Kapitel 8

»Komm, Geliebte, schauen wir mal nach«, sagte Eric und gab mir schnell noch einen Kuss. Er sprang von der Veranda - ich klebte immer noch an ihm wie eine riesige Klette - und landete völlig lautlos auf dem Boden, was ich erstaunlich fand. Ich war es, die laut war mit meinen Atemgeräuschen und leisen Aufschreien. Mit einer Geschicklichkeit, die von langer Übung zeugte, schwang Eric mich herum, so dass ich schließlich huckepack auf seinem Rücken saß. So etwas hatte ich zuletzt als Kind getan, als mein Vater mit mir spielte, und ich war ziemlich überrumpelt.

Oh, ich machte meine Sache wirklich bestens und versteckte Eric vortrefflich. Denn was taten wir? Wir sausten über den Friedhof dahin und geradewegs der Wahnwitzigsten Werwolf-Hexe der Westlichen Welt in die Arme, statt uns in einem dunklen Loch zu verstecken, wo sie uns nicht finden konnte. Das war ja so clever.

Allerdings musste ich zugeben, dass es mir auch Spaß machte, trotz aller Schwierigkeiten, in diesem hügeligen Gelände einen richtigen Halt an Eric zu finden. Von meinem Haus aus ging es etwas bergab zum Friedhof. Das Compton-Haus lag wiederum höher als der Friedhof, und dorthin ging es bergauf. Der Vampirflug bergab und über den Friedhof hinweg hatte etwas Berauschendes - auch wenn ich zwei oder drei geparkte Autos auf der schmalen geteerten Straße entdeckte, die sich zwischen den Gräbern hindurch wand. Das überraschte mich. Zwar kamen manchmal Teenager hierher, weil sie zu zweit allein sein wollten, aber sie kamen nie in Gruppen. Doch ehe ich den Gedanken abschließen konnte, waren wir schon an ihnen vorbei, schnell und lautlos. Bergan wurde Eric etwas langsamer, zeigte jedoch kein Anzeichen von Erschöpfung.

Neben einem Baum blieb er schließlich stehen. Als ich den Stamm berührte, war ich mehr oder weniger orientiert. Ungefähr zwanzig Meter nördlich von Bills Haus stand eine Eiche dieser Größe.

Eric löste meine Hände, und ich glitt seinen Rücken hinab. Dann schob er mich an den Baumstamm. Ich wusste nicht, ob er mich dort zurücklassen oder mich schützen wollte. In dem ziemlich vergeblichen Versuch, ihn an meiner Seite zu halten, ergriff ich seine Handgelenke. Ich erstarrte, als ich eine Stimme von Bills Haus herüberdriften hörte.

»Dieses Auto wurde schon länger nicht mehr gefahren«, sagte eine Frau. Hallow. Sie stand auf Bills Parkplatz, der auf der uns zugewandten Seite des Hauses lag. Sie war uns sehr nahe. Ich konnte spüren, wie Erics Körper ganz starr wurde. Weckte der Klang ihrer Stimme eine Erinnerung in ihm?

»Das Haus ist fest verschlossen«, rief Mark Stonebrook von weiter weg.

»Na, damit sollten wir wohl fertig werden.« Dem Klang ihrer Stimme nach zu urteilen, bewegte sie sich in Richtung Haus. Sie klang amüsiert.

Sie brachen wirklich in Bills Haus ein! Ich hatte mich wohl unwillkürlich bewegt, denn plötzlich presste Eric meinen Körper gegen den Baumstamm. Mein Mantel war bis an die Taille hochgeschoben, und die Rinde grub sich durch den dünnen Hosenstoff schmerzhaft in meinen Hintern.

Ich konnte Hallow hören. Sie stimmte einen Sprechgesang an, der sehr leise und sehr bedrohlich klang. Wahrscheinlich hexte sie gerade irgendetwas. Das war aufregend, und ich hätte neugierig sein sollen: ein echter magischer Zauberspruch, ausgeführt von einer echten Hexe. Doch ich war bloß zu Tode erschrocken und wollte nichts wie weg. Die Dunkelheit schien noch schwärzer zu werden.

»Ich rieche jemanden«, sagte Mark Stonebrook.

Nein, nein, nein, nein.

»Was? Hier? Jetzt?« Hallow unterbrach ihren Gesang und klang ein bisschen atemlos.

Ich begann zu zittern.

»Ja.« Seine Stimme wurde immer tiefer und war fast schon ein Knurren.

»Verwandle dich«, befahl sie einfach so. Ich hörte ein Geräusch, das ich ganz bestimmt schon einmal gehört hatte, aber ich konnte mich nicht erinnern, wo. Es klang irgendwie zäh. Klebrig. Als würde jemand einen Löffel durch eine dicke Flüssigkeit ziehen, in der kleine harte Teile schwammen, Erdnüsse etwa oder Karamellstückchen. Oder Knochensplitter.

Dann hörte ich ein durchdringendes Heulen. Das war ganz und gar kein menschlicher Laut mehr. Mark hatte sich verwandelt, und wir hatten nicht Vollmond. Plötzlich schien die Nacht voll Leben zu sein. Schnüffeln. Jaulen. Winzige Bewegungen überall um uns herum.

Na, war ich nicht eine großartige Beschützerin für Eric? Ich hatte ihm erlaubt, mich im Flug hierher zu tragen. Wir waren drauf und dran, von einer Vampirblut trinkenden Werwolf-Hexe entdeckt zu werden und wer weiß was noch alles, und ich hatte nicht mal Jasons Schrotflinte dabei. Ich schlang meine Arme um Eric und umarmte ihn entschuldigend.

»Tut mir leid«, flüsterte ich so leise wie eine Biene. Und dann spürte ich, wie etwas uns streifte, etwas Großes aus Fell, während Mark Stonebrook ein, zwei Meter entfernt auf der anderen Seite des Baumes ein fürchterliches Wolfsgeheul anstimmte. Ich biss mir fest auf die Lippe, um nicht selbst ein Jaulen auszustoßen.

Angestrengt lauschte ich und erkannte immer deutlicher, dass mehr als zwei Tiere um uns waren. Ich hätte in diesem Moment fast alles gegeben für ein Flutlicht. In etwa zehn Meter Entfernung ertönte ein kurzes, scharfes Bellen. Noch ein Wolf? Oder einfach ein alter Hund, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielt?

Plötzlich verließ mich Eric. Im einen Augenblick hielt er mich in der pechschwarzen Nacht noch gegen den Baum gedrückt, und schon im nächsten Augenblick erfasste mich kalte Luft von Kopf bis Fuß (so viel dazu, dass ich ihn an den Handgelenken festhielt). Ich streckte die Arme aus und tastete nach ihm, doch ich griff immer nur ins Leere. War er weggegangen, um herauszufinden, was hier vor sich ging? Hatte er beschlossen, sich ihnen anzuschließen?

Meine Hände bekamen keinen Vampir zu fassen, doch etwas Großes und Warmes presste sich gegen meine Beine. Ich streckte meine Hände nach unten, um zu erkunden, mit welcher Art Tier ich es zu tun hatte. Ich spürte sehr viel Fell: ein Paar aufrecht stehende Ohren, eine lange Schnauze, eine warme Zunge. Ich versuchte mich zu bewegen, von der Eiche wegzutreten, doch der Hund (Wolf?) ließ es nicht zu. Obwohl er kleiner war als ich und weniger wog, presste er sich mit solchem Druck gegen mich, dass ich mich nicht rühren konnte. Als ich hörte, was da in der Dunkelheit vor sich ging - ein einziges Knurren und Bellen -, war ich eigentlich auch ganz froh darüber. Ich sank auf die Knie und schlang einen Arm um den Hund. Er leckte mein Gesicht.

Ich hörte einen ganzen Chor heulender Laute, die unheimlich in die kalte Nacht aufstiegen. Mir stellten sich die Nackenhaare auf, ich vergrub mein Gesicht im Fell meines Beschützers und betete. Und plötzlich ertönte, lauter als alles andere, ein Schmerzgeheul und anhaltendes Jaulen.

Ich hörte, wie ein Auto angelassen wurde. Scheinwerfer schnitten Lichtkegel in die Nacht. Da ich auf der anderen Seite der Eiche stand, traf mich das Licht nicht. Aber ich konnte erkennen, dass ich eng an einen Hund gekauert dasaß, und nicht an einen Wolf. Dann bewegten sich die Scheinwerfer weg von mir, Kies spritzte von Bills Auffahrt hoch, als das Auto zurücksetzte und umdrehte. Einen Augenblick lang stand es still, wahrscheinlich legte der Fahrer einen anderen Gang ein, und schließlich raste das Auto mit quietschenden Reifen die Anhöhe hinunter und auf die Abzweigung zur Hummingbird Road zu. Ein schreckliches dumpfes Geräusch und ein hoher schriller Schrei ertönten, und mein Herz hämmerte noch schneller. Das waren die Laute, die ein Hund von sich gab, wenn er von einem Auto überfahren wurde.

»O Gott«, sagte ich unglücklich und klammerte mich an meinen vierbeinigen Freund. Ich überlegte, ob ich irgendwie helfen konnte, jetzt, da die Hexen weg waren.

Ich stand auf und rannte auf Bills Haustür zu, ehe der Hund mich stoppen konnte. Während ich noch rannte, zog ich bereits meinen Schlüsselbund aus der Tasche. Ich hatte ihn in der Hand gehabt, als Eric mich vor meiner Hintertür abgefangen hatte, und ich hatte ihn einfach in die Manteltasche gestopft. Ein Taschentuch hatte verhindert, dass es klapperte. Ich tastete nach dem Schlüsselloch, zählte meine Schlüssel, bis ich Bills fand - es war der dritte -, und schloss die Tür auf. Ich griff hinein, schaltete die Außenbeleuchtung ein, und augenblicklich war das ganze Grundstück beleuchtet.

Alles war voller Wölfe.

Keine Ahnung, wie entsetzt ich hätte sein sollen. Ziemlich entsetzt, schätze ich. Immerhin war es ja reine Vermutung, dass die beiden Werwolf-Hexen in dem Auto gesessen hatten. Was, wenn Hallow oder Mark noch unter den anwesenden Wölfen waren? Und wo war mein Vampir?

Diese Frage wurde umgehend beantwortet. Es gab einen dumpfen Knall, und Eric landete vor der Haustür.

»Ich bin ihnen bis zur Straße gefolgt, aber dann fuhren sie zu schnell für mich«, sagte er und grinste mich an, als hätten wir ein Spiel gespielt.

Ein Hund - ein Collie - lief auf Eric zu, sah ihm ins Gesicht und bellte.

»Seht«, sagte Eric und machte eine gebieterische Handbewegung.

Mein Boss trottete zu mir herüber und lehnte sich wieder gegen meine Beine. Schon in der Dunkelheit hatte ich geahnt, dass mein Beschützer Sam war. Als ich ihm das erste Mal in seiner verwandelten Gestalt begegnet war, hatte ich ihn für einen streunenden Hund gehalten und ihn Dean genannt - nach einem Mann, den ich kannte und der dieselbe Augenfarbe hatte. Inzwischen hatte ich mir angewöhnt, ihn Dean zu nennen, wenn er auf vier Beinen unterwegs war. Ich setzte mich auf Bills Eingangsstufen, und der Collie kuschelte sich an mich. »Was bist du für ein toller Hund«, sagte ich. Er wedelte mit dem Schwanz. Die Wölfe beschnupperten Eric, der stocksteif dastand.

Ein großer Wolf kam auf mich zu, der größte, dem ich je begegnet war. Werwölfe waren wohl immer besonders groß, vermutete ich; so viele hatte ich ja bislang auch noch nicht gesehen. Da ich in Louisiana wohnte, hatte ich überhaupt noch nie einen normalen Wolf zu Gesicht bekommen. Dieser Werwolf war fast gänzlich schwarz, was doch bestimmt ungewöhnlich war. Das Fell der übrigen Wölfe schimmerte eher silbergrau, außer bei einem, der kleiner war und ein rötliches Fell hatte.

Mit seinen langen weißen Zähnen schnappte der Werwolf nach meinem Ärmel und zog daran. Ich erhob mich sofort und ging hinüber zu dem Platz, wo die anderen Wölfe herumliefen. Die meisten hielten sich am Rande des Lichtkegels auf, deshalb war mir bisher entgangen, wie viele es waren. Überall auf dem Boden war Blut, und mitten in der sich ausbreitenden Lache lag eine junge dunkelhaarige Frau. Sie war nackt.

Und sie war ganz offensichtlich schwer verletzt.

»Hol mein Auto«, sagte ich zu Eric in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Ich warf ihm meinen Schlüsselbund zu, und er erhob sich erneut in die Lüfte. Mit den Resten meines Verstandes, die noch erreichbar waren, hoffte ich, dass er sich ans Autofahren erinnerte. Auch wenn er nichts mehr über seine persönliche Geschichte wusste, die Fähigkeiten des modernen Lebens hatte er bislang ja einwandfrei beherrscht.

Ich versuchte, nicht über das arme verletzte junge Mädchen, das direkt vor mir lag, nachzudenken. Die Wölfe umkreisten sie mit klagendem Jaulen. Und dann hob der große schwarze Werwolf seinen Kopf zum dunklen Himmel empor und stieß erneut ein Heulen aus. Dies schien so eine Art Signal zu sein, denn alle anderen stimmten jetzt mit ein. Ich schaute mich nach Dean um, der unter diesen Wölfen ein Außenseiter war, und hoffte, dass ihm keine Gefahr drohte. Ich hatte keine Ahnung, wie viel menschliche Anteile diesen Geschöpfen erhalten blieben, wenn sie sich verwandelten; und ich wollte nicht, dass ihm etwas zustieß. Er saß auf der kleinen Veranda, die Augen auf mich gerichtet.

Ich war das einzige Lebewesen mit frei beweglichen Daumen, und mir wurde plötzlich klar, dass mir das eine ganze Menge Verantwortung auferlegte.

Was sollte ich zuerst überprüfen? Die Atmung. Ja, sie atmete! Ihr Puls war zu spüren. Ich war zwar kein Sanitäter, aber normal schien ihr Pulsschlag nicht zu sein - was ja auch kein Wunder war. Ihre Haut fühlte sich heiß an, vielleicht noch von der Verwandlung zurück in einen Menschen. Ich sah nirgends mehr frisches Blut hervorquellen und hoffte, dass keine lebenswichtige Arterie verletzt war.

Sehr vorsichtig schob ich eine Hand unter den Kopf des jungen Mädchens und fuhr ihr durch das verschmutzte Haar, um zu sehen, ob ihre Kopfhaut schwere Wunden aufwies. Nein.

Irgendwann während dieser Untersuchung begann ich am ganzen Körper zu zittern. Ihre Verletzungen waren schrecklich. Alles, was ich von ihr sehen konnte, wirkte geschunden, gequetscht, gebrochen. Sie öffnete die Augen. Ein Beben durchlief sie. Decken - sie musste unbedingt warm gehalten werden. Ich sah mich um. Alle Werwölfe waren immer noch Werwölfe.

»Es wäre eine große Hilfe, wenn ein oder zwei von euch sich zurückverwandeln würden«, sagte ich zu ihnen. »Ich muss sie mit meinem Auto ins Krankenhaus fahren, und sie braucht Decken aus dem Haus.«

Einer der Werwölfe, ein silbergrauer, legte sich auf die Seite - ein Mann also, okay -, und wieder vernahm ich dies zähe, klebrige Geräusch. Dunst umhüllte die sich windende Gestalt, und als er sich wieder aufgelöst hatte, lag Colonel Flood zusammengekauert an der Stelle des Werwolfs. Er war natürlich nackt, aber ich beschloss, diesmal meine natürliche Scham zu überwinden. Ein oder zwei Minuten lang musste er noch still daliegen, und es bedeutete offensichtlich eine große Anstrengung für ihn, sich aufzusetzen.

Er kroch hinüber zu dem jungen Mädchen. »Maria-Star«, sagte er mit heiserer Stimme. Er beugte sich über sie und beschnupperte sie, was ziemlich verrückt wirkte, weil er ja schon wieder menschliche Gestalt angenommen hatte. Er stöhnte auf.

Dann wandte er seinen Kopf mir zu und sah mich an. »Wo?«, fragte er, und ich verstand, dass er die Decken meinte.

»Im Haus, erster Stock. Gleich bei der Treppe ist ein Schlafzimmer. Dort steht am Fuß des Betts eine Truhe mit Decken. Bringen Sie zwei davon mit.«

Schwankend erhob er sich, anscheinend war er wegen der schnellen Verwandlung noch nicht ganz orientiert. Dann eilte er mit großen Schritten aufs Haus zu.

Das junge Mädchen - Maria-Star - folgte ihm mit ihren Blicken.

»Kannst du sprechen?«, fragte ich.

»Ja«, antwortete sie kaum vernehmbar.

»Wo tut es am meisten weh?«

»Meine Hüften und meine Beine sind gebrochen, glaube ich«, sagte sie. »Das Auto hat mich erwischt.«

»Bist du in die Luft geflogen?«

»Ja.«

»Hat es dich überrollt?«

Sie schauderte. »Nein, der Aufprall hat mich verletzt.«

»Wie lautet dein voller Name? Maria-Star was?« Das musste ich fürs Krankenhaus wissen. Wer weiß, ob sie bis dahin noch bei Bewusstsein war.

»Cooper«, flüsterte sie.

Und dann hörte ich endlich ein Auto Bills Auffahrt heraufkommen.

Der Colonel, jetzt schon viel sicherer auf den Beinen, kam aus dem Haus gerannt, die Decken in Händen. Sofort bildeten alle Werwölfe und der eine Mann einen Kreis um ihr verwundetes Rudelmitglied und mich. Das Auto bedeutete für sie offensichtlich Gefahr, bis das Gegenteil erwiesen war. Ich bewunderte den Colonel. Es brauchte schon einen ganzen Mann, um einem anrückenden Feind splitternackt ins Auge zu sehen.

Aber es drohte keine neue Gefahr, es war nur mein altes Auto mit Eric darin. Mit beträchtlichem Schwung und quietschenden Bremsen sauste er bis zu Maria-Star und mir heran. Die Werwölfe wanderten ruhelos auf und ab, ihre gelben Augen fixierten die Fahrertür. Calvin Norris' Augen hatten ganz anders ausgesehen, flüchtig fragte ich mich, warum.

»Das ist mein Auto, alles okay«, sagte ich, als einer der Werwölfe zu knurren begann. Einige Augenpaare wandten sich mir zu und fixierten nun mich nachdenklich. Wirkte ich etwa plötzlich verdächtig oder schmackhaft?

Als ich Maria-Star in die Decken eingehüllt hatte, fragte ich mich, welcher der Werwölfe wohl Alcide sein mochte. Er war vermutlich der größte, dunkelste, der sich gerade in diesem Moment umdrehte und mir in die Augen sah. Ja, das war Alcide. Das war der Wolf, den ich vor ein paar Wochen im Vampir-Club gesehen hatte. An jenem Abend, an dem ich mit Alcide verabredet war und der so katastrophal geendet hatte - für mich und auch für ein paar andere Leute.

Ich versuchte ihn anzulächeln, doch mein Gesicht war ganz steif vor Kälte und Schrecken.

Eric sprang aus dem Auto, ließ aber den Motor laufen. Er öffnete eine der Hintertüren. »Ich lege sie rein«, rief er, und die Werwölfe begannen zu bellen. Sie wollten nicht, dass ihre Rudelschwester von einem Vampir berührt wurde; sie wollten Eric überhaupt nicht in der Nähe von Maria-Star haben.

»Ich lege sie hinein«, sagte Colonel Flood. Eric sah sich den schmalen Körper des älteren Mannes an und hob zweifelnd eine Augenbraue, war aber klug genug, beiseite zu treten. Ich hatte Maria-Star, so gut ich konnte, in Decken gewickelt, ohne ihr dabei wehzutun. Doch was jetzt kam, das wusste der Colonel, könnte sie sogar noch schwerer verletzen. Er zögerte.

»Vielleicht sollten wir besser einen Krankenwagen rufen?«, murmelte er.

»Und wie wollen wir das erklären?«, fragte ich. »Ein Rudel Wölfe und ein nackter Mann, und sie liegt hier verletzt auf einem Privatgrundstück, dessen Besitzer verreist ist. Das können wir niemandem erklären!«

»Stimmt.« Er nickte und schickte sich ins Unausweichliche. Ohne sichtliche Anstrengung hob er das Bündel, das von dem Mädchen noch geblieben war, hoch und trug es zum Auto. Eric lief an die andere Seite, öffnete die Tür und griff von dort nach ihr, um sie weiter auf die Rückbank zu ziehen. Der Colonel erlaubte das. Einmal schrie Maria-Star auf. Ich kletterte hinters Lenkrad, so schnell ich konnte. Eric setzte sich auf den Beifahrersitz.

»Du kannst nicht mitkommen«, sagte ich.

»Warum denn nicht?« Er klang erstaunt und beleidigt.

»Ich muss gleich doppelt so viele Erklärungen abgeben, wenn ich einen Vampir dabei habe!« Die meisten Leute brauchten ziemlich lange, bis sie begriffen, dass Eric tot war. Aber irgendwann bekamen sie es schließlich doch mit. Eric blieb dickköpfig. »Und jeder kennt dein Gesicht von diesen verdammten Plakaten«, sagte ich und versuchte, vernünftig, aber eindringlich zu klingen. »Hier leben wirklich sehr nette Leute, aber im weiten Umkreis gibt es keinen, der so viel Geld nicht gebrauchen könnte.«

Er stieg aus, nicht gerade glücklich, und ich rief ihm zu: »Mach das Licht wieder aus und schließ ab, ja?«

»Kommen Sie in die Bar, wenn Sie wissen, wie es um Maria-Star steht!«, rief der Colonel mir hinterher. »Wir müssen unsere Autos und unsere Kleider vom Friedhof holen.«

Okay, das erklärte immerhin schon mal meine merkwürdige Entdeckung auf dem Weg hierher.

Als ich langsam die Auffahrt entlangfuhr, sahen die Wölfe mir nach, Alcide stand etwas abseits, und sein schwarz behaarter Kopf folgte meinem Weg. Welche wölfischen Gedanken mochte er darin wohl hegen, fragte ich mich.

Das nächste Krankenhaus lag nicht in Bon Temps, das viel zu klein war (wir können von Glück sagen, dass wir einen Wal-Mart haben), sondern im nahe gelegenen Clarice, dem Sitz der Kreisverwaltung. Glücklicherweise stand es am Rande der Stadt, an der Bon Temps zugewandten Seite. Die Fahrt ins Krankenhaus schien Jahre zu dauern; in Wirklichkeit brauchte ich nur zwanzig Minuten. Während der ersten zehn Minuten stöhnte meine Passagierin, dann war sie so still, dass es schon unheimlich wurde. Ich sprach mit ihr, bat sie, etwas zu sagen, fragte sie, wie alt sie war, und schaltete das Radio ein, weil ich auf eine Reaktion von Maria-Star hoffte.

Da ich keine Zeit verlieren wollte, hielt ich nicht an, um nachzusehen, was los war. Ich hätte sowieso nicht gewusst, was ich tun sollte. Also raste ich lieber in einem Höllentempo die Landstraße entlang. Als ich endlich die Notaufnahme erreicht und nach den beiden Krankenschwestern gerufen hatte, die rauchend draußen vor der Tür standen, hielt ich das arme Mädchen für tot.

Sie war nicht tot, wenn ich mir die Aktivitäten so ansah, die in den nächsten ein, zwei Minuten um sie herum losbrachen.

Der Landkreis besitzt natürlich nur ein kleines Krankenhaus, das längst nicht so gut ausgestattet ist wie ein Krankenhaus in einer Großstadt. Wir schätzten uns schon glücklich, überhaupt eins in der Nähe zu haben. Aber an diesem Abend retteten sie dort einem Werwolf das Leben.

Die Ärztin, eine dünne Frau mit graugesprenkeltem Haar und einer großen schwarzgeränderten Brille, stellte mir ein paar gezielte Fragen. Ich konnte keine davon beantworten, obwohl ich mir auf der Fahrt ins Krankenhaus schon eine Geschichte zurechtgelegt hatte. Als die Ärztin merkte, dass ich völlig ahnungslos war, gab sie mir zu verstehen, dass ich gefälligst nicht im Weg herumstehen und ihr Team arbeiten lassen solle. Also setzte ich mich in die Eingangshalle und überarbeitete meine Geschichte noch mal ein bisschen.

Hier konnte ich mich in keiner Weise nützlich machen, und das grelle Neonlicht und der glänzende Linoleumboden verbreiteten eine unwirtliche und unfreundliche Atmosphäre. Ich versuchte, in einer Zeitschrift zu lesen, warf sie nach ein paar Minuten aber wieder auf den Tisch. Zum siebten oder achten Mal überlegte ich mir, ob ich nicht einfach abhauen sollte. Aber hinter dem Aufnahmeschalter saß eine Frau, die mich fest im Auge behielt. Ein paar Minuten später beschloss ich, mir in der Damentoilette endlich das Blut von den Händen zu waschen. Und weil ich schon dabei war, wischte ich mit einem feuchten Papiertuch auch meinen Mantel ab, was aber größtenteils vergebliche Liebesmüh' war.

Als ich von der Damentoilette zurückkam, warteten bereits zwei Polizisten auf mich. Beides Männer und beide sehr groß. Ihre wattierten Jacken raschelten und das Leder ihrer Gürtel und ihrer Ausrüstung knarrte. Wie die beiden sich je an jemanden anschleichen wollten, war mir ein Rätsel.

Der größere Mann war auch der ältere. Sein stahlgraues Haar war sehr kurz geschnitten und sein faltiges Gesicht war durchzogen von tiefen Furchen. Der Bauch hing ihm über den Gürtel. Sein Partner war ein jüngerer Mann, vielleicht dreißig, mit hellbraunem Haar, hellbraunen Augen und hellbrauner Haut - ein monochromer Typ. Mit all meinen Sinnen verschaffte ich mir schnell, aber umfassend einen Eindruck von ihnen.

Jetzt wusste ich also schon mal, dass die beiden versuchen wollten, mir die Schuld für die Verletzungen des Mädchens nachzuweisen; oder dass sie zumindest davon ausgingen, ich wüsste mehr, als ich zu sagen bereit war.

Womit sie natürlich teilweise Recht hatten.

»Miss Stackhouse? Haben Sie die junge Frau hierher gebracht, die von Dr. Skinner behandelt wird?«, fragte der jüngere Mann freundlich.

»Ja, Maria-Star«, antwortete ich. »Cooper.«

»Erzählen Sie uns, wie es dazu kam«, sagte der ältere Polizist.

Das war ganz eindeutig ein Befehl, obwohl sein Ton sehr moderat klang. Keiner der beiden Männer kannte mich oder hatte von mir gehört. Prima.

Ich holte tief Luft und stürzte mich in die Tiefen der Verlogenheit. »Ich war auf dem Weg von der Arbeit nach Hause«, begann ich. »Ich arbeite in Merlotte's Bar - Sie wissen, wo das ist?«

Beide nickten. Natürlich, die Polizei kannte jede Bar in ihrem Bezirk.

»Ich sah jemanden am Straßenrand liegen, im Schotter des Seitenstreifens«, erzählte ich, mich vorsichtig vortastend, damit ich nicht etwas sagte, das ich nicht mehr zurücknehmen konnte. »Also hielt ich an. Sonst war niemand zu sehen. Als ich merkte, dass sie noch lebte, wusste ich, ich muss ihr helfen. Hat mich ziemlich viel Zeit gekostet, sie allein ins Auto zu hieven.« Ich versuchte, plausible Erklärungen zu liefern für den Zeitraum, der seit meiner Abfahrt vom Merlotte's verstrichen war, und für den Kies von Bills Auffahrt, den sie bestimmt in ihrer Haut finden würden. Es war schlecht abzuschätzen, wie vorsichtig ich vorgehen musste, damit sie mir die Geschichte auch wirklich abnahmen. Aber lieber zu viel Vorsicht als später das Nachsehen haben.

»Gab es irgendwelche Bremsspuren auf der Straße?« Der hellbraune Polizist konnte es nicht aushalten, keine Fragen zu stellen.

»Nein, keine. Vielleicht waren da welche. Ich war nur - als ich sie sah, konnte ich nur noch an sie denken.«

»Und?«, forderte mich der ältere Mann auf, weiterzuerzählen.

»Ich konnte erkennen, dass sie ziemlich schwer verletzt war. Also habe ich sie auf dem schnellsten Weg hierher gefahren.« Ich zuckte die Achseln. Damit war meine Geschichte beendet.

»Sie haben nicht daran gedacht, einen Krankenwagen zu rufen?«

»Ich habe kein Handy.«

»Eine Frau, die so spät nachts allein von der Arbeit nach Hause fährt, sollte unbedingt ein Handy dabeihaben, Ma'am.«

Ich machte den Mund auf und wollte ihm sagen, dass ich sehr gern eins hätte, wenn er die Rechnung dafür zahlen würde, hielt mich dann aber zurück. Ja, es wäre praktisch, ein Handy zu besitzen, aber ich konnte mir kaum meinen normalen Festnetzanschluss leisten. Mein einziger Luxus war Kabelfernsehen, und das rechtfertigte ich vor mir selbst damit, dass es schließlich mein einziges Freizeitvergnügen war. »Ich weiß«, sagte ich knapp.

»Wie lautet Ihr vollständiger Name?« Wieder der jüngere Mann. Ich sah auf und blickte ihm direkt in die Augen.

»Sookie Stackhouse«, sagte ich. Er dachte gerade, dass ich anscheinend ein bisschen schüchtern sei, aber ganz süß.

»Sind Sie die Schwester des Mannes, der vermisst wird?« Der grauhaarige Polizist beugte sich herab und sah mir ins Gesicht.

»Ja, Sir.« Ich sah wieder auf meine Schuhspitzen.

»Sie haben da aber eine ganz schöne Pechsträhne, Miss Stackhouse.«

»Das können Sie laut sagen«, erwiderte ich aufrichtig und mit einem Zittern in der Stimme.

»Haben Sie diese Frau schon mal gesehen, diese Frau, die Sie hierher gebracht haben? Ich meine, vor heute Nacht?« Der ältere Polizist schrieb etwas in ein kleines Notizheft, das er aus seiner Brusttasche gezogen hatte. Er hieß Curlew, wie auf seinem Namensschild zu lesen war.

Ich schüttelte den Kopf.

»Glauben Sie, Ihr Bruder könnte sie gekannt haben?«

Erschrocken blickte ich auf. Wieder sah ich dem hellbraunen Mann in die Augen. Er hieß Stans. »Woher zum Kuckuck soll ich das wissen?« Aber schon im nächsten Augenblick war mir klar, dass er bloß noch mal von mir angesehen werden wollte. Er hatte keine Ahnung, was er von mir halten sollte. Der monochrome Stans fand mich einerseits hübsch und hielt mich für so eine Art guten Samariter. Andererseits hatte ich einen Job, den brave gebildete Mädchen nicht so häufig ausübten, und mein Bruder besaß einen Ruf als Raufbold, auch wenn viele der Streifenpolizisten ihn mochten.

»Wie geht es ihr?«, fragte ich.

Sie sahen beide zur Tür hinüber, hinter der der Kampf um das Leben der jungen Frau immer noch andauerte.

»Sie lebt«, antwortete Stans.

»Die Arme«, sagte ich. Tränen rannen mir über die Wangen, und ich wühlte in meinen Taschen nach einem Taschentuch.

»Hat sie irgendwas zu Ihnen gesagt, Miss Stackhouse?«

Darüber musste ich nachdenken. »Ja«, erwiderte ich. »Hat sie.« Wieder so ein Moment, in dem die Wahrheit das Sicherste war.

Die Gesichter der beiden hellten sich auf bei dieser Neuigkeit.

»Sie hat mir ihren Namen gesagt. Und sie sagte, dass ihre Beine am meisten schmerzen, als ich sie danach fragte«, erzählte ich. »Und sie sagte, dass das Auto sie erfasst hat, aber nicht über sie drübergefahren ist.«

Die beiden Männer sahen sich an.

»Hat sie das Auto beschrieben?«, fragte Stans.

Es war eine große Versuchung, das Auto der Hexen zu beschreiben. Aber gleich darauf fiel mir ein, dass alle Spuren, die man daran finden würde, aus Wolfsfell und Wolfsblut bestehen würden.

»Nein, leider nicht«, erwiderte ich und versuchte den Anschein zu erwecken, als durchstöbere ich meine Erinnerungen. »Danach hat sie eigentlich nicht mehr viel gesprochen, nur noch gestöhnt. Es war schrecklich.« Und die Bezüge der Rückbank waren wahrscheinlich auch ruiniert. Wie konnte ich nur so etwas Selbstsüchtiges denken, durchfuhr es mich sofort.

»Und Sie haben auch keine anderen Autos, Lastwagen oder sonstige Fahrzeuge gesehen, auf Ihrem Weg nach Hause von der Bar oder vielleicht auf Ihrer Fahrt zurück in die Stadt?«

Diese Frage war etwas anders gelagert. »Nicht auf dem Weg nach Hause«, sagte ich zögernd. »Aber wahrscheinlich habe ich ein paar Autos gesehen, als ich wieder näher nach Bon Temps kam, und auf dem Weg durch die Stadt. Und natürlich einige mehr zwischen Bon Temps und Clarice. Ich kann mich allerdings an kein bestimmtes Auto erinnern.«

»Können Sie uns zu der Stelle führen, wo Sie sie gefunden haben? An die genaue Stelle?«

»Das bezweifle ich. Da war nichts, was einem besonders ins Auge stach, nur sie«, sagte ich. Von Minute zu Minute redete ich mehr Unsinn. »Kein großer Baum oder eine Abzweigung oder eine Straßenmarkierung. Morgen vielleicht? Wenn es hell ist?«

Stans klopfte mir auf die Schulter. »Ich verstehe schon, dass Sie durcheinander sind, Miss«, meinte er tröstend. »Sie haben für diese Frau alles getan, was Sie tun konnten. Jetzt überlassen wir alles Weitere den Ärzten und dem lieben Gott.«

Ich nickte nachdrücklich. Der ältere Curlew blickte mich immer noch etwas skeptisch an, bedankte sich aber der Form halber bei mir, und dann verließen die beiden mit großen Schritten das Krankenhaus und verschwanden in der Dunkelheit. Ich sah aus dem Fenster zum Parkplatz hinüber. Nach ein paar Sekunden hatten sie mein Auto erreicht, leuchteten mit ihren Taschenlampen durch die Fenster und überprüften seinen Innenraum. Mein Auto halte ich immer picobello sauber, da würden sie nichts weiter als Blutflecken auf der Rückbank entdecken. Ich bemerkte, dass sie sich auch den Kühler und die vordere Stoßstange ansahen. Daraus konnte ich ihnen keinen Vorwurf machen.

Sie überprüften mein Auto wieder und wieder, und schließlich stellten sie sich unter eine der großen Laternen und machten sich Notizen.

Nur kurze Zeit später kam die Ärztin heraus und suchte nach mir. Sie nahm ihren Mundschutz ab und rieb sich mit ihrer langen dünnen Hand den Nacken. »Miss Cooper geht es besser. Ihr Zustand ist stabil«, sagte sie.

Ich nickte, und dann schloss ich einen Augenblick die Augen, einfach weil ich so erleichtert war. »Danke«, sagte ich krächzend.

»Wir werden sie ins Schumpert in Shreveport verlegen. Der Hubschrauber müsste jeden Moment hier sein.«

War das nun eine gute Nachricht oder eine schlechte? Das konnte ich nicht beurteilen. Aber egal, welcher Meinung ich war, diese Werwölfin musste im besten Krankenhaus versorgt werden, das zu erreichen war. Allerdings musste sie ihnen irgendetwas erzählen, wenn sie wieder bei Bewusstsein war. Wie konnte ich sichergehen, dass ihre Geschichte mit meiner übereinstimmte?

»Ist sie bei Bewusstsein?«, fragte ich.

»Gerade so«, sagte die Ärztin beinahe wütend, als wären solche Verletzungen eine persönliche Beleidigung für sie. »Sie können kurz mit ihr sprechen, aber ich kann nicht garantieren, dass sie sich an etwas erinnert oder etwas versteht. Ich muss mit den Polizisten reden.« Die beiden betraten eben wieder das Krankenhaus, wie ich von meinem Platz am Fenster aus erkennen konnte.

»Danke«, sagte ich und folgte ihrer Handbewegung nach links. Ich stieß die Tür zu dem grell erleuchteten Raum auf, in dem sie das junge Mädchen behandelt hatten.

Es herrschte ein einziges Durcheinander. Ein paar Krankenschwestern plauderten über dies und das, während sie nicht benötigtes Verbandsmaterial und Schläuche wegräumten. In einer Ecke stand ein Mann mit Eimer und Wischmopp und wartete. Er würde den Raum sauber machen, wenn das Mädchen zum Hubschrauber gebracht worden war. Ich ging zu dem schmalen Bett hinüber und ergriff ihre Hand.

Dann beugte ich mich sehr weit zu ihr herunter.

»Maria-Star, erkennst du meine Stimme?«, fragte ich leise. Ihr Gesicht war angeschwollen von dem Sturz auf den Erdboden, und es war über und über bedeckt mit Schürfwunden und Kratzern. Dies waren die geringsten ihrer Verletzungen, aber sie wirkten sehr schmerzhaft auf mich.

»Ja«, hauchte sie.

»Ich bin die, die dich am Straßenrand gefunden hat«, sagte ich. »Auf dem Weg nach Hause, südlich von Bon Temps. Du hast an der Landstraße gelegen.«

»Verstehe«, murmelte sie.

»Vermutlich«, fuhr ich sorgfältig fort, »hat dich jemand gezwungen, aus seinem Auto auszusteigen, und dann hat dich ein anderes Auto erfasst. Aber du weißt ja, wie das mit so einem Trauma ist. Manchmal erinnern sich die Leute an gar nichts.« Eine der Krankenschwestern drehte sich mit neugieriger Miene zu mir um. Den letzten Teil meines Satzes hatte sie verstanden. »Mach dir nichts draus, wenn du dich nicht erinnern kannst.«

»Ich versuch's«, sagte sie vieldeutig, immer noch mit dieser gedämpften Flüsterstimme, die von sehr weit weg zu kommen schien.

Mehr konnte ich hier nicht tun. Also verabschiedete ich mich flüsternd, bedankte mich bei den Krankenschwestern und ging hinaus zu meinem Auto. Dank der Decken (die ich Bill wohl besser ersetzen sollte) war meine Rückbank gar nicht so sehr beschmutzt.

Na also, wenigstens etwas, über das ich mich freuen konnte.

Ich fragte mich, wo die Decken geblieben waren. Hatte die Polizei sie mitgenommen? Würde das Krankenhaus mich deswegen anrufen? Oder waren sie einfach im Müll gelandet? Ich zuckte die Achseln. Es war völlig sinnlos, mir jetzt noch über den Verbleib dieser beiden Stoffstücke Sorgen zu machen. Meine Liste quoll auch so schon über vor lauter Sorgen. Beispielsweise gefiel es mir überhaupt nicht, dass die Werwölfe sich im Merlotte's treffen wollten. Das verstrickte Sam viel zu sehr in ihre Angelegenheiten. Er war schließlich nur ein Gestaltwandler, und Gestaltwandler waren nur sehr lose mit der Welt der übernatürlichen Wesen verbunden. Sie lebten eher nach der Devise »Jeder Gestaltwandler kümmert sich um sich selbst«, wogegen die Werwölfe stets gut organisiert waren. Und jetzt benutzten sie das Merlotte's als Treffpunkt, nach der Sperrstunde.

Und Eric gab es ja auch noch. O Gott. Eric wartete sicher schon zu Hause.

Ich ertappte mich bei der Frage, wie spät es wohl in Peru sein mochte. Bill amüsierte sich sicher sehr viel besser als ich. Seit dem Silvesterabend war ich total erledigt, noch nie hatte ich mich derart erschöpft gefühlt.

Ich war schon links abgebogen, auf die Straße, die schließlich am Merlotte's vorbeiführte. Im Scheinwerferlicht blitzten Bäume und Büsche auf. Wenigstens rannten keine Vampire mehr am Straßenrand entlang...

»Wach auf«, sagte die Frau, die neben mir auf dem Beifahrersitz saß.

»Was?« Ich riss die Augen auf. Das Auto schlingerte heftig.

»Du bist eingeschlafen.«

Zu diesem Zeitpunkt hätte es mich auch nicht mehr überrascht, wenn ein gestrandeter Wal quer auf der Straße gelegen hätte.

»Wer bist du?«, fragte ich, als ich meine Stimme wieder einigermaßen unter Kontrolle zu haben meinte.

»Claudine.«

Im fahlen Schein der Armaturenbeleuchtung konnte ich sie kaum erkennen. Tatsächlich, das war die große und wunderschöne Frau, die am Silvesterabend im Merlotte's und gestern Morgen mit Tara unterwegs gewesen war. »Wie kommst du in mein Auto? Und warum bist du hier?«

»Weil ihr hier bei euch in der Gegend eine ungewöhnlich hohe Anzahl übernatürlicher Aktivitäten hattet in den letzten ein, zwei Wochen. Ich bin die Vermittlerin.«

»Vermittlerin? Zwischen wem vermittelst du?«

»Zwischen den zwei Welten. Oder, um genauer zu sein, zwischen den drei Welten.«

Manchmal hält das Leben mehr für dich bereit, als du verstehen kannst. Dann nimm es einfach hin.

»Bist du so was wie ein Engel? Hast du mich deshalb aufgeweckt, als ich am Steuer eingeschlafen bin?«

»Nein, so weit habe ich es noch nicht gebracht. Du bist jetzt zu müde, um das zu begreifen. Ignorier die Mythologie und nimm mich einfach hin, wie ich bin.«

Ich fühlte mich sehr merkwürdig.

»Sieh mal.« Claudine zeigte mit dem Finger nach draußen. »Der Mann da winkt dir zu.«

Tatsächlich, auf dem Parkplatz von Merlotte's Bar stand ein wild winkender Vampir. Es war Chow.

»Na prima«, sagte ich mürrisch. »Es stört dich hoffentlich nicht, wenn ich hier anhalte, Claudine. Ich muss da kurz rein.«

»Aber nein, gar nicht.«

Chow dirigierte mich an die Rückseite der Bar, und ich staunte nicht schlecht, als ich den Parkplatz für Angestellte vollkommen zugeparkt mit Autos vorfand. Von der Straße aus war das nicht zu sehen gewesen.

»Oh, toll!«, rief Claudine. »Eine Party!« Sie sprang begeistert aus dem Auto. Ich hatte immerhin die Genugtuung, Chow völlig benommen zu sehen beim Anblick von Claudine. Es ist schwer, einen Vampir wirklich in Erstaunen zu versetzen.

»Gehen wir rein«, sagte Claudine fröhlich und nahm mich bei der Hand.