag, als ich Sookie dort hineinstieß! Ich wusste nicht, dass ich sie zusammen mit einem hungrigen Vampir einschloss!«, protestierte Debbie.

Ich weiß nicht, wie es den anderen erging, aber mich überzeugte das nicht eine Sekunde lang.

Alcide senkte seinen schwarzen Haarschopf und blickte auf seine Handflächen, als hielten sie ein Orakel für ihn bereit. Dann hob er den Kopf und sah Debbie direkt an. Dieser Mann konnte seine Augen keinen Augenblick länger vor der Wahrheit verschließen. Er tat mir überaus leid, sehr viel mehr als irgendjemand sonst seit langer, langer Zeit.

»Ich sage mich von dir los«, erklärte Alcide. Colonel Flood zuckte zusammen, und der junge Sid ebenso wie Amanda und Culpepper wirkten erstaunt und beeindruckt. Als wäre dies eine Zeremonie, deren Zeugen sie noch nie gewesen waren. »Ich sehe dich nie wieder. Ich jage mit dir nie wieder. Ich teile mit dir das Fleisch nie wieder.«

Offensichtlich war dies ein Ritual von größter Bedeutung unter den zweigestaltigen Geschöpfen. Debbie starrte Alcide an, völlig entgeistert von seiner Rede. Die Hexen murmelten etwas untereinander, doch sonst herrschte Schweigen im Raum. Selbst Bubba hatte die Augen weit aufgerissen, dabei gingen die meisten Dinge über seinen Horizont.

»Nein«, sagte Debbie mit erstickter Stimme und wedelte mit der Hand vor sich herum, als könnte sie so auslöschen, was soeben passiert war. »Nein, Alcide!«

Doch er starrte einfach durch sie hindurch. Es sah sie nicht mehr.

Obwohl ich Debbie verabscheute, schmerzte es mich, ihr Gesicht zu sehen. Wie die meisten Anwesenden blickte auch ich, so schnell ich konnte, woanders hin. Der Kampf gegen Hallows Hexenzirkel erschien mir wie ein Kinderspiel gegen dies Ereignis, dessen Zeuge ich gerade geworden war.

Pam schien mir da zuzustimmen. »Also gut«, sagte sie energisch. »Bubba begleitet Sookie. Sie wird ihr Bestes tun, um das zu tun, was immer es auch ist, das sie tut - und sie wird uns Bescheid geben.« Pam dachte einen Augenblick nach. »Sookie, noch mal: Wir müssen wissen, wie viele Leute es sind, ob es alles Hexen sind oder nicht, und auch sonst jede Kleinigkeit, die du ausfindig machen kannst. Schick uns Bubba mit allen erreichbaren Informationen und halt Wache für den Fall, dass sich die Situation verändert, während wir anrücken. Sobald wir unsere Positionen erreicht haben, gehst du zu den Autos zurück, wo du in Sicherheit bist.«

Damit hatte ich kein Problem. Unter Hexen, Werwölfen und Vampiren zählte ich einfach nicht als ernstzunehmende Kämpferin.

»Klingt ganz okay für mich, wenn ich schon daran beteiligt sein muss«, sagte ich und sah Eric an, als ich seinen Händedruck spürte. Die Aussicht auf den Kampf schien ihn zu erfreuen, doch in seinem Gesicht und seiner Haltung spiegelte sich immer noch Unsicherheit. »Und was wird aus Eric?«

»Was meinst du damit?«

»Wenn ihr da reingeht und alle tötet, wer soll ihn dann von seinem Fluch erlösen?« Ich drehte mich zu den Experten herum, den Wiccas. »Falls Hallows Hexenzirkel stirbt, stirbt dann ihr Fluch mit ihnen? Oder ist Eric danach immer noch ohne Gedächtnis?«

»Der Fluch muss aufgehoben werden«, sagte die älteste Hexe, die ruhige afroamerikanische Frau. »Am besten ist es, wenn er von jener aufgehoben wird, die ihn ausgesprochen hat. Der Fluch kann auch von jemand anders aufgehoben werden. Das dauert aber länger und ist viel aufwändiger, weil wir nicht wissen, welche Elemente an dem Fluch beteiligt sind.«

Ich vermied es, Alcide anzusehen, der noch unter der Gewalt der Gefühle stand, die ihn veranlasst hatten, Debbie auszustoßen. Obwohl ich vorher nicht wusste, dass so etwas überhaupt möglich war, beschlich mich Bitterkeit, weil er sie nicht ausgestoßen hatte, nachdem ich ihm vor einem Monat von Debbies Mordversuch an mir erzählte. Na ja, vielleicht hatte er sich gesagt, dass ich mich irrte, dass es nicht Debbie war, die ich in meiner Nähe spürte, als ich in den Kofferraum des Cadillac gestoßen wurde.

Soweit ich wusste, hatte Debbie heute zum ersten Mal zugegeben, mich tatsächlich in den Kofferraum gestoßen zu haben. Aber sie hatte zugleich bestritten, dass sie Bill darin hatte liegen sehen - wenn auch bewusstlos. Doch jemanden in einen Kofferraum zu stoßen und die Klappe zu schließen fiel ja wohl kaum in die Kategorie witzige Streiche, oder?

Vielleicht hatte Debbie sogar sich selbst etwas vorgemacht.

Jetzt musste ich mich unbedingt darauf konzentrieren, was hier besprochen wurde. Mir blieb noch genug Zeit, über die Mechanismen der Selbsttäuschung nachzudenken, wenn ich diese Nacht überlebte.

Pam sagte gerade: »Sie meinen also, wir müssen Hallow am Leben lassen? Damit sie den Fluch aufhebt?« Diese Aussicht machte Pam gar nicht glücklich. Ich drängte meine schmerzhaften Gefühle beiseite und hörte wieder zu. Dies war kaum der rechte Augenblick zum Grübeln.

»Nein«, erwiderte die Hexe unverzüglich, »ihren Bruder Mark. Es ist zu gefährlich, Hallow selbst am Leben zu lassen. Sie muss so schnell wie möglich sterben.«

»Was werden Sie tun?«, fragte Pam. »Wie werden Sie uns bei diesem Angriff unterstützen?«

»Wir werden draußen, aber in unmittelbarer Nähe bleiben«, sagte der Mann mit Brille. »Wir umhüllen das Gebäude mit einem Zauber, um die Hexen zu schwächen und unschlüssig zu machen. Und wir haben auch sonst noch ein paar Tricks auf Lager.« Er und die junge Frau, die eine Unmenge schwarzes Make-up um die Augen trug, schienen sich sehr darauf zu freuen, diese Tricks endlich einmal anwenden zu können.

Pam nickte, als wäre das Umhüllen des Gebäudes mit Zauberei eine ausreichende Unterstützung. Ich hätte es viel hilfreicher gefunden, wenn sie draußen mit Flammenwerfern gewartet hätten.

Die ganze Zeit schon hatte Debbie Pelt wie gelähmt dagestanden. Jetzt stakste sie durch den Raum auf die Hintertür zu. Bubba sprang auf und ergriff sie am Arm. Sie fauchte ihn an, doch er ließ sich nicht abschütteln.

Keiner der Werwölfe reagierte. Es war wirklich, als wäre Debbie unsichtbar für sie.

»Lass mich gehen. Ich bin hier nicht erwünscht«, fuhr sie Bubba an. Wut und Kummer fochten einen Kampf aus in ihr.

Bubba zuckte die Achseln. Er hielt sie einfach fest und wartete auf Pams Entscheidung.

»Wenn wir dich gehen lassen, rennst du vielleicht geradewegs zu den Hexen und erzählst ihnen, dass wir kommen«, sagte Pam. »Das würde genau deinem Charakter entsprechen.«

Debbie besaß die Frechheit, eine empörte Miene aufzusetzen. Alcide wirkte, als würde er den Fernsehwetterbericht anschauen.

»Bill, kümmere du dich um sie«, schlug Chow vor. »Wenn sie sich gegen uns wendet, töte sie.«

»Das klingt wunderbar«, sagte Bill und fuhr lächelnd ein wenig seine Fangzähne aus.

Nach ein paar weiteren Absprachen darüber, wer mit wem in welchem Auto fahren würde, und einigen weiteren leisen Beratungen der Hexen untereinander, die den Kampf auf einer völlig anderen Ebene führen würden, sagte Pam: »Okay, gehen wir.« Pam, die mehr denn je aussah wie Alice im Wunderland in ihrem hellrosa Pullover zu den dunkelrosa Hosen, stand auf und prüfte ihren Lippenstift in dem Spiegel, in dessen Nähe ich saß. Probeweise lächelte sie sich im Spiegel zu, wie ich es schon tausendmal bei Frauen gesehen hatte.

»Sookie, meine Liebe«, sagte sie und legte einen Arm um meine Schultern. »Dies ist eine große Nacht. Wir verteidigen, was uns gehört! Wir kämpfen für die Wiederherstellung unseres Anführers!« Dabei lächelte sie zu Eric hinüber. »Morgen, Sheriff, wirst du wieder an deinem Schreibtisch im Fangtasia sitzen. Du wirst in dein eigenes Haus zurückkehren können, in dein eigenes Schlafzimmer. Wir haben alles für dich in Schuss gehalten.«

Ich sah Eric an. Wie würde er darauf reagieren? Pam hatte Eric vorher noch nie in meinem Beisein mit seinem Titel angesprochen. Da die führenden Vampire aller Bezirke Sheriff genannt wurden, hätte ich inzwischen daran gewöhnt sein sollen. Doch ich konnte nicht anders, ich stellte mir Eric sofort in einem Cowboyaufzug mit an die Brust gepinntem Stern vor oder (noch besser) in schwarzen Strumpfhosen als den schurkischen Sheriff von Nottingham. Interessant fand ich, dass er nicht mit Pam und Chow zusammenwohnte.

Eric sah Pam so ernst an, dass das Lächeln aus ihrem Gesicht wich. »Wenn ich heute Nacht sterbe«, sagte er, »zahlt dieser Frau das Geld aus, das ihr versprochen wurde.« Er fasste mich bei der Schulter, und ich stand vom Stuhl auf, umringt von Vampiren.

»Ich schwöre«, sagte Pam. »Chow und Gerald sind meine Zeugen.«

»Wisst ihr, wo ihr Bruder ist?«, fragte Eric.

Verdutzt trat ich einen Schritt von Pam zurück.

Pam wirkte ebenso verblüfft. »Nein, Sheriff.«

»Mir kam der Gedanke, ihr könntet ihn entführt haben, um sicherzugehen, dass sie mich nicht verrät.«

Auf die Idee war ich nie gekommen, sicher ein Versäumnis. Offensichtlich hatte ich in Sachen Verschlagenheit noch jede Menge zu lernen.

»Darauf hätte ich eigentlich selbst kommen können«, sagte Pam bewundernd und wie ein Echo meines Gedankens, ihrer war allerdings etwas anders gelagert. »Ich hätte nichts dagegen gehabt, ein bisschen Zeit mit Jason als Geisel zu verbringen.« War das zu fassen? Jasons Anziehungskraft schien einfach universell zu wirken. »Aber ich habe ihn nicht entführt«, sagte Pam. »Wenn wir das hier überstehen, Sookie, mache ich mich höchstpersönlich auf die Suche nach ihm. Könnten Hallows Hexen ihn nicht haben?«

»Möglich«, antwortete ich. »Claudine hat dort zwar keine Geiseln gesehen, aber es gibt wohl Räume genug, in die sie keinen Blick werfen konnte. Doch warum hätten sie Jason entführen sollen, wenn Hallow nicht weiß, dass Eric bei mir ist? Jason wäre ihnen doch nur von Nutzen gewesen, um mich zum Reden zu zwingen; so wie er dir von Nutzen gewesen wäre, um mich zum Schweigen zu zwingen. Es hat sich aber keiner bei mir gemeldet. Und du kannst niemanden erpressen, der nicht weiß, dass du ein Druckmittel gegen ihn in der Hand hast.«

»Egal, ich werde alle auffordern, in dem Gebäude nach ihm Ausschau zu halten«, sagte Pam.

»Wie geht es Belinda eigentlich?«, fragte ich. »Habt ihr ihre Krankenhausrechnungen bezahlt?«

Sie sah mich völlig verständnislos an.

»Die Kellnerin, die bei der Verteidigung des Fangtasia verletzt wurde«, frischte ich ihre Erinnerung auf. »Weißt du nicht mehr? Die Freundin von Ginger - die gestorben ist.«

»Ach, natürlich«, mischte sich Chow ein. »Sie ist auf dem Weg der Besserung. Wir haben ihr Blumen und Süßigkeiten geschickt«, erzählte er Pam. Dann sah er mich an. »Außerdem haben wir eine Betriebsversicherung.« Darauf war er stolz wie ein junger Vater auf sein erstes Kind.

Pam wirkte zufrieden. »Gut«, sagte sie, »wir müssen die Leute ja schließlich bei Laune halten. Alle fertig zum Aufbruch?«

Ich zuckte die Achseln. »Ich denke schon. Es gibt keinen Grund, noch länger zu warten.«

Bill trat auf mich zu, während Pam und Chow berieten, welches Auto sie nehmen wollten. Gerald war hinausgegangen, um sich zu versichern, ob allen der Ablaufplan des Kampfes auch wirklich klar war.

»Wie war's in Peru?«, fragte ich Bill. Überdeutlich spürte ich Eric wie einen großen blonden Schatten im Hintergrund.

»Ich habe sehr viele Infos für meine Datenbank bekommen«, sagte Bill. »In Südamerika ist die Situation für uns Vampire ja nicht besonders gut, aber in Peru ist das Klima nicht ganz so feindselig wie in den anderen Ländern dort unten. Ich konnte sogar mit einigen Vampiren sprechen, von denen ich noch nie gehört hatte.« Über Monate hinweg hatte Bill auf Geheiß der Königin von Louisiana ein Vampir-Verzeichnis erarbeitet, weil sie so ein Nachschlagewerk äußerst praktisch fand. Doch diese Ansicht wurde von der Vampir-Gemeinde generell keineswegs geteilt. Einige Vampire hegten sogar allergrößte Vorbehalte dagegen, geoutet zu werden, selbst den Geschöpfen der eigenen Art gegenüber. Es ist wohl fast unmöglich, die Geheimniskrämerei aufzugeben, wenn man sie über Jahrhunderte hinweg betrieben hat.

Es gab Vampire, die immer noch auf Friedhöfen lebten, des Nachts auf Jagd gingen und sich weigerten, die Veränderung ihres gesellschaftlichen Status zur Kenntnis zu nehmen. Das war wie diese Geschichten über japanische Soldaten, die noch lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Stellungen auf Inseln im pazifischen Ozean hielten.

»Und hast du diese berühmten Ruinen besichtigt, von denen du erzählt hast?«

»Machu Picchu? Ja, ich bin ganz allein hinaufgestiegen. Eine großartige Erfahrung.«

Ich versuchte mir auszumalen, wie Bill in der Nacht einen Berg erklomm und die Ruinen einer längst vergangenen Zivilisation im Mondlicht besichtigte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das wohl gewesen sein mochte. Ich war noch nie im Ausland gewesen, war noch nicht mal allzu oft aus Louisiana herausgekommen, um genau zu sein.

»Das ist Bill, dein ehemaliger Gefährte?« Erics Stimme klang ein bisschen... angespannt.

»Oh, das ist - nun, ja, irgendwie schon«, sagte ich unglücklich. »Ehemaliger« war korrekt, »Gefährte« traf es nicht ganz.

Eric war zu uns herübergekommen und legte mir von hinten die Hände auf die Schultern. Zweifellos starrte er über meinen Kopf hinweg direkt Bill an, der zurückstarrte. Eric hätte mir genauso gut ein Schild mit der Aufschrift sie ist mein umhängen können. Arlene hatte mir mal erzählt, wie sehr sie diese Momente genoss, in denen ihr Ex ganz klar erkennen musste, dass jemand anders sie schätzte, auch wenn er es nicht tat. Ich kann dazu nur sagen, nach meinem Geschmack war das nicht. Ich fühlte mich schrecklich dabei und absolut lächerlich.

»Du erinnerst dich tatsächlich nicht an mich«, sagte Bill zu Eric, als hätte er bis zu diesem Augenblick daran gezweifelt. Mein Verdacht bestätigte sich, als er, ohne Eric weiter zu beachten, zu mir sagte: »Ehrlich gesagt, habe ich das Ganze für einen ausgeklügelten Plan von Eric gehalten, um bei dir zu wohnen und dich so ins Bett zu kriegen.«

Da mir derselbe Gedanke ja auch gekommen war - obwohl ich ihn sehr schnell wieder verworfen hatte -, konnte ich schlecht protestieren. Ich spürte allerdings, wie ich rot anlief.

»Wir müssen zum Auto«, sagte ich zu Eric und sah ihm ins Gesicht. Es war hart und ausdruckslos, was üblicherweise auf einen gefährlichen Geisteszustand schließen ließ. Doch er ging mit mir zur Tür, und das Haus leerte sich nach und nach in die enge Vorortstraße. Ich fragte mich, was wohl die Nachbarn dachten. Natürlich wussten sie, dass hier Vampire wohnten - nie war tagsüber jemand zu sehen, alle Gartenarbeit wurde von Aushilfen erledigt, und die Leute, die immer nur nachts kamen und gingen, waren alle so überaus bleich. Diese plötzliche Aktivität musste Aufmerksamkeit erregen.

Schweigend fuhr ich durch die Straßen, Eric neben mir auf dem Beifahrersitz. Hin und wieder beugte er sich zu mir und berührte mich. Keine Ahnung, wer Bill mitgenommen hatte, aber ich war froh, dass er nicht bei mir mitfuhr. Der Testosteronspiegel im Auto wäre einfach zu hoch gestiegen, wahrscheinlich wäre ich daran erstickt.

Bubba saß auf der Rückbank und summte vor sich hin. Es klang wie >Love Me Tender<.

»Das ist ein Schrottauto«, sagte Eric plötzlich wie aus heiterem Himmel, soweit ich es mitbekommen hatte.

»Ja«, stimmte ich zu.

»Hast du Angst?«

»Habe ich.«

»Wenn diese ganze Sache gut geht, triffst du dich dann weiter mit mir?«

»Natürlich«, sagte ich, um ihn glücklich zu machen, obwohl nach dieser Konfrontation sicher nichts mehr so sein würde wie vorher. Aber ohne das Wissen um seine eigene Tapferkeit, Intelligenz und Rücksichtslosigkeit, das der echte Eric stets besessen hatte, war dieser Eric hier ziemlich unsicher. Er würde sich hineinstürzen, sobald der Kampf tatsächlich losging, doch jetzt musste ich ihm erst mal Mut machen.

Pam hatte genau geplant, wo jeder parken sollte, damit Hallows Hexenzirkel von der plötzlichen Ankunft so vieler Autos nicht gleich alarmiert war. Wir hatten eine Karte dabei, auf der unser Parkplatz eingezeichnet war. Es stellte sich heraus, dass er hinter einem Supermarkt lag in der Nähe einer großen Kreuzung, wo ein Wohnviertel allmählich in ein Geschäftsviertel überging. Wir parkten in der hintersten Ecke, die der Parkplatz des Supermarkts hergab. Ohne weitere Diskussion machten wir uns auf den Weg zu unserem verabredeten Treffpunkt.

Ungefähr die Hälfte der Häuser, an denen wir vorbeikamen, hatten Maklerschilder auf dem vorderen Rasen und standen zum Verkauf. Und die, die noch in Privathand waren, wirkten schlecht gepflegt. Die Autos waren genauso schrottig wie meins, und große kahle Stellen ließen darauf schließen, dass der Rasen im Frühjahr und Sommer nicht gedüngt und gegossen wurde. Jedes Licht im Fenster schien vom Flackern eines Fernsehbildschirms herzurühren.

Ich war froh, dass es Winter war und die Leute, die hier wohnten, alle in ihren Häusern blieben. Zwei bleiche Vampire und eine blonde Frau, das hätte in dieser Gegend einige Kommentare verursacht, wenn nicht sogar Aggressionen. Noch dazu war einer der Vampire ziemlich prominent und leicht wiederzuerkennen, trotz der unübersehbaren Spuren seines Wechsels auf die andere Seite - ein Grund, warum Bubba möglichst immer allen Blicken entzogen wurde.

Schon bald hatten wir die Ecke erreicht, an der sich Eric von uns trennen sollte, um zu den anderen Vampiren zu stoßen. Ich wäre am liebsten wortlos weitergegangen. Mittlerweile hatte sich eine solche Anspannung in mir aufgebaut, dass ich das Gefühl hatte, ich würde schon bei der leisesten Berührung anfangen zu vibrieren. Doch Eric gab sich mit einem schweigenden Abschied nicht zufrieden. Er schloss mich in die Arme und küsste mich, so intensiv er nur konnte, und glaubt mir, das war höchst intensiv.

Bubba schnaubte missbilligend. »Sie sollten nicht irgendwen anders küssen, Miss Sookie«, wandte er ein. »Bill sagt zwar, es wäre okay. Aber mir gefällt es gar nicht.«

Nach einer weiteren Sekunde ließ Eric mich los. »Es tut mir leid, wenn du dich durch uns belästigt fühlst«, sagte er kühl und sah mich an. »Wir sehen uns später, Geliebte«, fügte er sehr leise und nur für mich hinzu.

Ich legte eine Hand an seine Wange. »Bis später«, entgegnete ich, drehte mich um und ging mit Bubba im Schlepptau davon.

»Sie sind doch nicht böse auf mich, oder, Miss Sookie?«, fragte er ängstlich.

»Nein«, sagte ich. Ich zwang mich, ihn anzulächeln, da er mich sehr viel besser sehen konnte als ich ihn, wie ich wusste. Es war eine kalte Nacht, und obwohl ich meinen dicken Mantel trug, war mir längst nicht so warm darin wie sonst. Meine nackten Hände zitterten vor Kälte, und meine Nase fühlte sich ganz taub an. Ich konnte von irgendwoher einen Hauch von brennendem Kaminholz wahrnehmen und Abgase und Benzin und Öl und all die anderen Autogerüche, die zusammen den Geruch der Stadt ausmachten.

Doch da war noch ein Geruch, der diese Gegend durchdrang, ein Aroma, das darauf schließen ließ, dass diese Gegend von mehr erfüllt war als nur von städtischem Verfall. Ich schnupperte. Der aromatische Duft durchzog die Luft in fast sichtbaren schwungvollen Kräuselungen.

Nach einem Moment des Nachdenkens wurde mir klar, dass dies der Duft der Magie sein musste, schwer und lastend. Die Magie riecht, wie ich mir einen Basar in einem exotischen Land vorstelle. Sie riecht nach dem Fremden, nach dem Anderen. Der Geruch von so viel Magie konnte ziemlich übelkeiterregend sein. Warum beschwerten sich die Einwohner nicht bei der Polizei? Konnte nicht jeder diesen Geruch wahrnehmen?

»Bubba, riechst du etwas Ungewöhnliches?«, fragte ich sehr leise. Ein paar Hunde bellten, als wir in der schwarzen Nacht an ihnen vorübergingen, wurden aber schnell wieder still, sobald sie den Vampirgeruch witterten. Hunde hatten fast immer Angst vor Vampiren, ihre Reaktion auf Werwölfe und Gestaltwandler war unberechenbar.

Immer dringlicher wurde mein Wunsch, sofort zum Auto zurückzugehen und wegzufahren. Es bedeutete eine große Anstrengung, meine Füße in die richtige Richtung zu bewegen.

»Ja, sicher doch«, flüsterte Bubba zurück. »Jemand hat die Luft mit Magie erfüllt. Das ist ein Abwehrzauber, der die Leute fern hält.« Keine Ahnung, ob die Wiccas auf unserer Seite oder die Hexen um Hallow für diese alles durchdringende Hexenkunst verantwortlich waren, aber sie war höchst wirkungsvoll.

Die Nacht erschien fast unnatürlich still. Nur etwa drei Autos fuhren an uns vorbei, während wir durch das Gewirr dieser Vorortstraßen liefen. Wir begegneten keinem einzigen Fußgänger, und das Gefühl einer unheimlichen Verlassenheit wuchs. Der Abwehrzauber wurde immer stärker, als wir uns dem Haus näherten, von dem wir abgewehrt werden sollten.

Die Dunkelheit zwischen den Lichtkegeln der Straßenlaternen schien dunkler zu werden und das Licht nicht so hell zu leuchten wie sonst. Als Bubba nach meiner Hand griff, zog ich sie nicht weg. Meine Füße wurden mit jedem Schritt schwerer.

Einen Anflug dieses Geruchs hatte ich bereits einmal wahrgenommen, im Fangtasia. Wer weiß, vielleicht hatten es die Spurenleser der Werwölfe gar nicht so schwer gehabt.

»Wir sind da, Miss Sookie«, sagte Bubba. Seine Stimme war nur noch ein leiser Lufthauch in der Nacht. Wir waren um eine Ecke gebogen. Da ich wusste, dass Zauberei in der Luft lag und dass ich trotzdem weitergehen konnte, tat ich es auch. Aber wäre ich ein Bewohner dieses Vororts gewesen, hätte ich mir sicher instinktiv einen anderen Weg gesucht. Der Impuls, diesen Ort zu meiden, war so stark, dass ich mich fragte, wie die Leute, die hier wohnten, heute Abend nach der Arbeit in ihre Wohnungen gelangt waren. Vielleicht aßen sie auswärts, waren ins Kino gegangen, tranken etwas in einer Bar - und taten alles, um ja nicht nach Hause zurückkehren zu müssen. Jedes Haus in dieser Straße wirkte verdächtig dunkel und leer.

Schräg über die Straße lag das Zentrum des Zaubers.

Hallows Hexenzirkel hatte einen prima Ort gefunden, um sich zu verbergen: ein leerstehendes Geschäftshaus, das zur

Miete angeboten wurde, ein großes Gebäude, das einst einen kombinierten Blumen- und Bäckerladen beherbergt hatte. »Minnies Blumen & Backwaren« lautete der vereinsamte Schriftzug. Es war der größte von drei nebeneinander liegenden Läden gewesen, die einer nach dem anderen verblasst und erloschen waren wie die Flammen eines Kerzenleuchters. Das Gebäude stand offenbar schon seit Jahren leer. Die großen Schaufensterscheiben waren zugeklebt mit Plakaten, die für längst vergangene Veranstaltungen warben und für Politiker, die schon vor langer Zeit abgewählt worden waren. Die Türen waren mit Sperrholz vernagelt, Beweis genug dafür, dass hier bereits mehr als einmal Vandalen eingebrochen waren.

Selbst jetzt im eisigen Winter schob sich das Unkraut durch die Risse im Asphalt der Parkplätze. Ein großer Müllcontainer stand ganz rechts von den Stellplätzen. Ich sah mir alles von der gegenüberliegenden Straßenseite aus an und bildete mir eine so klare Vorstellung von der Umgebung wie möglich, ehe ich die Augen schloss, um mich auf meine anderen Sinne zu konzentrieren. Einen kurzen reuevollen Moment lang hielt ich noch inne.

Hätte mich jetzt jemand gefragt, wäre es mir schwer gefallen, die einzelnen Schritte zurückzuverfolgen, die mich zu dieser gefährlichen Zeit an diesen gefährlichen Ort geführt hatten. Ich stand kurz vor einem Kampf, dessen gegnerische Seiten doch beide ziemlich fragwürdig waren. Wenn ich zuerst an Hallows Hexenzirkel geraten wäre, hätte ich mich wahrscheinlich überzeugen lassen, dass die Werwölfe und die Vampire ausgelöscht gehörten.

Ziemlich genau vor einem Jahr hatte noch niemand auf der Welt richtig verstanden, wer ich war, oder sich für mich interessiert. Ich war einfach die durchgeknallte Sookie, die mit dem wilden Bruder, eine Frau, die von anderen bemitleidet wurde und der jeder aus dem Weg ging, so gut er eben konnte. Und hier stand ich nun, in einer eiskalten Straße in Shreveport, Hand in Hand mit einem Vampir, dessen Gesicht weltberühmt und dessen Hirn nichts als Brei war. War das jetzt besser?

Und ich war nicht mal hier, um mich zu amüsieren, sondern weil ein Haufen übernatürlicher Geschöpfe Informationen benötigte über einen anderen Haufen gemeingefährlicher, bluttrinkender und gestaltwandlerischer Hexen.

Ich seufzte, unhörbar, wie ich hoffte. Na ja. Wenigstens hatte mich bis jetzt noch keiner zusammengeschlagen.

Ich schloss die Augen, ließ alle Schutzbarrieren fallen und sandte meine Gedanken zu dem Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus.

Gehirne, eifrige, lebhafte, vielbeschäftigte. Ich war verblüfft von der schieren Menge an Eindrücken, die mich erreichte. Vielleicht lag es daran, dass kaum Menschen in der näheren Umgebung waren, oder an der überwältigenden Präsenz der Magie: Irgendetwas hatte meinen anderen Sinn so geschärft, dass es wehtat. Dieser Fluss an Informationen machte mich ganz benommen, und ich musste sie erst mal sortieren und organisieren, stellte ich fest. Zuerst zählte ich Gehirne. Nicht im wörtlichen Sinn (»Ein Schläfenhirnlappen, zwei Schläfenhirnlappen ...«), sondern als Gedankenformationen. Ich kam auf fünfzehn. Fünf waren im vorderen Teil, im ehemaligen Verkaufsraum des Ladens. Eins war im kleinsten Raum, wahrscheinlich der Toilette, und der Rest befand sich im dritten und größten Raum, der nach hinten hinausging. Das waren wohl die Arbeitsbereiche.

Alle in dem Gebäude waren wach. Ein schlafendes Gehirn gibt zwar immer noch ein leises Murmeln hier und da von sich, während es träumt, ist aber gar nicht zu vergleichen mit einem wachen Gehirn. Das ist wie der Unterschied zwischen einem im Schlaf zuckenden Hund und einem herumtobenden Welpen.

Um so viele Informationen wie möglich zu bekommen, musste ich näher heran. Ich hatte noch nie versucht, so genaue Details wie Schuld oder Unschuld innerhalb einer Gruppe zu unterscheiden, und war nicht sicher, ob das überhaupt ging. Doch wenn sich da in dem Gebäude Leute befanden, die keine bösen Hexen waren, sollten sie nicht in das verwickelt werden, was passieren würde.

»Näher ran«, wisperte ich Bubba zu. »Aber mit Deckung.«

»Ja, Ma'am«, flüsterte er zurück. »Werden Sie Ihre Augen geschlossen halten?«

Ich nickte, und er führte mich sehr vorsichtig über die Straße und in den Schatten des Müllcontainers, der ungefähr zehn Meter südlich vom Gebäude entfernt stand. Ich war froh über die Kälte, denn so hielt sich der Müllgestank wenigstens in erträglichen Grenzen. Die fast verwehten Düfte von Krapfen und Blumen mischten sich mit dem Geruch verdorbener Dinge und alter Windeln, die vorbeigehende Fußgänger in den so praktisch dastehenden Behälter geworfen hatten. Das Ganze harmonierte nicht gerade aufs Glücklichste mit dem Geruch der Magie.

Ich richtete meine Gedanken erneut aus, blockte den Angriff auf meinen Geruchssinn ab und begann zuzuhören. Obwohl ich damit inzwischen besser klarkam, war es immer noch so, als versuchte ich, zwölf Telefonaten gleichzeitig zu lauschen. Einige von ihnen waren Werwölfe, was die Sache zusätzlich komplizierte. Ich verstand nur Satzfetzen und kleine Ausschnitte.

... hoffe bloß, dass das keine Vaginalinfektion ist...

Sie will einfach nicht auf mich hören, sie glaubt, Männer können so etwas nicht.

Und wenn ich sie in eine Kröte verwandle, wer würde den Unterschied bemerken?

... hätten wir bloß etwas mehr Diätcola gekauft...

Ich werde diesen verdammten Vampir finden und ihn töten ...

O Mutter der Erde, erhöre mein Flehen.

Ich stecke da schon zu tief drin ...

Ich muss mir eine neue Nagelfeile kaufen ...

Das war alles nicht sehr aufschlussreich, aber keiner hatte gedacht, »Oh, diese dämonischen Hexen halten mich gefangen! Will mir denn niemand helfen?« oder »Ich höre die Vampire kommen!« oder irgendwas ähnlich Dramatisches. Es klang nach einem Haufen Leute, die sich gut kannten und dieselben Ziele verfolgten. Selbst diejenige, die gebetet hatte, hatte nichts Dringliches an sich gehabt. Hoffentlich spürte Hallow die Anwesenheit meiner Gedanken nicht. Aber alle, die ich angerührt hatte, waren offenbar stark beschäftigt gewesen.

»Bubba«, sagte ich kaum lauter als ein Gedanke war, »du gehst jetzt und erzählst Pam, dass da fünfzehn Leute drin sind, und soweit ich es beurteilen kann, sind sie alle Hexen.«

»Ja, Ma'am.«

»Weißt du noch, wie du zu Pam kommst?«

»Ja, Ma'am.«

»Dann kannst du jetzt meine Hand loslassen.«

»Oh. Okay.«

»Sei leise und vorsichtig«, flüsterte ich.

Und schon war er weg. Ich kauerte mich noch tiefer in den Schatten, der dunkler war als die Nacht, neben Gestank und kaltem Metall, und hörte den Hexen zu. Drei Gehirne waren männlich, der Rest weiblich. Hallow war unter ihnen, denn eine der Frauen sah sie an und dachte über sie nach... fürchtete sich vor ihr, was mich irgendwie beunruhigte. Ich fragte mich, wo sie wohl ihre Autos geparkt hatten - falls sie nicht auf Besenstielen durch die Gegend flogen, haha. Und dann fragte ich mich etwas, das ich mich schon früher hätte fragen sollen.

Wenn sie so verdammt vorsichtig und gefährlich waren, wo waren dann eigentlich ihre Wachposten?

Und genau in dem Moment packte mich jemand von hinten.