Kapitel 7

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schien draußen die Sonne. In einem völlig geistlosen Zustand der Zufriedenheit lag ich im Bett. Ich war ein bisschen wund, empfand es aber als angenehm. Ein paar blaue Flecken - die würden nicht weiter auffallen. Und die verräterischen Bisswunden saßen nicht an meinem Hals, wo sie früher immer gewesen waren. Bei einer nur flüchtigen Betrachtung hätte niemand erkannt, dass ich mit einem Vampir die Nacht verbracht hatte; und ich hatte keinen Termin beim Frauenarzt - der einzige andere Mensch, der Grund hätte, diese Region meines Körpers zu begutachten.

Jetzt war definitiv erst mal eine weitere Dusche angesagt, und so kroch ich aus dem Bett und schwankte durchs Zimmer ins Bad. Dort hatten wir ein ziemliches Tohuwabohu hinterlassen, überall lagen Handtücher herum und der Duschvorhang war zur Hälfte aus seinen Plastikhalterungen gerissen (wann war das denn passiert?). Aber das machte nichts. Mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Lied im Herzen hängte ich ihn wieder richtig auf.

Als mir das Wasser auf den Rücken prasselte, dachte ich, dass ich wohl recht einfach gestrickt sein musste. Es brauchte nicht viel, um mich glücklich zu machen. Eine lange Nacht mit einem toten Typen hatte schon ausgereicht. Es war nicht allein der dynamische Sex, der mir solches Vergnügen bereitet hatte (obwohl es da Momente gab, die ich wohl mein Leben lang nicht mehr vergessen würde); es war das vertraute Miteinander. Die Nähe.

Nennt mich ruhig konventionell. Ich hatte die Nacht mit einem Mann verbracht, der mich wunderschön fand, mit einem Mann, der mich begehrte und der mir ein intensives Glücksgefühl geschenkt hatte. Er hatte mich berührt und mich umarmt und mit mir gelacht. Und ich war nicht mal Gefahr gelaufen, durch unsere Vergnügungen schwanger zu werden, weil Vampire keine Kinder zeugen konnten. Außerdem war ich niemandem untreu geworden (obwohl ich schon ein paar Gewissensbisse wegen Bill hatte, zugegeben), und Eric auch nicht. Es war nichts Schlechtes daran gewesen.

Nachdem ich Zähne geputzt und Make-up aufgelegt hatte, musste ich mir allerdings eingestehen, dass Reverend Fullenwilder meinen Standpunkt wohl nicht teilen würde.

Na, ich hatte sowieso nicht vorgehabt, ihm davon zu erzählen. Das war eine Sache ganz allein zwischen Gott und mir. Wenn Gott mir schon diese Behinderung des Gedankenlesens auferlegt hatte, konnte er in Sachen Sex doch mal ein Auge zudrücken, fand ich.

Natürlich bedauerte ich auch so einiges. Ich wollte zum Beispiel zu gern heiraten und Kinder haben. Und ich wäre wirklich treu wie keine andere und außerdem eine gute Mutter. Doch ich konnte keinen normalen Typen heiraten, weil ich es immer wissen würde, wenn er mich belog oder wütend auf mich war - ich würde jeden noch so kleinen Gedanken kennen, den er sich über mich machte. Selbst eine Verabredung mit einem normalen Typen überforderte mich schon. Vampire durften nicht heiraten, jedenfalls noch nicht, es war nicht legal. Bisher hatte mir auch noch kein Vampir einen Antrag gemacht, rief ich mir selbst in Erinnerung und warf etwas zu energisch den Waschlappen in den Wäschekorb. Vielleicht könnte ich mit einem Werwolf oder einem Gestaltwandler eine längere Beziehung durchhalten, weil deren Gedanken nicht so klar zu erkennen waren. Aber auch hier stellte sich die Frage: Wo war der in Frage kommende Werwolf?

Ich sollte also am besten genießen, was ich im Augenblick hatte - darin war ich mittlerweile ziemlich gut. Und das hatte ich: einen sehr attraktiven Vampir, der vorübergehend sein Gedächtnis und damit zugleich einen großen Teil seiner Persönlichkeit verloren hatte - einen Vampir also, der Selbstbestätigung genauso nötig hatte wie ich.

Als ich meine Ohrringe befestigte, ging mir schließlich auf, dass Eric wohl noch aus anderen Gründen so begeistert von mir gewesen war. Nach Tagen ohne jede Erinnerung an seine Besitztümer oder seine Untergebenen, nach Tagen ohne jedes Selbstwertgefühl, hatte er in der letzten Nacht etwas gewonnen, das ihm gehörte - mich. Seine Geliebte.

Obwohl ich vor dem Spiegel stand, sah ich darin eigentlich nicht mich selbst. Ich erkannte in der widergespiegelten Person vor allem eine Frau, die - zur Zeit - alles war, was Eric auf dieser Welt besaß.

Ich enttäuschte ihn also besser nicht.

Wieder mal war es mir rasend schnell gelungen, mich vom Gefühl entspannten Glücks auf »pflichtbewusste grimmige Entschlossenheit« runterzuschrauben. Ich war froh, als das Telefon plötzlich läutete. An der Nummer auf dem Display sah ich, dass mich Sam aus der Bar anrief statt aus seinem Wohnwagen.

»Sookie?«

»Hey, Sam.«

»Tut mir leid, die Sache mit Jason. Irgendwas Neues?«

»Nein. Ich habe gleich nach dem Aufstehen im Büro des Sheriffs angerufen und mit der Polizistin vom Telefondienst gesprochen. Sie sagte, Alcee Beck würde sich bei mir melden, wenn es was Neues gebe. Das hat sie schon die letzten zwanzig Mal gesagt, die ich angerufen habe.«

»Möchtest du, dass ich für deine Schicht jemand anderen einteile?«

»Nein. Es ist besser für mich, wenn ich was zu tun habe, statt hier zu Hause herumzusitzen. Sie wissen, wo sie mich erreichen können, wenn sie mir was mitzuteilen haben.« »Bist du sicher?«

»Ja - trotzdem danke für dein Angebot.«

»Falls ich dir irgendwie helfen kann, lass es mich wissen.«

»Da fällt mir was ein, jetzt, wo ich darüber nachdenke.«

»Sag schon.«

»Erinnerst du dich an diese kleine Gestaltwandlerin, mit der Jason an Silvester in der Bar war?«

Sam dachte einen Moment nach. »Ja«, sagte er zögernd. »War das nicht eins der Norris-Mädchen? Die wohnen drüben in Hotshot.«

»Das hat Hoyt auch gesagt.«

»Vor den Leuten dort musst du dich in Acht nehmen, Sookie. Das ist eine ganz alte Ansiedlung. Mit sehr viel Inzucht.«

Ich verstand nicht ganz, worauf Sam hinauswollte. »Kannst du mir das näher erklären? Ich hab's heute nicht so mit dem Aufdröseln rätselhafter Andeutungen.«

»Nein, geht im Moment nicht.«

»Oh, bist du nicht allein?«

»Nein. Der Snack-Lieferant ist hier. Sei vorsichtig. Die sind wirklich und wahrhaftig anders.«

»Okay«, sagte ich langsam und tappte noch immer im Dunkeln. »Ich werde vorsichtig sein. Wir sehen uns um halb fünf«, fügte ich hinzu und legte auf, irgendwie unglücklich und ziemlich verwirrt.

Es blieb noch jede Menge Zeit, um vor der Arbeit nach Hotshot und wieder zurück zu fahren. Ich zog Jeans an, Turnschuhe, ein hellrotes, langärmliges T-Shirt und meinen alten blauen Mantel. Im Telefonbuch schlug ich Crystal Norris' Adresse nach, musste jedoch erst mal meine Landkarten herauskramen und nachsehen, wo der Ort überhaupt lag. Ich hatte mein ganzes Leben lang im Landkreis Renard gewohnt und kannte die Gegend eigentlich ziemlich gut, doch Hotshot und Umgebung waren ein blinder Fleck in meinen sonst recht umfassenden Ortskenntnissen.

Ich fuhr nach Norden und bog rechts auf die Landstraße ab. Ich kam an der holzverarbeitenden Fabrik vorbei, dem größten Arbeitgeber von Bon Temps, an einer Polsterei und am Amt für Wasserversorgung. Es folgten ein Spirituosenladen und dann an einer weiteren Kreuzung ein ländliches Lebensmittelgeschäft, über dem ein riesiges Schild mit der Aufschrift KALTES BIER UND FRISCHE KÖDER hing, das noch vom Sommer übrig geblieben war. Ich bog noch einmal rechts ab, in südliche Richtung.

Je tiefer ich ins Land hineinfuhr, desto schlechter wurde die Straße. Seit dem Sommer war hier nichts mehr ausgebessert oder sonst wie instand gehalten worden. Entweder hatten die Einwohner von Hotshot keinerlei Beziehungen zur Kreisverwaltung, oder sie wollten einfach keinen Besuch haben. Die Landstraße führte zwischen sumpfigen Flussniederungen hindurch. Bei starkem Regen würde sie sofort überflutet. Es hätte mich gar nicht gewundert, wenn die Leute hier draußen hin und wieder Alligatoren zu sehen kriegten.

Schließlich kam ich erneut an eine Kreuzung, gegen die die andere mit dem Köder-Laden geradezu großstädtisch wirkte. Ein paar Häuser lagen verstreut darum herum, acht oder neun vielleicht. Es waren kleine Häuser, und keines aus Ziegelstein. In den meisten Auffahrten standen mehrere Autos. Es gab eine rostige Schaukel und einen Basketballkorb, und an zwei Häuserfronten waren Satellitenschüsseln angebracht. Merkwürdig, alle Häuser schienen abseits der eigentlichen Kreuzung zu stehen. Der Bereich direkt an den sich kreuzenden Straßen war vollkommen leer. Es war, als hätte jemand ein Seil an einen Pfahl mitten auf der Kreuzung gebunden und einen großen Kreis gezogen. Innerhalb dieses Kreises war nichts. Außerhalb duckten sich die Häuser.

Meiner Erfahrung nach waren die Leute in einer kleinen Siedlung wie dieser nicht anders als überall sonst: Manche waren arm und stolz und anständig. Manche waren arm und böse und gemein. Aber alle kannten einander in- und auswendig, und nichts blieb unbemerkt.

An diesem kühlen Tag war keine Seele draußen zu sehen, und ich wusste nicht, ob ich es mit einer schwarzen oder weißen Siedlung zu tun hatte. Es war höchst unwahrscheinlich, dass hier beides vertreten war. Ich fragte mich, ob ich überhaupt die richtige Kreuzung gefunden hatte. Doch meine Zweifel lösten sich in Luft auf, als ich das nachgemachte grüne Ortsschild entdeckte, wie man es im Versandhandel bestellen kann und das hier an einer Stange befestigt vor einem der Häuser stand. HOTSHOT war darauf zu lesen.

Ich war also am richtigen Ort. Nun galt es, Crystal Norris' Haus zu finden.

Nur mühsam konnte ich auf einem der rostigen Briefkästen eine Nummer entziffern, und dann entdeckte ich noch eine weitere. Durch ein simples Ausschlussverfahren folgerte ich, dass im nächsten Haus Crystal Norris wohnen musste. Das Haus unterschied sich kaum von den anderen; es hatte eine kleine Veranda mit einem alten Lehnsessel und zwei Liegestühlen darauf, außerdem parkten zwei Autos davor, ein Ford Fiesta und ein uralter Buick.

Als ich ausstieg, begriff ich, was so ungewöhnlich an Hotshot war.

Keine Hunde.

In jedem anderen Dorf wie diesem wären mindestens zwölf Hunde herumgestreunt, und ich hätte nicht gewusst, ob ich sicher aus meinem Auto herauskommen würde. Doch hier zerriss nicht ein einziges Aufjaulen die winterliche Stille.

Ich ging auf das Haus zu und hatte das Gefühl, dass jeder meiner Schritte aufmerksam beobachtet wurde. Ich öffnete die kaputte Fliegenschutztür, um an die massivere Holztür zu klopfen. Drei kleine Glasscheiben waren darin eingelassen. Dunkle Augen betrachteten mich durch die unterste von ihnen.

Die Tür öffnete sich gerade, als mir schon unbehaglich wurde.

Jasons Flamme vom Silvesterabend wirkte heute weit weniger glamourös in schwarzen Jeans und cremefarbenem T-Shirt. Ihre Stiefel waren vom Discounter, und ihr kurzes gelocktes Haar zeigte ein stumpfes Schwarz. Sie war dünn und angespannt. Auch wenn ich selbst sie an Silvester in die Gästeliste eingetragen hatte, wie einundzwanzig sah sie wirklich nicht aus.

»Crystal Norris?«

»Ja?« Sie klang nicht besonders unfreundlich, aber so, als wäre sie mit den Gedanken ganz woanders.

»Ich bin Sookie Stackhouse, die Schwester von Jason.«

»Oh, ja? Komm rein.« Sie trat zurück, und ich betrat ein winziges Wohnzimmer. Es war vollgestellt mit Möbeln, die sehr viel mehr Platz gebraucht hätten: zwei Sessel und ein dreisitziges Sofa aus dunkelbraunem Kunstleder, dessen dicke Knöpfe die Sitzfläche in kleine Hügel aufteilten. Im Sommer blieb wahrscheinlich jeder daran kleben und im Winter rutschte jeder darauf herum. Und in den Vertiefungen rund um die Knöpfe sammelten sich Krümel.

Ein fleckiger Teppich in Rot und Gelb und Braun lag auf dem Boden, auf dem fast flächendeckend überall Spielzeug verstreut war. Über dem Fernseher hing ein Druck vom letzten Abendmahl, und im ganzen Haus roch es gut nach roten Bohnen und Reis und Maisbrot.

Im Durchgang zur Küche experimentierte ein Kleinkind mit Legosteinen. Ich hielt es für einen Jungen, aber das war schwer zu sagen. Die Latzhose und der grüne Pullover waren nicht gerade ein exakter Hinweis, und das zarte braune Babyhaar war weder besonders kurz geschnitten noch mit einer Schleife verziert.

»Ist das deins?«, fragte ich und versuchte, freundlich und offen zu klingen.

»Nein, das meiner Schwester«, sagte Crystal. Sie deutete auf einen der Sessel.

»Crystal, ich bin hier weil... Weißt du, dass Jason vermisst wird?«

Sie saß auf der Sofakante und hatte ihre schlanken Hände angestarrt. Als ich zu sprechen begonnen hatte, blickte sie mir konzentriert in die Augen. Diese Nachricht war ihr nicht gänzlich neu.

»Seit wann?«, fragte sie. Ihre Stimme klang angenehm rau. Dieser Frau hörte man gern zu, vor allem als Mann.

»Seit der Nacht vom ersten auf den zweiten Januar. Er ging abends bei mir weg, und am nächsten Morgen erschien er nicht zur Arbeit. Auf dem kleinen Steg hinter seinem Haus war Blut. Sein Pick-up parkte vorne in der Auffahrt, und die Tür zu seinem Wagen stand offen.«

»Ich weiß überhaupt nichts darüber«, sagte sie prompt.

Sie log.

»Wer hat dir gesagt, dass ich irgendwas damit zu tun habe?«, fragte sie und wurde langsam zickig. »Ich habe meine Rechte. Ich muss nicht mit dir reden.«

Na klar, das war der 29. Zusatz zur Verfassung der Vereinigten Staaten: Gestaltwandler waren nicht verpflichtet, mit Sookie Stackhouse zu reden.

»Doch, das musst du.« Jetzt verließ auch ich die freundliche Schiene. »Mir geht's nicht so wie dir. Ich habe keine Schwester oder einen Neffen.« Ich nickte zu dem Kleinkind hinüber, immerhin hatte ich eine Fifty-fifty-Chance, richtig zu liegen. »Ich habe weder Mutter noch Vater noch irgendwen, irgendwen, außer meinem Bruder.« Ich holte tief Luft. »Ich will wissen, wo Jason ist. Und falls du etwas weißt, solltest du es mir besser sagen.«

»Ach ja? Was wirst du sonst tun?« Ihr schmales Gesicht war verzerrt. Aber sie wollte wirklich wissen, womit ich sie unter Druck setzen wollte. So viel konnte ich ihren Gedanken entnehmen.

»Ja, was?«, fragte eine ruhigere Stimme.

Ich blickte mich um. In der Tür stand ein Mann von vielleicht Anfang vierzig. Er trug einen gestutzten graumelierten Bart, und sein kurzgeschnittenes Haar lag glatt am Kopf an.

Der Mann war vielleicht eins siebzig, von geschmeidiger Gestalt und hatte muskulöse Arme.

»Alles, was nötig sein wird«, sagte ich. Ich sah ihm direkt in die Augen. Sie waren von einem sonderbar goldenen Grün. Er wirkte im Grunde nicht feindselig, sondern eher neugierig.

»Warum sind Sie hier?«, fragte er, wieder in diesem neutralen Ton.

»Wer sind Sie?« Ich musste wissen, wer dieser Typ war. Schließlich wollte ich meine Zeit nicht an jemanden verschwenden, der bloß gerade nichts Besseres zu tun hatte, als sich meine Geschichte anzuhören. Aber er strahlte Autorität aus und schien auch nicht aggressiv. Ich hätte schwören können, dass dieser Mann auf jeden Fall ein Gespräch wert war.

»Ich bin Calvin Norris, Crystals Onkel.« Seinem Gedankenmuster nach war er ebenfalls irgendeine Art Gestaltwandler. Da es in diesem Dorf überhaupt keine Hunde gab, nahm ich an, dass sie Werwölfe waren.

»Mr Norris, ich bin Sookie Stackhouse.« Sein Gesichtsausdruck verriet wachsendes Interesse. »Ihre Nichte war mit meinem Bruder Jason auf der Silvesterparty in Merlotte's Bar. Im Laufe der darauffolgenden Nacht verschwand mein Bruder plötzlich spurlos. Ich möchte erfahren, ob Crystal irgendwas weiß, das mir bei meiner Suche helfen könnte.«

Calvin Norris bückte sich und tätschelte dem kleinen Kind den Kopf, dann ging er hinüber zum Sofa, wo Crystal saß und ein missmutiges Gesicht machte. Er setzte sich neben sie, stützte die Ellenbogen auf die Knie und ließ die Hände ganz entspannt und locker zwischen den Beinen hängen. Sein Kopf neigte sich leicht, als er in Crystals mürrisches Gesicht sah.

»Das ist doch nur verständlich, Crystal. Diese junge Frau will wissen, wo ihr Bruder ist. Erzähl ihr, was du darüber weißt.«

»Warum sollte ich ihr irgendwas erzählen?«, schnappte sie. »Sie kommt hierher und versucht mir Angst einzujagen.«

»Weil es nur höflich ist, jemandem in Schwierigkeiten zu helfen. Freiwillig bist du ja nicht zu ihr gegangen und hast deine Hilfe angeboten, oder?«

»Ich wusste nicht, dass er bloß vermisst wird. Ich dachte, er -« Ihre Worte brachen ab, als ihr klar wurde, dass sie sich bereits verraten hatte.

Calvins ganzer Körper spannte sich an. Er hatte eigentlich nicht erwartet, dass Crystal etwas über Jasons Verschwinden wusste. Seine Nichte sollte einfach bloß höflich sein zu mir. Das konnte ich in seinen Gedanken lesen, aber sehr viel mehr leider nicht. Ihre Beziehung zueinander konnte ich nicht entziffern. Er hatte irgendwie Macht über das Mädchen, das war ziemlich offensichtlich, aber welche Art Macht? Es war mehr als nur die Autorität eines Onkels; mir schien, dass er sie regelrecht beherrschte. Er mochte ja alte Arbeitshosen und Sicherheitsstiefel tragen, er mochte wie jeder andere Arbeiter hier in der Gegend aussehen, doch Calvin Norris war sehr viel mehr als das.

Rudelführer, schoss es mir durch den Kopf. Aber wer konnte einem Rudel so weit draußen irgendwo in der Wildnis angehören? Nur Crystal? Dann erinnerte ich mich an Sams versteckte Warnung über das ungewöhnliche Wesen der Einwohner von Hotshot, und ich hatte eine Erleuchtung. Jeder in Hotshot war zweigestaltig.

War das möglich? Ich war nicht vollkommen sicher, ob Calvin Norris ein Werwolf war - aber ich wusste, dass er sich nicht in irgendein Häschen verwandelte. Es kostete mich einige Anstrengung, den fast unwiderstehlichen Impuls zu unterdrücken, ihm meine Hand auf den Unterarm zu legen, um so, Haut an Haut, seine Gedanken so klar wie möglich zu lesen.

Eines wusste ich allerdings genau: In den drei Nächten um Vollmond hätte ich nie und nimmer in Hotshot oder irgendwo in der Nähe sein mögen.

»Sie sind doch die Kellnerin aus dem Merlotte's«, sagte er und sah mir fast ebenso konzentriert in die Augen wie Crystal.

»Ich bin eine der Kellnerinnen im Merlotte's.«

»Und Sie sind eine Freundin von Sam?«

»Ja«, sagte ich, »bin ich. Ich bin auch eine Freundin von Alcide Herveaux. Und ich kenne Colonel Flood.«

Diese Personen sagten Calvin etwas. Es überraschte mich nicht, dass er die Namen der wichtigen Shreveport-Werwölfe kannte - und Sam. Mein Boss hatte eine Weile gebraucht, um Kontakte zu den zweigestaltigen Geschöpfen der Gegend aufzubauen, aber er hatte es geschafft.

Crystal hörte uns mit weit aufgerissenen dunklen Augen zu, ihre Laune war noch immer keinen Deut besser als vorhin. Ein junges Mädchen in Latzhose kam aus dem hinteren Teil des Hauses und hob das Kleinkind aus seinem Nest von Legosteinen heraus. Obwohl ihr Gesicht runder und ihre Figur fülliger war, war sie eindeutig als Crystals jüngere Schwester zu erkennen. Und ebenso eindeutig war sie bereits wieder schwanger.

»Brauchst du irgendwas, Onkel Calvin?«, fragte sie und starrte mich über die Schulter ihres Kindes an.

»Nein, Dawn. Kümmere dich um Matthew.« Sie verschwand wieder im hinteren Teil des Hauses. Ich hatte Recht gehabt, was das Geschlecht des Kindes betraf. Wenigstens etwas.

»Crystal«, sagte Calvin Norris mit ruhiger und furchterregender Stimme, »jetzt erzählst du uns, was du getan hast.«

Crystal war überzeugt gewesen, dass sie so davonkäme. Es war ein Schock für sie, dass sie jetzt zu einem Geständnis aufgefordert wurde.

Doch sie gehorchte. Sie zierte sich noch ein wenig, dann begann sie.

»Ich bin am Silvesterabend mit Jason ausgegangen«, sagte sie. »Ich hatte ihn bei Wal-Mart in Bon Temps kennen gelernt, als ich mir dort eine Handtasche kaufen wollte.«

Ich seufzte. Jason fand wirklich überall potentielle Bettgefährtinnen. Eines Tages würde er sich irgendeine unappetitliche Krankheit einfangen (wenn er nicht schon eine hatte) oder von einer Vaterschaftsklage eingeholt werden. Und alles, was ich tun konnte, war zugucken.

»Er fragte mich, ob ich an Silvester mit ihm ausgehen möchte. Ich glaube, die Frau, mit der er eigentlich verabredet war, hatte es sich anders überlegt. Er ist nicht der Typ, der keine Verabredung für Silvester hat.«

Ich zuckte die Achseln. Jason konnte ohne weiteres Verabredungen mit fünf verschiedenen Frauen getroffen und sie alle wieder abgesagt haben. Und es passierte nicht selten, dass Frauen sich so über seine Angewohnheit ärgerten, allem hinterherzuhecheln, was eine Vagina besaß, dass sie Verabredungen mit ihm sehr plötzlich über den Haufen warfen.

»Er ist ein süßer Typ, und ich komme gern mal aus Hotshot raus, also sagte ich ja. Er fragte mich, ob er mich abholen sollte. Aber weil das einigen meiner Nachbarn gar nicht gefallen hätte, sagte ich, wir sollten uns lieber an der Fina-Tankstelle treffen und von dort aus mit seinem Wagen fahren. Und das haben wir dann auch getan. Ich habe mich bestens mit ihm amüsiert, bin mit zu ihm nach Hause und habe eine tolle Nacht mit ihm verbracht.« Ihre Augen funkelten mich an. »Willst du wissen, wie er im Bett ist?«

Nur undeutlich nahm ich eine blitzschnelle Bewegung wahr, und dann war etwas Blut an ihrem Mundwinkel. Calvins Hand baumelte wieder zwischen seinen Knien, ehe ich überhaupt erkannte, dass er sich bewegt hatte. »Sei höflich. Zeig dieser Frau nicht deine schlechteste Seite«, sagte er. Seine Stimme klang derart ernst und bedrohlich, dass ich mir gleich vornahm, selbst besonders höflich zu sein. Nur um sicherzugehen.

»Okay. Das war wohl nicht besonders nett«, gab sie zu. Ihr Tonfall war jetzt viel weicher und zurückhaltender. »Nun, am nächsten Abend wollten wir uns wieder treffen. Also habe ich mich weggestohlen und bin zu ihm nach Hause gefahren. Aber er musste dann weg, zu seiner Schwester - zu dir? Bist du seine einzige Schwester?«

Ich nickte.

»Er sagte, ich solle bleiben, er wäre bald wieder da. Ich wollte mit ihm mitfahren, und er sagte, wenn seine Schwester nicht gerade Besuch hätte, wäre das schon okay. Doch sie hätte Vampire zu Gast, und er wolle nicht, dass ich mit denen zu tun bekäme.«

Ich schätze, Jason ahnte, was ich von Crystal Norris halten würde, und wollte es sich einfach ersparen, es sich anzuhören. Also nahm er sie gar nicht erst mit.

»Und ist er wieder nach Hause gekommen?«, fragte Calvin und stupste sie aus ihren Träumereien.

»Ja«, sagte sie, und ich verkrampfte mich.

»Was ist dann passiert?«, sagte Calvin, als sie wieder eine Pause machte.

»Ich weiß nicht so genau«, erwiderte sie. »Ich war im Haus und wartete auf ihn, und dann hörte ich sein Auto und dachte, Klasse, da ist er ja, jetzt geht die Party los. Aber er kam nicht die Stufen herauf, und ich fragte mich, was ist los? Natürlich war die Außenbeleuchtung an, aber ich bin nicht ans Fenster gegangen. Ich wusste ja, dass er es war.« Natürlich, ein Werwolf erkannte jemanden schon am Schritt oder würde seinen Geruch wahrnehmen. »Ich habe die Ohren gespitzt«, fuhr sie fort, »und gehört, wie er ums Haus herumgegangen ist. Na, dann kommt er wohl durch die Hintertür herein, dachte ich, warum auch immer - schmutzige Stiefel oder so was.«

Ich holte tief Luft. Gleich würde sie auf den springenden Punkt kommen. Ich wusste es.

»Und dann hörte ich hinter dem Haus, noch ein ganzes Stück von der Veranda weg, plötzlich jede Menge Krach, lautes Schreien und so, und dann nichts mehr.«

Wenn sie keine Gestaltwandlerin gewesen wäre, hätte sie nicht so viel gehört. Na also, wusste ich's doch, dass ich noch eine gute Seite an ihr entdecken würde, wenn ich mich nur genug anstrengte.

»Bist du rausgegangen und hast nachgesehen?«, fragte Calvin. Er strich Crystal über die schwarzen Locken, als würde er seinen Lieblingshund streicheln.

»Nein, Sir, das habe ich nicht getan.«

»Hast du etwas gerochen?«

»Ich war nicht dicht genug dran«, gab sie verdrossen zu. »Der Wind kam aus einer anderen Richtung. Ich roch Jason und Blut. Und vielleicht noch zwei, drei andere Dinge.«

»Was zum Beispiel?«

Crystal sah auf ihre Hände hinab. »Gestaltwandler, glaub' ich. Einige von uns können sich verwandeln, auch wenn kein Vollmond herrscht. Ich kann das nicht. Sonst hätte ich auch noch mehr Gerüche wahrgenommen«, sagte sie beinahe entschuldigend zu mir gewandt.

»Vampire?«, fragte Calvin.

»Ich habe noch nie einen Vampir gerochen«, sagte sie aufrichtig. »Ich weiß nicht.«

»Hexen?«, fragte ich.

»Riechen die anders als normale Menschen?«, fragte sie zweifelnd zurück.

Ich zuckte die Achseln. Das wusste ich nicht.

Calvin fragte weiter: »Was hast du danach getan?«

»Irgendwas hatte Jason in den Wald geschleppt, das wusste ich. Und da bin ich ... ich hab' Panik gekriegt. Ich bin eben nicht tapfer.« Sie zuckte die Achseln. »Ich bin zurück nach Hause. Mehr konnte ich nicht tun.«

Ich versuchte, nicht zu weinen, doch die Tränen rollten mir einfach über die Wangen. Zum ersten Mal gestand ich mir selbst ein, dass ich nicht sicher war, ob ich meinen Bruder je lebend wiedersehen würde. Doch wenn die Angreifer beabsichtigt hatten, ihn zu töten, wieso hatten sie seine Leiche dann nicht einfach hinter dem Haus liegen lassen? Wie Crystal schon richtig sagte, am Abend des Neujahrstags war kein Vollmond gewesen. Es gab da draußen Wesen, die nicht auf den Vollmond zu warten brauchten...

Es war schlimm. Mit dem Wissen über all die Geschöpfe, die außer uns noch auf der Welt existierten, konnte ich mir genauestens ausmalen, dass es auch welche gab, die Jason vielleicht auf einen Satz verschlingen würden. Oder mit ein paar Bissen.

Ich durfte mir diese Gedanken einfach nicht erlauben. Obwohl mir immer noch die Tränen herunterliefen, rang ich mich zu einem Lächeln durch. »Vielen Dank«, sagte ich höflich. »Es war wirklich nett, dass du dir Zeit für mich genommen hast. Ich weiß, du hast auch noch andere Dinge zu tun.«

Crystal sah mich misstrauisch an, aber ihr Onkel Calvin griff nach meiner Hand und tätschelte sie, was jeden zu überraschen schien, sogar ihn selbst.

Er brachte mich bis zum Auto. Wolken zogen sich am Himmel zusammen, die Kälte ließ mich schaudern, und der Wind zerrte an den kahlen Büschen, die im Vorgarten angepflanzt waren. Ich erkannte Forsythien und Spiersträuche und sogar einen Tulpenbaum. Darum herum würden bestimmt Narzissen und Schwertlilien wachsen - die gleichen Blumen, die im Garten meiner Großmutter immer blühten, die Pflanzen, die in den Gärten der Südstaaten schon seit Generationen wuchsen. Im Moment sah alles trostlos aus. Im Frühling aber würde es sicher charmant und pittoresk wirken, wenn Mutter Natur die Armut dieses verfallenen Dorfs wieder malerisch vergoldete.

Ein paar Häuser weiter die Straße hinunter tauchte hinter einem Schuppen ein Mann auf und blickte in unsere Richtung. Nach einem Augenblick lief er mit großen Schritten zurück in sein Haus. Er war zu weit weg gewesen, als dass ich mehr von ihm erkannt hätte als sein volles helles Haar. Aber seine Zurückhaltung war phänomenal. Die Leute hier draußen mochten Fremde nicht nur nicht, sie waren geradezu allergisch gegen sie.

»Das da drüben ist mein Haus.« Calvin zeigte zu einem sehr viel solideren, kleinen Haus hinüber, das erst kürzlich weiß gestrichen worden war. Alles war in tadellosem Zustand rund um Calvin Norris' Haus. Die Auffahrt und der Parkplatz waren klar abgegrenzt, der ebenfalls weiße Geräteschuppen zeigte keinen Rostflecken und stand auf sauberem betoniertem Boden.

Ich nickte. »Es sieht sehr hübsch aus«, sagte ich. Meine Stimme zitterte kaum noch.

»Ich möchte Ihnen ein Angebot machen«, sagte Calvin Norris.

Ich versuchte, Interesse zu zeigen, und drehte mich zu ihm herum.

»Sie sind jetzt eine schutzlose Frau«, begann er. »Ihr Bruder ist weg. Ich hoffe, er kommt wieder. Aber solange er vermisst wird, haben Sie niemanden, der für Sie einsteht.«

In dieser kleinen Ansprache steckten eine ganze Menge Irrtümer, doch ich war nicht in der Verfassung, darüber eine Diskussion mit ihm zu führen. Er hatte mir einen großen Gefallen getan, indem er Crystal zum Reden gebracht hatte. Jetzt stand ich da im kalten Wind und versuchte, höflich interessiert zu erscheinen.

»Wenn Sie einen Ort zum Verstecken brauchen, wenn jemand Ihnen den Rücken freihalten oder Sie verteidigen soll, dann bin ich Ihr Mann«, sagte er. Mit seinen goldgrünen Augen sah er mir direkt ins Gesicht.

Okay, ich erklär' euch, warum ich das nicht sofort mit einem Prusten abtat: Er spielte sich nicht als Überlegener auf. Ganz im Einklang mit seiner Moral verhielt er sich so nett, wie es ihm möglich war, und bot mir seinen Schutz an. Natürlich war das »Dann bin ich Ihr Mann« in jeder Hinsicht so gemeint und bezog sich nicht nur auf die Rolle als Beschützer. Aber er war nicht anzüglich. Calvin Norris bot mir an, sich um meinetwillen in Gefahr zu begeben. Und er meinte es so. So etwas tat ich nicht einfach verächtlich ab.

»Danke«, erwiderte ich. »Ich werde nicht vergessen, was Sie gesagt haben.«

»Ich hatte von Ihnen schon gehört«, sagte er. »Gestaltwandler und Werwölfe reden ja so dies und das untereinander. Es heißt, Sie sind anders.«

»Das bin ich.« Normale Männer mögen meine äußere Verpackung attraktiv finden, aber der Inhalt stößt sie immer ab. Sollten mir je die Aufmerksamkeiten von Eric oder Bill oder auch Alcide zu Kopf steigen, brauchte ich nur den Gedanken einiger Stammgäste der Bar zuzuhören, um meinem Ego einen Dämpfer zu verpassen. Ich zog meinen alten blauen Mantel enger um mich. Wie die meisten Gestaltwandler hatte Calvin ein Körpersystem, das ihn Kälte nicht so intensiv spüren ließ wie mich mein menschlicher Stoffwechsel. »Ich bin anders, aber keine Gestaltwandlerin, obwohl ich natürlich Ihre, äh, Freundlichkeit zu schätzen weiß.« Deutlicher wagte ich nicht nachzuhaken, warum er sich so interessiert zeigte.

»Ich weiß.« Er nickte anerkennend, mein Taktgefühl schien ihm zu gefallen. »Das macht Sie sogar noch ... Die Sache ist die, hier in Hotshot haben wir einfach zu viel Inzucht. Sie haben gehört, was Crystal sagt. Sie kann ihre Gestalt nur bei Vollmond wandeln, und selbst dann erreicht sie nicht die vollständige Kraft.« Er deutete auf sein eigenes Gesicht. »Meine Augen gehen kaum als menschlich durch. Wir brauchen dringend frisches Blut, neue Gene. Sie sind keine Gestaltwandlerin, aber Sie sind auch keine ganz normale Frau. Normale Frauen halten sich hier nicht lange.«

Na, das war eine vieldeutige und nicht sehr beruhigende Art, es auszudrücken. Aber ich versuchte, verständnisvoll auszusehen. Denn ich verstand ihn ja wirklich, und ich konnte auch seine Sorgen begreifen. Calvin Norris war zweifellos der Anführer dieser ungewöhnlichen Ansiedlung, und er trug die Verantwortung für deren Zukunft.

Er runzelte die Stirn, als er die Straße hinunter zu dem Haus blickte, wo ich den Mann gesehen hatte. Doch er wandte sich wieder mir zu, um abzuschließen, was er mich wissen lassen wollte. »Sie würden die Leute hier sicher mögen, und Sie wären zur Fortpflanzung unserer Linie gut geeignet. Das sehe ich auf den ersten Blick.«

Das war nun wirklich ein ungewöhnliches Kompliment. Mir fiel nichts ein, womit ich in angemessener Weise darauf reagieren konnte.

»Das ist sehr schmeichelhaft, und ich weiß Ihr Angebot zu schätzen. Ich werde Ihre Worte nicht vergessen.« Ich machte eine Pause, um meine Gedanken zu sammeln. »Die Polizei wird sicher herausfinden, dass Crystal bei Jason war, wenn sie es nicht schon weiß. Sie wird ebenfalls hierher kommen.«

»Die finden hier nichts«, sagte Calvin Norris. Mit leicht amüsiertem goldgrünem Blick sah er mir direkt in die Augen. »Die waren schon früher hier und werden auch wieder hierher kommen. Die erfahren hier gar nichts. Ich hoffe, Sie finden Ihren Bruder. Wenn Sie Hilfe brauchen, melden Sie sich. Ich habe einen Job bei Norcross. Ich bin ein zuverlässiger und treuer Mann.«

»Danke«, sagte ich, stieg in mein Auto und empfand ein starkes Gefühl der Erleichterung. Ich nickte Calvin mit ernster Miene zu, als ich aus Crystals Auffahrt zurücksetzte. Er arbeitete also bei Norcross, in der holzverarbeitenden Fabrik. Norcross zahlte hohe Löhne und bot gute Aufstiegsmöglichkeiten. Es gab schlechtere Angebote, so viel war sicher.

Auf meinem Weg zur Arbeit überlegte ich, ob Crystal in der Nacht mit Jason versucht hatte, schwanger zu werden. Calvin hatte es anscheinend überhaupt nicht gestört, dass seine Nichte mit einem fremden Mann Sex gehabt hatte. Werwölfe mussten mit ihresgleichen Nachwuchs zeugen, damit die Kinder dieselben Eigenschaften aufwiesen wie ihre Eltern; das hatte Alcide mir erzählt. Diese kleine Dorfgemeinschaft hier suchte offensichtlich nach Alternativen. Vielleicht wollten sie, dass die schwächeren Werwölfe Kinder mit normalen Menschen bekamen. Das war immer noch besser, als eine Generation von Werwölfen zu zeugen, deren Kräfte so schwach ausgeprägt waren, dass sie weder ihre zweite Natur erfolgreich leben noch als normale Menschen ein glückliches Dasein führen konnten.

Als ich bei Merlotte's Bar ankam, erschien mir das wie die Rückkehr aus einem anderen Jahrhundert. Ich fragte mich, wie lange die Leute von Hotshot wohl schon um diese Wegkreuzung angesiedelt waren und welche Bedeutung der alte Scheideweg ursprünglich für sie gehabt haben mochte. Auf die Antwort wäre ich wirklich neugierig gewesen. Dennoch war ich enorm erleichtert, wieder in der Welt angekommen zu sein, die ich kannte.

An diesem Spätnachmittag ging es in der kleinen Welt von Merlotte's Bar recht ruhig zu. Ich wechselte die Kleider, band meine schwarze Schürze um, kämmte mein Haar und wusch mir die Hände. Sam stand hinter der Bar, die Arme vor der Brust verschränkt, und starrte Löcher in die Luft. Holly trug einen Bierkrug zu einem Tisch, an dem ein einsamer Fremder saß.

»Wie war's in Hotshot?«, fragte Sam, da wir allein an der Bar waren.

»Sehr seltsam.«

Er tätschelte mir die Schulter. »Hast du irgendwas erfahren, das dich weiterbringt?«

»Eigentlich schon. Ich weiß bloß noch nicht so genau, was es bedeutet.« Sam musste sich mal die Haare schneiden lassen, fiel mir auf. Seine rotgoldenen Locken umrahmten sein Gesicht, dass er aussah wie ein Renaissance-Engel.

»Hast du Calvin Norris getroffen?«

»Ja. Er hat Crystal für mich zum Reden gebracht, und er hat mir ein höchst ungewöhnliches Angebot gemacht.«

»Was denn?«

»Das erzähle ich dir lieber ein anderes Mal.« Und wenn's um mein Leben gegangen wäre, ich hatte keine Ahnung, wie ich das in Worte fassen sollte. Ich sah auf meine Hände hinunter, mit denen ich geschäftig einen Bierkrug abspülte, und spürte, wie meine Wangen brannten.

»Calvin ist schon in Ordnung, soweit ich weiß«, sagte Sam langsam. »Er arbeitet bei Norcross, als Teamleiter. Krankenversicherung, Rente, alles dabei. Ein paar andere Typen aus Hotshot betreiben eine Werkstatt für Schweißarbeiten. Die machen ihre Sache sehr gut, hab' ich gehört. Aber ich hab' keine Ahnung, was da in Hotshot los ist, wenn die abends nach Hause kommen. Das weiß keiner so genau, glaub' ich. Hast du Sheriff Dowdy gekannt, John Dowdy? Er war Sheriff, bevor ich hierher zog.«

»Klar, an den erinnere ich mich. Er hat Jason mal wegen Vandalismus eingebuchtet. Meine Großmutter musste hin und ihn aus dem Knast holen. Sheriff Dowdy hat Jason derart die Leviten gelesen, dass ihm der Schreck in alle Glieder gefahren ist. Jedenfalls für eine Weile.«

»Sid Matt hat mir mal eine Geschichte erzählt. Anscheinend ist John Dowdy eines schönen Frühlingstages raus nach Hotshot gefahren, um Calvin Norris' Bruder Carlton festzunehmen.«

»Weswegen?« Sid Matt Lancaster war ein alter und bekannter Rechtsanwalt.

»Vergewaltigung. Das Mädchen hatte eingewilligt und war sogar schon erfahren, aber sie war minderjährig. Sie hatte einen neuen Stiefvater, und der fand, Carlton hätte sich ihm gegenüber respektlos verhalten.«

Du lieber Himmel. »Und was ist passiert?«

»Das weiß keiner. Spätnachts wurde John Dowdys Streifenwagen auf halbem Weg nach Hotshot gefunden. Leer. Kein Blut, keine Fingerabdrücke. Seitdem ist er nie wieder aufgetaucht. Keiner in Hotshot konnte sich erinnern, ihn an dem Tag gesehen zu haben.«

»Wie Jason«, sagte ich niedergeschlagen. »Er ist einfach verschwunden.«

»Aber Jason war zu Hause. Und wenn ich das richtig verstehe, war Crystal nicht darin verwickelt.«

Ich schüttelte diese gruselige kleine Geschichte von mir ab.

»Das stimmt. Hat man je herausgefunden, was John Dowdy zugestoßen ist?«

»Nein. Aber auch Carlton Norris wurde nie wieder gesehen.«

Also, jetzt wurde es interessant. »Und was schließt du daraus?«

»Dass die Leute in Hotshot das Recht in die eigenen Hände nehmen.«

»Und deswegen möchte man sie lieber auf seiner Seite haben.«

»Ja«, sagte Sam. »Unbedingt. Erinnerst du dich nicht? Das ist ungefähr fünfzehn Jahre her.«

»Zu der Zeit hatte ich meine eigenen Probleme«, erklärte ich. Damals war ich ein elfjähriges Waisenkind gewesen und kaum damit fertig geworden, dass ich immer deutlicher die Gedanken der anderen lesen konnte.

Kurz darauf kamen die ersten Leute vorbei, die auf dem Weg von der Arbeit nach Hause noch etwas trinken wollten. Sam und ich fanden den ganzen Abend über keine Gelegenheit mehr, unser Gespräch fortzusetzen - was mir ganz recht war. Ich mochte Sam sehr gern, er spielte oft die Hauptrolle in einigen meiner geheimsten Phantasien. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte ich so viele Sorgen, dass ich lieber nichts mehr hören wollte.

An diesem Abend erfuhr ich, dass es Leute gab, die Jasons Verschwinden vorteilhaft für das gesellschaftliche Leben in Bon Temps fanden. Unter ihnen waren Andy Bellefleur und seine Schwester Portia, die zum Abendessen ins Merlotte's kamen, weil ihre Großmutter Caroline eine Dinnerparty gab, um die sie einen großen Bogen machen wollten. Andy war Detective bei der Polizei und Portia Rechtsanwältin, und sie waren beide nicht gerade meine besten Freunde. Als Bill herausfand, dass sie seine Nachfahren waren, hatte er einen Plan ausgeklügelt, den Bellefleurs anonym Geld zukommen zu lassen - und sie hatten ihre mysteriöse Erbschaft wirklich in vollen Zügen genossen. Bill selbst konnten sie allerdings nicht ausstehen. Es ärgerte mich jedes Mal, wenn ich ihre neuen Autos und die teuren Klamotten und auch das neue Dach der Bellefleur-Villa sah und daran dachte, wie miserabel sie Bill behandelten - und mich auch, weil ich Bills Freundin war.

Andy war eigentlich ziemlich nett zu mir gewesen, ehe ich Bill kennen gelernt hatte. Zumindest benahm er sich höflich und gab mir ein anständiges Trinkgeld. Für Portia war ich immer unsichtbar gewesen, aber die hatte mit ihrem eigenen persönlichen Kummer zu kämpfen. Sie hatte jetzt tatsächlich einen Verehrer, hatte ich gehört. Da fragte ich mich doch gleich boshaft, ob das nicht dem plötzlichen Zuwachs an Reichtum in der Familie Bellefleur zu verdanken war. Manchmal fragte ich mich allerdings auch, ob Andys und Portias Glück proportional zu meinem wachsenden Elend anstieg. An diesem Winterabend waren sie bester Stimmung und verspeisten mit großem Genuss ihre Hamburger.

»Das mit deinem Bruder tut mir leid, Sookie«, sagte Andy, als ich ihm Tee nachgoss.

Ausdruckslos sah ich ihm ins Gesicht. Lügner, dachte ich. Eine Sekunde später ließ Andy seinen Blick beklommen schweifen und konzentrierte ihn dann auf den Salzstreuer, der plötzlich eine ganz besonders faszinierende Ausstrahlung zu haben schien.

»Hast du Bill in letzter Zeit mal gesehen?«, fragte Portia und tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. Sie wollte die unangenehme Stille mit einer freundlichen Frage beenden, machte mich aber nur noch wütender.

»Nein«, erwiderte ich. »Kann ich euch noch irgendwas bringen?«

»Nein, danke, wir haben alles«, sagte sie schnell. Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging. Dann trat ein Lächeln auf meine Lippen: Gerade als ich dachte, Miststück, dachte Portia, Was für ein Miststück.

Geiler Arsch, schaltete sich Andy ein. Verdammt, diese Gedankenleserei. Was für ein Scheiß. Ich würde es meinem ärgsten Feind nicht wünschen. Wie ich alle Leute beneidete, die nur mit den Ohren hörten.

Kevin und Kenya waren auch da, bedacht darauf, keinen Alkohol zu trinken. Dieses Polizistenteam hatte unter den Leuten von Bon Temps schon einige Heiterkeit ausgelöst. Der blasse Kevin war dürr und schmal wie ein Langstreckenläufer; schon die Ausrüstung, die er an seinem Uniformgürtel trug, schien eine zu große Last für ihn zu sein. Seine Partnerin Kenya war fünf Zentimeter größer, mehrere Kilo schwerer und ungefähr fünfzehn Nuancen dunkler als er. Die Typen, die immer an der Bar herumhingen, wetteten bereits seit zwei Jahren darauf, ob sie nun ein Liebespaar werden würden oder nicht - nur formulierten sie es natürlich etwas anders.

Wider Willen wusste ich, dass Kenya (sowie ihre Handschellen und ihr Schlagstock) in den Tagträumen viel zu vieler Gäste vorkam. Und ich wusste ebenfalls, dass gerade die Männer, die Kevin am gnadenlosesten hänselten und verspotteten, die anzüglichsten Phantasien hatten. Als ich Hamburger an Kevins und Kenyas Tisch brachte, hörte ich, wie Kenya sich fragte, ob sie Bud Dearborn vorschlagen sollte, für die Suche nach Jason die Spürhunde aus einem Nachbarbezirk anzufordern, während Kevin sich über das Herz seiner Mutter Sorgen machte, das in letzter Zeit häufiger als sonst verrückt spielte.

»Sookie«, sagte Kevin, nachdem ich ihnen noch eine Flasche Ketchup gebracht hatte, »ich wollte dir noch erzählen, dass heute ein paar Leute bei der Polizei ein Suchplakat mit einem Vampir drauf aufgehängt haben.«

»Ich habe eins beim Einkaufen gesehen«, erwiderte ich.

»Ist mir schon klar, dass du da keine Expertin bist, bloß weil du mit einem Vampir befreundet warst«, sagte Kevin vorsichtig. Kevin bemühte sich immer, freundlich zu mir zu sein. »Aber ich dachte, vielleicht hast du diesen Vampir schon mal gesehen. Bevor er verschwunden ist, meine ich natürlich.«

Kenya sah zu mir auf, ihre dunklen Augen musterten mich mit großem Interesse. Sie dachte, dass ich irgendwie immer in die kriminellen Vorkommnisse von Bon Temps verwickelt war, ohne allerdings selbst kriminell zu sein (danke, Kenya). Um meinetwillen hoffte sie, dass Jason noch am Leben war. Kevin dachte, dass ich immer nett zu ihm und Kenya war, er mir aber trotzdem lieber nicht zu nahe kommen wollte. Ich seufzte, hoffentlich unhörbar. Sie warteten auf eine Antwort. Ich zögerte, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. An die Wahrheit kann man sich stets am besten erinnern.

»Klar, den hab' ich schon mal gesehen. Eric gehört die Vampir-Bar in Shreveport«, sagte ich. »Ich bin ihm begegnet, als ich mit Bill dort war.«

»Und in letzter Zeit hast du ihn nicht gesehen?«

»Ich habe ihn sicher nicht aus dem Fangtasia entführt«, sagte ich in ziemlich sarkastischem Ton.

Kenya sah mich verdrossen an, was ich ihr nicht verdenken konnte. »Keiner sagt, dass du das getan hast«, antwortete sie in einem Tonfall, in dem »Fang bloß keinen Streit an« mitschwang. Ich zuckte die Achseln und ging wieder an die Arbeit.

Ich hatte jetzt viel zu tun. Einige Leute wollten noch ein Abendessen (manche tranken es auch), und einige Stammgäste trudelten ein, nachdem sie zu Hause gegessen hatten. Holly war genauso beschäftigt wie ich, und als einer der Männer, die bei der Telefongesellschaft arbeiteten, sein Bier verschüttete, musste sie Wischmopp und Eimer holen. Sie lief zwischen ihren Tischen hin und her, als die Tür sich öffnete. Ich sah, wie sie Sid Matt Lancaster seinen Kaffee brachte, mit dem Rücken zur Tür. Daher verpasste sie den Auftritt der neuen Gäste, ich jedoch nicht. Der junge Mann, den Sam als Aushilfe für die Stunden des Hochbetriebs eingestellt hatte, räumte gerade zwei zusammengestellte Tische ab, an denen eine größere Gesellschaft von Gemeindemitarbeitern gefeiert hatte, und daher räumte ich den Tisch der Bellefleurs ab.

Andy plauderte mit Sam, während er auf Portia wartete, die auf die Damentoilette verschwunden war. Ich hatte eben mein Trinkgeld eingesteckt, das sich auf genau fünfzehn Prozent des Rechnungsbetrags belief. Das Trinkgeld der Bellefleurs war - wenn auch nur leicht - angestiegen mit dem Reichtum der Bellefleurs. Ich sah auf, als die Tür so lange offen stand, dass ein kalter Luftzug hereinströmte.

Die Frau, die eintrat, war groß und so schlank und breitschultrig, dass ich einen prüfenden Blick auf ihre Brust warf, um sicher zu gehen, ob ich mich in ihrem Geschlecht nicht täuschte. Ihr Haar war kurz und dick und braun, und sie trug überhaupt kein Make-up. Sie kam in Begleitung eines Mannes, den ich erst sah, als sie zur Seite trat. Bei der Körpergröße war er ebenfalls nicht zu kurz gekommen, und sein enges T-Shirt ließ Arme erkennen, die muskulöser waren als alles, was ich bis jetzt gesehen hatte. Das musste ihn Jahre im Fitnessstudio gekostet haben. Sein walnussbraunes Haar fiel ihm in kleinen Locken bis auf die Schultern, sein Bart war deutlich rötlicher. Keiner der beiden trug einen Mantel, obwohl draußen eindeutig Mantel-Wetter herrschte. Die neuen Gäste kamen auf mich zu.

»Wer ist hier der Besitzer?«, fragte die Frau.

»Sam. Er steht hinter der Bar«, sagte ich und sah, so schnell es ging, wieder auf den Tisch hinunter und wischte ihn noch einmal ab. Der Mann hatte mich interessiert gemustert, das war ganz normal. Als sie an mir vorbeizogen, sah ich, dass er ein paar Plakate unter dem Arm trug und einen Tacker. Eine Hand hatte er durch eine große Rolle Klebeband gesteckt, so dass sie an seinem linken Handgelenk baumelte.

Ich sah zu Holly hinüber. Sie war völlig erstarrt und hielt die Tasse Kaffee für Sid Matt Lancaster immer noch auf halber Höhe über seinem Tisch. Der alte Rechtsanwalt sah zu ihr hinauf und folgte ihrem Blick hinüber zu dem Paar, das zwischen den Tischen hindurch zur Bar ging. Im Merlotte's, bis eben ein ruhiges und friedvolles Plätzchen, herrschte plötzlich eine höchst angespannte Atmosphäre. Holly setzte die Tasse ab, ohne Mr Lancaster zu verbrühen, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand blitzschnell durch die Schwingtür in die Küche.

Das reichte mir vollkommen als Bestätigung dafür, wer diese Frau war.

Die beiden waren bei Sam angekommen und führten ein leises Gespräch mit ihm. Andy hörte zu, einfach weil er zufällig in der Nähe stand. Ich ging an ihnen vorbei, um das schmutzige Geschirr zur Durchreiche zu tragen, und hörte, wie die Frau mit einer tiefen Altstimme sagte: »... diese Plakate in der Stadt aufgehängt, falls jemand ihn sehen sollte.«

Das war Hallow, die Hexe, deren Jagd auf Eric so viel Unheil angerichtet hatte. Sie, oder ein anderes Mitglied ihres Hexenzirkels, war wahrscheinlich die Mörderin von Adabelle Yancy. Und dies war auch die Frau, die vielleicht meinen Bruder Jason entführt hatte. Mein Kopf begann zu pochen, als säße ein kleiner Dämon darin und versuchte, mit einem Hammer auszubrechen.

Kein Wunder, dass Holly in dieser Verfassung war und unter keinen Umständen von Hallow entdeckt werden wollte. Sie war zu Hallows kleinem Treffen in Shreveport gegangen, und ihr Hexenzirkel hatte Hallows Aufforderung zur Zusammenarbeit abgelehnt.

»Natürlich«, sagte Sam. »Hängen Sie eins hier an dieser Wand auf.« Er wies auf eine Stelle neben der Tür, die nach hinten zu den Toiletten und zu seinem Büro führte.

Holly steckte den Kopf durch die Küchentür, sah Hallow und verschwand sofort wieder. Hallow warf einen kurzen Blick zur Schwingtür hinüber, aber nicht rechtzeitig genug, um Holly zu sehen, wie ich hoffte.

Am liebsten wäre ich über Hallow hergefallen und hätte auf sie eingeprügelt, bis sie mir alles sagte, was ich über meinen Bruder wissen wollte. Das war es, wozu das Hämmern in meinem Kopf mich drängte - handeln, irgendetwas tun. Doch ich besaß auch eine letzte Spur gesunden Menschenverstand, und zum Glück für mich setzte er sich durch. Hallow war groß, und ihr Handlanger konnte mich ohne weiteres zerquetschen - außerdem wären sowieso Kevin und Kenya dazwischen gegangen, noch ehe ich sie zum Reden gebracht hätte.

Es war unglaublich frustrierend, sie direkt vor mir zu haben und zugleich unfähig zu sein, dieser Hexe ihr Wissen zu entreißen. Ich ließ all meine Schutzbarrieren fallen und hörte so angestrengt wie möglich hin.

Doch sie spürte etwas, als ich an ihre Gedanken rührte.

Sie wirkte leicht irritiert und schaute sich um. Das war mir Warnung genug. So schnell ich konnte, zog ich mich wieder in meinen eigenen Kopf zurück. Ich setzte meinen Weg hinter die Bar fort und ging nur ein paar Schritte entfernt an ihr vorbei, während sie noch immer versuchte herauszufinden, wer ihre Gedanken gestreift hatte.

Das war mir noch nie zuvor passiert. Niemand, niemand hatte mich je verdächtigt, seine Gedanken zu belauschen. Ich ging hinter der Bar in die Hocke, um an den großen Behälter mit Salz heranzukommen, richtete mich wieder auf und füllte sorgfältig den Streuer von Kevins und Kenyas Tisch nach. Ich konzentrierte mich so stark wie nur irgend möglich auf diese kleine nichtige Aufgabe, und als ich fertig war, hing das Plakat an der Wand. Hallow stand immer noch da, zögerte ihr Gespräch mit Sam hinaus und suchte weiterhin nach der Person, die an ihre Gedanken gerührt hatte. Mr Muskulös musterte mich - aber nur, wie ein Mann eine Frau mustert -, als ich den Salzstreuer an seinen Platz brachte. Holly war nicht wieder aufgetaucht.

»Sookie«, rief Sam.

Ach du Scheiße. Darauf musste ich reagieren. Er war mein Boss.

Ich ging hinüber zu den dreien, Angst im Herzen und ein Lächeln auf den Lippen.

»Hey«, sagte ich grüßend und schenkte der Hexe und ihrem bulligen Handlanger ein neutrales Lächeln. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich Sam fragend an.

»Marnie Stonebrook, Mark Stonebrook«, sagte er.

Ich nickte ihnen zu. Hallow, so, so dachte ich halb amüsiert. >Hallow< klang schon ein wenig spiritueller als >Marnie<.

»Sie suchen nach diesem Typen hier«, sagte Sam und deutete auf das Plakat. »Kennst du den?«

Sam wusste natürlich, dass ich Eric kannte. Jetzt war ich froh über meine jahrelange Übung darin, Gefühle und Gedanken vor anderen zu verbergen. Nachdenklich betrachtete ich das Plakat.

»Klar, den hab' ich schon mal gesehen«, sagte ich. »In dieser Bar in Shreveport. So einen vergisst man nicht so schnell, was?« Ich lächelte Hallow - Marnie - an. Zwei Mädels, die eine typische Mädels-Erfahrung teilten.

»Gutaussehender Typ«, stimmte sie in ihrem dunklen Tonfall zu. »Er wird vermisst, und wir bieten jedem, der uns etwas über ihn sagen kann, eine Belohnung an.«

»Ja, das steht auf dem Plakat«, sagte ich und legte einen Anflug von Gereiztheit in meine Stimme. »Gibt's irgendeinen bestimmten Grund, warum er gerade hier sein soll? Ich kann mir nicht vorstellen, was ein Vampir aus Shreveport in Bon Temps zu suchen hat.« Ich sah sie fragend an.

»Gute Frage, Sookie«, sagte Sam. »Macht mir ja nichts aus, das Plakat aufzuhängen. Aber wie kommt's, dass Sie beide in dieser Gegend hier nach dem Typen suchen? Warum sollte er hier sein? In Bon Temps ist der tote Hund begraben.«

»Diese Stadt hat doch einen fest ansässigen Vampir, oder nicht?«, fragte Mark Stonebrook plötzlich. Seine Stimme war fast identisch mit der seiner Schwester. Bei einem solchen Muskelprotz erwartete man einen tiefen Bass, und selbst eine dunkle Altstimme wie Marnies klang sonderbar aus seiner Kehle. Aber eigentlich lag bei Mark Stonebrooks Erscheinung genauso gut die Vermutung nahe, dass er nur grunzen und knurren konnte.

»Ja, Bill Compton wohnt hier«, sagte Sam. »Aber er ist nicht da.«

»Nach Peru verreist, hab' ich gehört«, fügte ich hinzu.

»Oh, ja. Von Bill Compton habe ich schon gehört. Wo wohnt er?«, fragte Hallow und versuchte, ihre Aufregung zu unterdrücken.

»Tja, er wohnt bei mir in der Nähe, hinter dem alten Friedhof«, sagte ich, weil mir gar nichts anderes übrig blieb. Wenn die beiden jemand anderen fragten und eine andere Antwort erhielten, wussten sie gleich, dass ich etwas (oder in diesem Fall, jemanden) zu verbergen hatte. »In der Nähe der Hummingbird Road.« Ich beschrieb ihnen den Weg, aber nicht sehr präzise, und hoffte, sie würden sich irgendwo da draußen verfahren und in einem Nest wie Hotshot landen.

»Nun, wir werden mal bei Comptons Haus vorbeifahren. Vielleicht wollte Eric ihn ja besuchen«, sagte Hallow. Sie sah ihren Bruder Mark an, die beiden nickten uns zu und verließen umgehend die Bar. Wie das auf uns wirkte, war ihnen ganz egal.

»Sie schicken Hexen los, die alle Vampire besuchen sollen«, sagte Sam leise. Natürlich. Die Stonebrooks würden alle Vampire aufsuchen, die Eric verpflichtet waren - alle Vampire des Bezirks Fünf. Sie vermuteten, einer dieser Vampire habe Eric Unterschlupf geboten. Da Eric nicht wieder aufgetaucht war, wurde er versteckt. Hallow musste ziemlich sicher sein, dass ihr Fluch wirkte, schien aber nicht genau zu wissen wie.

Ich schaltete das Lächeln in meinem Gesicht ab, lehnte mich mit den Ellenbogen gegen die Bar und dachte angestrengt nach.

»Du hast richtig großen Ärger, stimmt's?«, fragte Sam. Er machte eine sehr ernste Miene.

»Ja, richtig großen Ärger.«

»Willst du gehen? Ist ja nicht mehr allzu viel los hier. Jetzt, wo sie weg sind, kann Holly aus der Küche rauskommen. Und ich kann auch selbst mal nach den Tischen sehen, wenn du nach Hause fahren möchtest ...« Sam war nicht sicher, wo Eric war, aber er hatte seine Vermutungen. Und er hatte gesehen, wie überstürzt Holly in die Küche gerannt war.

Meine Loyalität und mein Respekt für Sam waren noch um ein Hundertfaches gestiegen.

»Ich gebe ihnen noch fünf Minuten Vorsprung.«

»Meinst du, sie haben was mit Jasons Verschwinden zu tun?«

»Sam, ich weiß es auch nicht.« Ganz automatisch wählte ich die Nummer vom Büro des Sheriffs und erhielt dieselbe Antwort wie den ganzen Tag schon - »Nichts Neues, wir rufen Sie an, sobald wir mehr wissen«. Doch diesmal erzählte mir die Polizistin außerdem noch, dass am nächsten Tag der Teich abgesucht würde. Der Polizei war es gelungen, zwei Rettungstaucher aufzutreiben. Ich wusste nicht, was ich von dieser Information halten sollte. Am meisten erleichterte es mich, dass sie Jasons Verschwinden jetzt endlich ernst nahmen.

Nachdem ich aufgelegt hatte, erzählte ich Sam die Neuigkeit. Ich zögerte eine Sekunde, dann fuhr ich fort: »Es ist schon merkwürdig, dass in Bon Temps zwei Männer zur selben Zeit verschwinden. Zumindest die Stonebrooks scheinen ja zu meinen, dass Eric irgendwo hier in der Gegend ist. Vielleicht gibt es da wirklich eine Verbindung.«

»Diese Stonebrooks sind Werwölfe«, murmelte Sam.

»Und Hexen. Sei vorsichtig, Sam. Sie ist eine Mörderin. Die Werwölfe von Shreveport sind hinter ihr her und die Vampire auch. Pass auf dich auf.«

»Was ist so furchtbar an ihr? Warum sollte das Rudel aus Shreveport Probleme haben, mit ihr fertig zu werden?«

»Sie trinkt Vampirblut«, sagte ich ganz nah an seinem Ohr. Ich schaute mich im Raum um und sah, dass Kevin unser Gespräch mit großem Interesse verfolgte.

»Und was will sie von Eric?«

»Sie will seine Geschäfte übernehmen, all seine Geschäfte. Und sie will ihn für sich haben.«

Sam riss die Augen auf. »Dann ist es also auch eine persönliche Angelegenheit.«

»Ja.«

»Weißt du, wo Eric ist?« Bis jetzt hatte er vermieden, mich direkt danach zu fragen.

Ich lächelte ihn an. »Woher soll ich das wissen? Aber zugegeben, Sorgen mache ich mir schon, wenn die beiden sich in der Nähe meines Hauses herumtreiben. Ich schätze, sie werden bei Bill einbrechen. Sie glauben vielleicht, dass Eric sich zusammen mit Bill oder in Bills Haus versteckt. Er hat bestimmt einen sicheren Schlafplatz für Eric und genug Blut auf Vorrat.« Sehr viel mehr brauchte ein Vampir nicht, Blut und einen dunklen Platz zum Schlafen.

»Du willst also Bills Grundstück bewachen? Das ist keine gute Idee, Sookie. Soll sich Bills Versicherung um den Schaden kümmern, den sie anrichten. Bill würde auch nicht wollen, dass du verletzt wirst bei der Verteidigung von Pflanzen und Ziegelsteinen.«

»Ich habe nichts annähernd so Gefährliches vor«, beruhigte ich ihn, und ehrlich, das hatte ich wirklich nicht. »Aber ich werde trotzdem nach Hause fahren. Nur für den Fall. Wenn ich sie von Bills Haus wegfahren sehe, gehe ich mal rüber und schaue nach.«

»Brauchst du mich, soll ich mitkommen?«

»Nein, ich sehe mir bloß den Schaden an, das ist alles. Und du kommst mit Holly allein klar?« Kaum hatten die Stonebrooks die Bar verlassen, war sie aus der Küche wieder aufgetaucht.

»Aber sicher.«

»Okay, dann bin ich weg. Vielen Dank.« Mein Gewissen plagte mich nicht mehr allzu sehr, als ich sah, dass im Vergleich zu vorhin kaum noch etwas los war. Es gab solche Abende, an denen die Leute auf einmal plötzlich alle weg waren.

Ich hatte so ein kribbelndes Gefühl im Nacken, und vielleicht hatten unsere Gäste auch so ein Gefühl gehabt. Ein Gefühl, als lauere da draußen irgendwas, was dort nicht hingehörte: das Halloween-Gefühl nenne ich es immer; wenn dich die Vorstellung nicht loslässt, dass etwas Böses langsam um die Ecke deines Hauses schleicht und gleich durch dein Fenster spähen wird.

Als ich endlich meine Handtasche geholt, mein Auto aufgeschlossen hatte und nach Hause fuhr, zuckte ich fast vor Nervosität. Viel höllischer konnte die Situation kaum werden: Jason war verschwunden, die Hexe war hier statt in Shreveport, und jetzt befand sie sich nur noch eine halbe Meile von Eric entfernt.

Als ich von der Landstraße links in meine lange kurvenreiche Auffahrt einbog und kurz bremsen musste, weil ein Hirsch aus dem südlich gelegenen Waldstück in das nördlich gelegene Waldstück wechselte - sich also von Bills Haus wegbewegte, wie mir auffiel -, stand ich kurz davor, durchzudrehen. Ich fuhr ums Haus herum zur Hintertür, sprang aus dem Auto und rannte die Stufen hinauf.

Auf halbem Weg ergriffen mich plötzlich zwei Arme so stark wie Stahlbänder. Ich wurde hochgehoben und herumgewirbelt, und ehe ich wusste, wie mir geschah, waren meine Beine um Erics Taille geschlungen.

»Eric«, sagte ich, »du solltest nicht hier draußen sein -«

Er schnitt mir einfach das Wort ab, indem er seinen Mund auf meinen presste.

Eine Minute lang erschien mir dieses Programm als eine realisierbare Alternative. Ich würde einfach all das Böse vergessen und mich hier auf meiner Veranda mit ihm um den Verstand vögeln - ganz egal, wie kalt es sein mochte. Doch die Vernunft sickerte langsam wieder hervor, beruhigte ein wenig meine in jeder Hinsicht überdrehten Gefühle, und ich rückte ein wenig von ihm weg. Er trug die Jeans und das »Louisiana Tech«-Sweatshirt, die Jason für ihn bei Wal-Mart gekauft hatte. Erics große Hände lagen unter meinem Hintern, und meine Beine umschlangen ihn, als wäre das ihr angestammter Platz.

»Hör zu, Eric«, sagte ich, als seine Lippen meinen Hals entlangstrichen.

»Schhh«, flüsterte er.

»Nein, lass mich ausreden. Wir müssen uns verstecken.«

Das erregte seine Aufmerksamkeit. »Vor wem?«, sagte er in mein Ohr, und ich erzitterte. Dies Zittern stand allerdings in keinerlei Zusammenhang mit der kühlen Temperatur.

»Vor der bösen Hexe, die hinter dir her ist«, erklärte ich hastig. »Sie ist mit ihrem Bruder heute in der Bar gewesen und hat dort das Plakat aufgehängt.«

»So?« Seine Stimme klang sorglos.

»Sie fragten, welche Vampire hier sonst noch in der Gegend wohnen, und wir mussten natürlich Bill erwähnen. Ich schätze, inzwischen sind sie bereits in seinem Haus und suchen nach dir.«

»Und?«

»Es liegt gleich da hinter dem alten Friedhof! Was, wenn sie auch hier vorbeikommen?«

»Du rätst mir, mich zu verstecken? Ich soll wieder in dieses schwarze Loch unter deinem Haus?« Er klang verunsichert, doch vor allem war er in seinem Stolz gekränkt.

»Oh, ja. Nur für kurze Zeit! Ich bin verantwortlich für dich und muss für deine Sicherheit sorgen.« Mich beschlich das ungute Gefühl, dass ich meine Ängste auf die falsche Weise formuliert hatte. Dieser zögerliche Fremde hier - so desinteressiert an allen Vampirangelegenheiten er auch war und so wenig er sich seiner Macht und Besitztümer erinnerte - besaß immer noch den Stolz und die Neugier, die der echte Eric stets in den unmöglichsten Situationen hervorgekehrt hatte. Und ich hatte ihn genau auf dem falschen Fuß erwischt. Vielleicht würde es mir ja wenigstens noch gelingen, ihn ins Haus zu locken statt hier allen Blicken ausgesetzt auf der Veranda herumzustehen.

Aber es war zu spät. Eric ließ sich einfach nie irgendetwas sagen.