Kapitel 10

Der Teich hinter Jasons Haus war bereits abgesucht worden, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Alcee Beck hämmerte um etwa zehn Uhr gegen meine Tür; und weil es sich exakt wie das Klopfen eines Gesetzeshüters anhörte, zog ich erst mal Jeans und Sweatshirt über, ehe ich öffnete.

»Im Teich ist er nicht«, sagte Beck ohne lange Vorrede.

Ich sank gegen den Türpfosten. »Oh, Gott sei Dank.« Und für einen Moment schloss ich die Augen in einem stummen Dankgebet. »Kommen Sie doch herein.«

Alcee Beck trat argwöhnisch wie ein Vampir über die Türschwelle und sah sich erst mal schweigend um.

»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte ich höflich, als er auf meinem alten Sofa saß.

»Nein, danke«, entgegnete er steif. Ihm war in meiner Gegenwart genauso unbehaglich zumute wie mir in seiner.

Am Türknauf zu meinem Schlafzimmer entdeckte ich Erics Hemd, das von Detective Becks Platz aus wahrscheinlich nicht zu sehen war. Viele Frauen tragen Männerhemden, sagte ich mir, werd jetzt bloß nicht paranoid. Zwar wollte ich Alcee Becks Gedanken nicht zuhören, erfuhr aber trotzdem, dass er sich allein im Haus einer weißen Frau unwohl fühlte und hoffte, Andy Bellefleur würde bald auftauchen.

»Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment«, sagte ich, ehe ich der Versuchung nachgeben und fragen konnte, warum Andy hierher kommen wollte - das hätte Alcee zutiefst schockiert. Ich schnappte mir das Hemd, als ich in mein Schlafzimmer ging, faltete es zusammen und legte es in eine Schublade, bevor ich mir die Zähne putzte und das Gesicht wusch. Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, war Andy bereits da. Jasons Boss, Catfish Hennessey, war mit ihm gekommen. Ich spürte, wie alles Blut aus meinem Kopf wich, und sank schwer auf die Polstertruhe neben dem Sofa nieder.

»Was?«, fragte ich. Ich brachte kein anderes Wort heraus.

»Das Blut auf dem Steg ist wahrscheinlich das Blut einer Katze, und wir haben darin einen Abdruck gefunden, neben dem von Jasons Stiefel«, sagte Andy. »Diese Information haben wir bislang zurückgehalten, weil es sonst sofort in den Wäldern von Schwachköpfen nur so wimmelt.« Ich schwankte wie ein Baum im Wind. Hätte ich nicht die Fähigkeit des Gedankenlesens besessen, wäre ich in lautes Lachen ausgebrochen. Er hatte nicht an eine getigerte Hauskatze gedacht, als er von dem Blut sprach. Er hatte an einen Panther gedacht.

Als »Panther« bezeichnete man in unserer Gegend Pumas. Soweit ich wusste, waren sie höchst selten geworden, ihre Zahl inzwischen so verschwindend gering, dass sie kurz vor dem Aussterben standen. In den letzten fünfzig Jahren war kein handfester Beweis erbracht worden, dass in Louisiana wirklich wild lebende Pumas existierten.

Aber es kursierten natürlich Geschichten. Unsere Wälder und Bäche beherbergten eine Unzahl Alligatoren, Biberratten, Beutelratten, Waschbären und gelegentlich sogar einen Bären oder eine Wildkatze. Und auch Kojoten. Es gab jedoch weder Bilder, Filmaufnahmen noch sonstige Belege für die Existenz von Panthern... bis jetzt.

In Andy Bellefleurs Augen brannte Begierde, aber nicht nach mir. Jeder begeisterte Jäger oder sogar jeder stinknormale Typ, der in der Natur fotografierte, hätte fast alles gegeben, um einmal einen echten wild lebenden Panther zu sehen. Denn dass diese großen Raubtiere extrem scheu waren und den Menschen aus dem Weg gingen, war für die Menschen noch kein Grund, ihnen umgekehrt den gleichen Gefallen zu tun.

»Was halten Sie davon?«, fragte ich, obwohl ich verdammt gut wusste, was sie davon hielten. Aber um sie nicht aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen, behauptete ich lieber das Gegenteil. So fühlten sie sich besser und ihnen rutschte vielleicht eher was raus. Catfish dachte gerade, dass Jason höchstwahrscheinlich sowieso tot war. Die beiden Gesetzeshüter behielten mich wachsam im Auge. Catfish, der mich besser kannte, saß auf der Kante von Großmutters altem Lehnsessel und hatte seine großen roten Hände so fest ineinander verschränkt, dass die Knöchel weiß hervortraten.

»Vielleicht hat Jason den Panther entdeckt, als er an dem Abend nach Hause kam«, sagte Andy vorsichtig. »Und da hat er dann schnell sein Gewehr geholt und die Spur aufgenommen.«

»Panther sind vom Aussterben bedroht, Andy«, sagte ich. »Glaubst du, Jason hätte nicht gewusst, dass sie geschützt sind?« Natürlich, sie alle dachten, Jason wäre so impulsiv und hirnlos, dass es ihm einfach egal war.

»Sind Sie sicher, dass das ganz oben auf seiner Liste stand?«, fragte Alcee Beck in einer Anwandlung von Behutsamkeit.

»Sie glauben also, Jason hat den Panther erschossen«, entgegnete ich und hatte etwas Mühe, die Worte auszusprechen.

»Wäre möglich.«

»Und was dann?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

Alle drei Männer tauschten einen Blick. »Vielleicht ist Jason dem Panther in den Wald gefolgt«, sagte Andy. »Vielleicht war der Panther gar nicht so schwer verletzt und hat ihn erwischt.«

»Sie denken, mein Bruder würde einem gefährlichen verletzten Tier in den Wald folgen - nachts, ganz allein?« Genau das dachten sie. Ich konnte es laut und deutlich vernehmen. Sie glaubten, so ein Verhalten wäre typisch Jason Stackhouse. Sie vergaßen dabei allerdings, dass für Jason (rücksichtslos und wild, wie mein Bruder war) der wichtigste Mensch im ganzen Universum Jason Stackhouse war. Und diesen Menschen hätte er niemals einer solch offensichtlichen Gefahr ausgesetzt.

Andy Bellefleur hegte einige Bedenken gegen diese Theorie, Alcee Beck jedoch nicht. Er glaubte, ich hätte Jasons letzte Stunden gerade eben korrekt geschildert. Die beiden Gesetzeshüter wussten aber nicht - und ich konnte es ihnen auch nicht erzählen -, dass Jason höchstwahrscheinlich einen Gestaltwandler gesehen hatte, wenn denn an jenem Abend überhaupt ein Panther bei seinem Haus gewesen war. Hatte Claudine nicht erzählt, die Hexen hätten einige Gestaltwandler, die sich in große Tiere verwandelten, um sich geschart? Ein Panther wäre doch ein sehr nützliches Tier für jemanden, der eine feindliche Übernahme erwägt.

»Jay Stans aus Clarice hat mich heute Morgen angerufen«, sagte Andy Bellefleur. Er wandte sein rundes Gesicht mir zu, und seine braunen Augen fixierten mich. »Er hat mir von diesem Mädchen erzählt, das du gestern Abend auf der Landstraße gefunden hast.«

Ich nickte und wusste nicht, was das jetzt sollte. Die Vermutungen über den Panther beschäftigten mich viel zu sehr, als dass ich ahnte, was nun folgen würde.

»Steht dieses Mädchen in irgendeiner Beziehung zu Jason?«

»Was?« Jetzt war ich perplex. »Wovon redest du?«

»Du hast diese Maria-Star Cooper neben der Landstraße aufgelesen. Die Polizei hat gesucht, aber es finden sich nirgends Anzeichen für einen Unfall.«

Ich zuckte die Achseln. »Ich habe denen doch gesagt, dass ich nicht sicher bin, ob ich die Stelle wiederfinde. Und sie haben mich nicht gebeten, danach zu suchen. Es wundert mich gar nicht, dass sie nichts finden, wenn sie die genaue Stelle nicht kennen. Ich habe ja versucht, sie mir zu merken, aber es war Nacht, und ich hatte ziemliche Angst. Sie kann ja auch bloß da abgelegt worden sein, wo ich sie gefunden habe.« Ich sehe schließlich nicht umsonst Kabelfernsehen.

»Hören Sie, wir denken«, dröhnte Alcee Beck, »dass dieses Mädchen eine von Jasons Verflossenen ist. Hatte er sie vielleicht irgendwo versteckt? Und Sie haben sie jetzt laufen lassen, weil Jason verschwunden ist.«

»Was?« Es war, als spräche er Urdu oder so etwas. Ich konnte mir überhaupt keinen Reim darauf machen.

»Da Jason wegen dieser Morde letztes Jahr in Untersuchungshaft war, haben wir uns gefragt, ob da nicht doch irgendwo Feuer ist bei all dem Rauch.«

»Sie wissen doch, wer diese Morde begangen hat. Der Täter sitzt im Gefängnis, falls mir da nicht irgendwas entgangen ist. Und er hat gestanden.« Catfish sah mir beklommen direkt in die Augen. Fragestellungen solcher Art machten den Boss meines Bruders immer ganz verlegen. Zugegeben, mein Bruder liebte es ein wenig abseitig in Sachen Sex (was keine seiner Freundinnen je gestört zu haben schien). Aber sich vorzustellen, er hätte irgendwo eine Sexsklavin, um die ich mich kümmern musste, wenn er verschwand? Also bitte!

»Er hat gestanden und sitzt immer noch im Gefängnis«, sagte Andy. Da Andy das Geständnis selbst aufgenommen hatte, dürfte darauf Verlass sein. »Aber was, wenn Jason sein Komplize war?«

»Jetzt aber mal halblang hier«, sagte ich. Bei mir war langsam der Siedepunkt überschritten. »Beides auf einmal geht ja wohl schlecht. Wenn mein Bruder nach der Jagd auf einen geheimnisvollen Panther tot draußen im Wald liegt, wie hätte er dann - wie heißt sie? - Maria-Star Cooper irgendwo gefangen halten sollen? Oder heißt das, auch ich bin an den angeblichen Bondage-Aktivitäten meines Bruders beteiligt? Und habe sie deswegen mit dem Auto über den Haufen gefahren? Und dann habe ich sie eingeladen und in die Notaufnahme gebracht?«

Eine ganze Weile lang starrten wir uns alle gegenseitig an. Von den drei Männern gingen Wellen der Anspannung und der Verwirrung aus.

Und dann sprang Catfish vom Sofa hoch wie eine Rakete. »Nein«, brüllte er. »Ihr Kerle habt mich hierher geschleppt, um Sookie die schlechte Nachricht mit dem Panther zu überbringen. Keiner hat was von irgendeiner Cooper gesagt, die vom Auto überfahren wurde! Dies hier ist ein anständiges Mädchen.« Catfish zeigte auf mich. »Und wer was anderes behauptet, kriegt es mit mir zu tun! Jason Stackhouse braucht nur den kleinen Finger zu krümmen, und schon kommen die Frauen angerannt. Der hat's nicht nötig, eine zu entführen und mit verrücktem Zeug zu drangsalieren. Und wenn Sie behaupten, Sookie hat dieses Cooper-Mädchen freigelassen, weil Jason nicht nach Hause kam, und hat versucht, sie zu überfahren - nun, dann sage ich nur noch, gehen Sie verdammt noch mal sofort zur Hölle!«

Gott segne Catfish Hennessey, war alles, was ich noch zu sagen hatte.

Kurz darauf gingen Alcee und Andy, und Catfish und ich führten ein etwas zusammenhangloses Gespräch, in dem er vor allem die beiden Gesetzeshüter fürchterlich verfluchte. Als ihm langsam die Schimpftiraden ausgingen, sah er auf seine Uhr.

»Komm, Sookie. Wir müssen zu Jasons Haus fahren.«

»Warum?« Ich war dazu bereit, aber ziemlich verblüfft.

»Wir haben eine Suchaktion organisiert, und ich weiß, da willst du gern dabei sein.«

Mit offenem Mund starrte ich ihn an. So angestrengt ich auch nachdachte, mir fiel kein einziger Grund ein, diese Suchaktion abzublasen. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie all diese Männer und Frauen sich in ihre dicken Wintersachen warfen und sich durch das jetzt kahle und braune Unterholz kämpften, das die Durchquerung des Waldes so schwierig machte. Es gab keine Möglichkeit, sie aufzuhalten, zumal sie es so gut meinten; eher sprachen alle Gründe dafür, sich ihnen anzuschließen.

Es bestand immerhin die winzige Chance, dass Jason tatsächlich irgendwo da draußen im Wald war. Catfish sagte, er hätte so viele Männer wie möglich zusammengetrommelt, und Kevin Pryor hatte sich zum Koordinator machen lassen, wenn auch nur außer Dienst. Maxine Fortenberry und ihre Kirchenfrauen wollten Kaffee und Krapfen aus der Bäckerei von Bon Temps vorbeibringen. Ich begann zu weinen, das war einfach überwältigend, und Catfish wurde noch röter im Gesicht. Weinende Frauen standen sehr weit oben auf der Liste der Dinge, die ihn beklommen machten.

Um ihn aus dieser Situation zu erlösen, sagte ich, ich müsse mich schnell noch fertig machen. Ich schüttelte schnell mein Bett auf, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und band mein Haar zum Pferdeschwanz. Dann holte ich ein Paar Ohrenschützer hervor, die ich vielleicht einmal im Jahr benutzte, zog meinen alten Mantel an und stopfte meine Gartenarbeitshandschuhe in die Taschen sowie eine Packung Taschentücher, falls ich wieder weinen musste.

Die Suchaktion war das Ereignis des Tages in Bon Temps. In unserer kleinen Stadt halfen die Leute nicht nur gern - inzwischen kursierte natürlich auch das Gerücht über den Fußabdruck des geheimnisvollen wilden Tiers. Soweit ich mitbekam, war das Wort »Panther« bislang nicht in Umlauf, sonst wäre der Menschenauflauf noch viel größer gewesen. Die meisten Männer waren bewaffnet gekommen - na ja, die meisten Männer waren ohnehin immer bewaffnet. Die Jagd gehört in unserer Gegend zum täglichen Leben, fast alle Autoaufkleber stammen von der »National Rifle Association« und die Hirschjagd kommt geheiligten Feiertagen gleich. Es gibt jeweils festgelegte Zeiten für die Hirschjagd mit Pfeil und Bogen, mit Vorderladern oder mit Büchsen. (Vielleicht auch für die Jagd mit dem Speer, würde mich nicht wundern.)

Es waren ungefähr fünfzig Leute bei Jasons Haus versammelt. Eine ganz ordentliche Ansammlung für einen Wochentag in einer so kleinen Stadt.

Sam war auch da, und ich freute mich so sehr darüber, dass ich fast schon wieder in Tränen ausbrach. Er war der beste Boss, den ich je hatte, und ein Freund, der immer für mich da war, wenn ich in Schwierigkeiten steckte. Sein rotgoldenes Haar war mit einer hellorangen Strickmütze bedeckt, und er trug ebenso hellorange Handschuhe. Seine schwere braune Jacke wirkte im Kontrast dazu düster, und wie alle anderen Männer trug er Arbeitsstiefel. Niemand ging jemals in den Wald, ohne die Knöchel zu schützen. Schlangen waren im Winter zwar langsam und phlegmatisch, aber sie waren da, und sie revanchierten sich sofort, wenn jemand auf sie trat.

Die Anwesenheit dieser vielen Menschen ließ Jasons Verschwinden irgendwie noch schlimmer erscheinen. Wenn all diese Leute glaubten, Jason könnte tot oder schwer verletzt draußen im Wald liegen, dann war es vielleicht so. Ich appellierte immer wieder an meine Vernunft, doch meine Angst stieg mehr und mehr. Ein paar Minuten lang setzte bei mir alle bewusste Wahrnehmung aus, und Vorstellungen davon, was Jason alles zugestoßen sein könnte, bevölkerten meine Phantasie zum etwa hundertsten Mal.

Sam stand neben mir, als ich wieder zu mir kam. Er hatte einen Handschuh ausgezogen und mich bei der Hand gefasst. Seine Hand fühlte sich warm und hart an, und ich war froh, dass ich mich an ihm festhalten konnte. Obwohl Sam ein Gestaltwandler war, konnte er mir seine Gedanken öffnen, auch wenn er mich seinerseits nicht zu »hören« vermochte.

Glaubst du wirklich, dass er da draußen ist?, fragte er mich.

Ich schüttelte den Kopf. Unsere Blicke trafen sich und verweilten beieinander.

Glaubst du, dass er noch lebt?

Das war viel schwerer zu beantworten. Schließlich zuckte ich nur die Achseln. Er hielt mich weiter fest an der Hand, und ich war froh darüber.

Arlene und Tack kletterten aus Arlenes Auto und kamen auf uns zu. Arlenes Haar war so leuchtend rot wie immer, aber ein wenig zerzauster als sonst, und der neue Koch war unrasiert. Er hatte also noch keinen Rasierapparat bei Arlene deponiert, schloss ich daraus.

»Hast du Tara gesehen?«, fragte Arlene.

»Nein.«

»Guck mal da.« So verstohlen wie möglich zeigte sie zu ihr hinüber, und ich entdeckte Tara in Jeans und Gummistiefeln, die ihr bis an die Knie reichten. Sie glich ganz und gar nicht der stets sorgfältig gekleideten Besitzerin eines Modegeschäfts, die ich kannte; auch wenn sie einen bezaubernden Webpelzhut in Weiß und Braun trug, über den man sofort mit der Hand streichen wollte. Ihre Jacke passte zum Hut. Wie auch ihre Handschuhe. Doch von der Taille abwärts war Tara gerüstet für den Wald. Jasons Freund Dago starrte Tara mit dem überwältigten Blick des frisch Verknallten an. Holly und Danielle waren auch gekommen, und die Suchaktion bekam eine ganz unerwartet freundschaftliche Note.

Maxine Fortenberry und zwei weitere Frauen aus ihrem Kirchenkreis hatten die Ladeklappe des alten Pick-up von Maxines Ehemann heruntergelassen, und dort standen mehrere Thermoskannen mit Kaffee neben Wegwerfbechern, Plastiklöffeln und Zucker. Sechs Dutzend noch warme Krapfen stapelten sich in von innen beschlagenen länglichen Zellophanhüllen. Ein großer Plastikmülleimer, ausgeschlagen mit einem schwarzen Müllbeutel, stand auch schon bereit. Diese Damen wussten, wie man eine Party für eine Suchaktion schmiss.

Ich konnte gar nicht fassen, dass all dies innerhalb weniger Stunden organisiert worden war. Jetzt musste ich doch Sams Hand loslassen und ein Taschentuch aus der Manteltasche ziehen, um mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Dass Arlene kommen würde, hätte ich noch erwartet, aber die Anwesenheit von Holly und Danielle war einfach verblüffend. Und Taras Teilnahme fand ich sogar noch überraschender, sie war nun wirklich kein Wald-und-Wiesen-Mädel. Kevin Pryor hatte eigentlich nicht viel für Jason übrig, aber da stand er, mit Landkarte, Schreibblock und Stift, und organisierte das Ganze.

Als ich Hollys Blick auffing, lächelte sie mich traurig an, auf diese betrübt verhaltene Art, die ich sonst nur von Beerdigungen kannte.

In dem Moment hämmerte Kevin mit dem Deckel des Plastikmülleimers gegen die Ladeklappe des Pick-up, und als aller Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war, gab er Anweisungen für die Suche. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er so bestimmt auftreten konnte; meistens zogen Kevins dominante Mutter Jeneen oder seine überdimensionierte Kollegin Kenya alle Aufmerksamkeit auf sich. Kenya würde sich nie an der Suche im Wald beteiligen, dachte ich bei mir und entdeckte sie im selben Augenblick. Winterfest und praktisch gekleidet, lehnte sie am Pick-up der Fortenberrys, das dunkle Gesicht absolut ausdruckslos. Ihre ganze Haltung ließ erkennen, dass sie zu Kevins Unterstützung da war - und nur handeln oder sprechen würde, wenn er irgendeinem Angriff ausgesetzt wäre. Kenya wusste, wie man eine bedrohliche Atmosphäre erzeugte; das musste ich ihr zugestehen. Sie würde jederzeit einen Eimer Wasser auf Jason schütten, wenn er in Flammen stand; aber ihre Gefühle für meinen Bruder waren sicher nicht sonderlich positiv. Sie war hier, weil Kevin sich freiwillig zur Verfügung gestellt hatte. Während Kevin die Leute in Teams einteilte, wanderten ihre dunklen Augen nur von ihm weg, um die Gesichter der Leute zu studieren, meins eingeschlossen. Sie nickte mir fast unmerklich zu, und ich nickte zurück.

»Jede Fünfergruppe muss einen Mann mit Gewehr dabeihaben«, rief Kevin. »Und zwar nicht einfach irgendwen. Das muss jemand sein, der da draußen im Wald bereits auf der Jagd gewesen ist.« Die Aufregung erreichte einen Siedepunkt bei dieser Anweisung. Doch danach hörte ich Kevins Instruktionen nicht weiter zu. Ich war noch immer erschöpft vom Tag zuvor, diesem ungewöhnlich vollgepackten Tag. Die ganze Zeit hatte im Hinterkopf die Angst um meinen Bruder an mir genagt und gefressen. Ich hatte wenig geschlafen, stand jetzt übernächtigt hier in der Kälte vor dem Zuhause meiner Kindheit und wartete darauf, an einer völlig sinnlosen Suchaktion teilzunehmen - zumindest hoffte ich, dass sie sinnlos war. Ich war zu benommen, um noch einen klaren Gedanken zu fassen. Ein eisiger Wind fegte über die Lichtung rund um das Haus, und die Tränen auf meinen Wangen wurden unerträglich kalt.

Sam schloss mich in die Arme, obwohl das in unseren dicken Mänteln ziemlich schwierig war. Mir schien, als spürte ich seine Wärme sogar durch all den Stoff hindurch.

»Wir werden ihn da draußen nicht finden, das weißt du doch«, flüsterte er mir zu.

»Bestimmt nicht«, sagte ich, klang aber alles andere als sicher.

»Ich wittere ihn, falls er da draußen sein sollte«, versicherte Sam mir.

Gestaltwandler waren ja so praktisch.

Ich sah zu ihm hinauf. Na ja, so weit hinauf nun auch wieder nicht, denn Sam war kein besonders großer Mann. Im Augenblick zeigte sein Gesicht eine sehr ernste Miene. Ich wusste, dass er fest entschlossen war, meine Ängste zu zerstreuen. In seiner Verwandlung besaß er den scharfen Geruchssinn eines Hundes, doch selbst in seiner menschlichen Gestalt war dieser Sinn immer noch stärker ausgeprägt als bei einem normalen Menschen. Sam würde in der Lage sein, eine nur wenige Tage alte Leiche zu riechen.

»Du gehst also in den Wald?«, fragte ich.

»Selbstverständlich. Ich werde mein Bestes tun. Sollte er dort sein, finde ich es bestimmt heraus.«

Kevin Pryor hatte mir erzählt, dass der Sheriff Spürhunde aus Shreveport angefordert hatte. Laut dem Polizisten, der sie trainierte, waren die Hunde an diesem Tag jedoch schon anderweitig im Einsatz. Ich fragte mich, ob das stimmte oder ob der Polizist nur nicht riskieren wollte, seine Hunde zu einem Panther in den Wald zu schicken. Ehrlich gesagt, konnte ich ihm das nicht verdenken. Und ich hatte jetzt sowieso ein besseres Angebot, direkt vor meiner Nase.

»Sam«, sagte ich, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich wollte ihm danken, doch mir fehlten die Worte. Ich hatte großes Glück, einen Freund wie Sam zu haben, und war mir dessen wohl bewusst.

»Scht, Sookie«, entgegnete er. »Weine nicht. Wir finden heraus, was Jason zugestoßen ist, und wir finden einen Weg, Erics Gedächtnis wiederherzustellen.« Mit dem Daumen wischte er die Tränen von meinen Wangen.

Niemand war nah genug, um zuzuhören, aber ich musste mich rasch umsehen, nur um sicher zu sein.

»Und dann«, fuhr Sam in deutlich grimmigem Tonfall fort, »holen wir ihn aus deinem Haus und bringen ihn zurück nach Shreveport, wohin er gehört.«

Keine Antwort war hier die beste Lösung, beschloss ich.

»Wie lautet dein Wort des Tages?«, fragte er und trat einen Schritt zurück.

Nun musste ich doch lächeln. Sam fragte immer, welches »Wort des Tages« mein Kalender hergab. »Heute Morgen hab' ich nicht nachgesehen. Gestern war's >Tohuwabohu<.«

Er hob die Augenbrauen.

»So eine Art wildes Durcheinander«, sagte ich.

»Sookie, wir finden einen Ausweg aus all dem.«

Als die Leute in Teams eingeteilt waren, entdeckte ich, dass Sam nicht der einzige Supra in Jasons Hof war. Ich staunte nicht schlecht, als ich eine Abordnung aus Hotshot erkannte. Calvin Norris, seine Nichte Crystal und noch ein zweiter Mann, der mir irgendwie bekannt vorkam, standen etwas abseits für sich. Nachdem ich einen Augenblick in meinem Gedächtnis gekramt hatte, fiel es mir wieder ein. Der zweite Mann war der, den ich in einiger Entfernung von Crystals Haus hinter einem Schuppen hatte auftauchen sehen. Ich erkannte ihn an seinem vollen, hellen Haar und der anmutigen Art, wie er sich bewegte. Kevin teilte dem Trio den Reverend Jimmy Fullenwilder als bewaffneten Mann zu. Unter anderen Umständen hätte ich die Kombination der drei Werwölfe mit dem Reverend sehr komisch gefunden.

Da ihnen noch eine fünfte Person fehlte, gesellte ich mich zu ihnen.

Die drei Werwölfe aus Hotshot begrüßten mich mit einem ernsten Kopfnicken. Calvins goldgrüne Augen fixierten mich nachdenklich. »Das hier ist Felton Norris«, sagte er, und ich nickte Felton zu.

Jimmy Fullenwilder, ein grauhaariger Mann um die sechzig, schüttelte uns allen die Hand. »Ich kenne natürlich Miss Sookie, aber bei Ihnen dreien bin ich mir nicht sicher. Ich bin Jimmy Fullenwilder, Pastor der Baptistenkirche Der Liebe Des Herrn«, sagte er und lächelte in die Runde. Calvin nahm diese Information mit einem höflichen Lächeln auf, Crystal grinste spöttisch und Felton Norris (gab es in Hotshot überhaupt keine anderen Nachnamen?) kühlte merklich ab. Felton wirkte eigenartig, selbst für einen Werwolf aus einem Stamm mit viel Inzucht. Seine Augen waren bemerkenswert dunkel und lagen unter sehr geraden dicken braunen Brauen, die in scharfem Kontrast zu seinem hellen Haar standen. Sein Gesicht war auf Höhe der Augenpartie breit und verjüngte sich dann etwas zu abrupt zu einem schmallippigen Mund hin. Obwohl er ein massiger Mann war, bewegte er sich leichtfüßig und lautlos. Auf unserem Weg in den Wald bemerkte ich, dass dies allen dreien aus Hotshot gemeinsam war. Im Vergleich dazu bewegten Jimmy Fullenwilder und ich uns wie trampelnde Elefanten.

Wenigstens hielt der Pastor sein Gewehr, als wüsste er damit umzugehen.

Den Anweisungen folgend stellten wir uns in einer Reihe auf, mit jeweils zwei Metern Abstand zwischen uns. Crystal war an meiner rechten Seite und Calvin an meiner linken. Die anderen Teams taten das Gleiche. Wir begannen unsere Suche in dem Waldstück hinter dem Teich.

»Achten Sie darauf, wer in Ihrem Team ist«, brüllte Kevin. »Nicht, dass da draußen einer zurückbleibt! Und jetzt los.«

Während wir uns in gleichmäßigem Tempo vorwärts bewegten, suchten wir aufmerksam den Boden vor uns ab. Jimmy Fullenwilder ging ein paar Schritte vor uns her, da er bewaffnet war. Es war von Anfang an klar, dass die Hotshot-Leute, der Reverend und ich höchst unterschiedliche Waldläufer waren. Crystal bewegte sich mühelos durch das Unterholz, ohne sich hindurchkämpfen oder es beiseite schieben zu müssen, obwohl ihre Bewegungen zu hören waren. Jimmy Fullenwilder, ein passionierter Jäger, war im Wald zu Hause und sehr erfahren im Umgang mit der freien Natur. Ich hätte wetten mögen, dass er der Umgebung sehr viel mehr Informationen entnahm als ich. Aber er war nicht fähig, sich so zu bewegen wie Calvin und Felton, die beide wie Geister durch den Wald glitten und ähnlich viele Geräusche verursachten.

Einmal, als ich in ein besonders dichtes Dickicht voll dornigen Gestrüpps geriet, spürte ich, wie sich zwei Hände um meine Taille legten und mich einfach darüber hoben, noch ehe ich reagieren konnte. Calvin Norris setzte mich sehr sanft wieder ab und ging sofort zurück auf seine Position. Niemand hatte etwas davon mitbekommen. Und Jimmy Fullenwilder, der als Einziger erschrocken wäre, lief ein Stück vor uns her.

Unser Team fand nichts: nicht einen Fetzen Kleidung oder Haut, nicht einen Stiefelabdruck oder Panthertritt, keine Spur, keinen Geruch, keinen Blutstropfen. Aus einem anderen Team schrie jemand herüber, sie hätten den zerschundenen Kadaver einer Beutelratte gefunden, aber keine eindeutigen Anzeichen dafür, wodurch das Tier umgekommen war.

Das Vorwärtskommen wurde immer mühsamer. Mein Bruder hatte in diesem Teil des Waldes gejagt und dort auch einigen Freunden die Jagd erlaubt, ansonsten aber die Natur auf den acht Hektar Land rund ums Haus wild wuchern lassen. Er hatte weder herabgestürzte Äste weggeräumt noch junge Schösslinge herausgerissen, was uns jetzt erheblich behinderte.

Mein Team war zufällig jenes, das auf den Hochsitz stieß, den er zusammen mit Hoyt vor etwa fünf Jahren gebaut hatte.

Der Hochsitz stand auf einer natürlichen Lichtung. Der Wald darum herum war so dicht, dass wir zeitweise außer Sichtweite der anderen Suchteams waren - was ich im Winter nie für möglich gehalten hätte angesichts all der kahlen Äste. Hin und wieder klang der entfernte Ruf einer menschlichen Stimme durch die Kiefern und Büsche und Äste der Eichen und Amberbäume zu uns herüber, doch der Eindruck völliger Abgeschiedenheit war überwältigend.

Felton Norris rannte die Leiter des Hochsitzes in einer so wenig menschlichen Weise hinauf, dass ich Reverend Fullenwilder mit der Bitte ablenken musste, doch in seiner Kirche für die Rückkehr meines Bruders zu beten. Natürlich erzählte er mir, dass er das längst getan hatte, und ließ mich überdies wissen, wie gern er mich am Sonntag in seiner Kirche sehen würde, wo ich meine Stimme mit den anderen zum Gebet erheben konnte. Obwohl ich wegen meines Jobs viele Kirchgänge versäumte und wenn, dann ohnehin in die Methodistenkirche ging (was Jimmy Fullenwilder sehr wohl wusste), blieb mir nichts anderes übrig, als ja zu sagen. In dem Moment rief Felton von oben herunter, dass der Hochsitz leer sei. »Sei vorsichtig beim Runtersteigen, die Leiter ist nicht allzu stabil«, rief Calvin hinauf. Das war eine Warnung an Felton, so viel bekam ich mit, die Leiter wie ein Mensch herunterzuklettern. Als Felton langsam und unbeholfen hinabstieg, fing ich Calvins Blick auf, er wirkte amüsiert.

Gelangweilt vom Herumstehen am Fuß des Hochsitzes, war Crystal Reverend Fullenwilder, unserem an der Spitze gehenden bewaffneten Mann, vorausgeeilt - wovor Kevin uns eindringlich gewarnt hatte. Gerade als ich dachte, ich sehe sie gar nicht mehr, hörte ich ihren Schrei.

Innerhalb weniger Sekunden waren Calvin und Felton in großen Sätzen über die Lichtung gesprungen und in die Richtung verschwunden, aus der Crystals Stimme kam. Reverend Jimmy und ich konnten nur hinter ihnen herrennen. Ich hoffte, die Aufregung des Augenblicks würde seinen Blick dafür trüben, wie Calvin und Felton sich bewegten. In einiger Entfernung hörten wir einen unbeschreiblichen Lärm, ein lautes Kreischen, Quieken und hektische Bewegungen im Unterholz. Dann ertönte ein heiseres Brüllen und ein weiterer schriller Schrei, nur leicht gedämpft vom kahlen Dickicht des Waldes.

Wir hörten Rufe aus allen Richtungen, als die anderen Suchteams sich meldeten und auf die alarmierenden Geräusche zurannten.

Mein Fuß verhedderte sich im Gestrüpp, und ich schlug Hals über Kopf hin. Obwohl ich gleich wieder auf die Beine kam und weiterrannte, hatte Jimmy Fullenwilder mich überholt. Und als ich zwischen ein paar niedrigen Kiefern, keine höher als ein Briefkastenpfosten, hindurchlief, hörte ich einen Gewehrschuss.

O mein Gott, dachte ich. O mein Gott.

Die kleine Lichtung war voll Blut und Tumult. Ein großes Tier lag wild strampelnd in den abgestorbenen Blättern und sprühte rote Tropfen auf alles in seiner Nähe. Aber es war kein Panther. Zum zweiten Mal in meinem Leben sah ich ein Razorback-Wildschwein, dieses gefährliche Tier, das eine so enorme Größe erreicht.

Bis ich begriff, was ich da eigentlich vor mir hatte, war die Wildsau bereits zusammengebrochen und tot. Sie stank nach Schwein und nach Blut. Ein Krachen und Quieken im Unterholz um uns herum ließ darauf schließen, dass sie nicht allein gewesen war, als Crystal auf sie traf.

Doch nicht alles Blut stammte von der Sau.

Crystal Norris fluchte wild. Sie saß gegen eine alte Eiche gelehnt und hielt mit den Händen ihren aufgeschlitzten linken Oberschenkel umklammert. Ihre Jeans waren nass von ihrem eigenen Blut, und ihr Onkel und ihr - keine Ahnung, welches Verhältnis zwischen Felton und Crystal bestand, aber bestimmt gab's irgendeins - Verwandter beugten sich über sie. Jimmy Fullenwilder stand immer noch mit dem Gewehr im Anschlag da, den Lauf auf das Tier gerichtet, und hatte einen Ausdruck im Gesicht, den ich nur als verstört beschreiben kann.

»Wie geht es ihr?«, fragte ich die beiden Männer, doch nur Calvin sah auf. Seine Augen hatten sich eigenartig verändert, sie waren irgendwie gelber und runder. Er warf einen unmissverständlichen Blick auf den Tierkadaver, einen Blick schieren Verlangens. Um seinen Mund herum war Blut. Auf seinem Handrücken sah ich Fell, das gelblich braun schimmerte. Als Werwolf musste er ziemlich merkwürdig aussehen. Wortlos deutete ich auf diesen Beweis seiner zweiten Natur, und er erzitterte vor Sehnsucht, als er bestätigend nickte. Ich zog ein Taschentuch aus meiner Manteltasche, spuckte darauf und wischte sein Gesicht ab, ehe sich Jimmy Fullenwilder aus der Faszination seines Jagderfolgs lösen und seine seltsamen Begleiter in Augenschein nehmen konnte. Als Calvins Mund nicht mehr befleckt war, band ich das Taschentuch um seine Hand und verdeckte so die Stelle mit dem Fell.

Felton schien ganz normal zu sein, bis ich sah, was sich am Ende seiner Arme befand. Das waren keine Hände mehr ... aber auch keine Wolfspfoten, sondern etwas höchst Sonderbares, etwas Großes und Flaches mit Krallen.

Ich konnte die Gedanken der Männer nicht lesen, aber ich spürte ihr starkes Verlangen, und das hatte vor allem mit rohem rotem Fleisch zu tun. Felton bewegte sich sogar ein-, zweimal vor und zurück, geschüttelt von der Kraft seiner Gier. Ihr stummer innerer Kampf war schmerzhaft und nur schwer zu ertragen, selbst für den Beobachter. Ich fühlte es, als die beiden Männer begannen, ihren Hirnen menschliche Gedankenmuster aufzuzwingen. Nach wenigen Sekunden schon gelang es Calvin, zu sprechen.

»Sie verliert sehr schnell Blut, aber wenn wir sie ins Krankenhaus bringen, übersteht sie es.« Seine Stimme war undeutlich, und das Sprechen strengte ihn sichtlich an. Felton hielt den Blick immer noch gesenkt und begann unbeholfen sein Flanellhemd zu zerreißen. Mit seinen ungestalten Händen gelang ihm das nicht, daher übernahm ich diese Aufgabe. Als Crystals Wunde so fest verbunden war, wie ein improvisierter Verband es zuließ, hoben die beiden Männer die jetzt bleiche und stille Crystal hoch und trugen sie schnellstens aus dem Wald. Feltons Hände waren dabei den Blicken verborgen, Gott sei Dank.

All das ging so rasant vonstatten, dass die auf der Lichtung zusammengelaufenen anderen Suchteams eben erst begriffen, was passiert war.

»Ich habe eine Wildsau erschossen«, sagte Jimmy Fullenwilder und schüttelte fassungslos den Kopf, als Kevin und Kenya aus östlicher Richtung auf die Lichtung stürmten. »Das ist nicht zu glauben. Sie hat das Mädchen angegriffen, und die anderen Säue und Ferkel sind davongestoben, und dann waren die zwei Männer bei der Sau, und dann gingen sie endlich aus dem Weg, und ich habe dem Tier in den Hals geschossen.« Er wusste nicht, ob er ein Held war oder ob er Schwierigkeiten mit dem Amt für Naturschutz zu befürchten hatte. Was ihm wirklich gedroht hatte, würde er nie ahnen. Die Gefahr für Crystal hatte in Felton und Calvin die eigenen Jagdinstinkte erregt, und beinahe hätten sie eine volle Gestaltwandlung vollzogen. Dass sie fähig waren, sich von dem Wildschwein zurückzuziehen anstatt sich vollständig zu verwandeln, zeigte, wie stark sie waren. Dass sie nicht fähig waren, die beginnende Verwandlung gänzlich zu unterdrücken, schien zu belegen, dass die Trennlinie ihrer zwei Naturen bei einigen Einwohnern von Hotshot anscheinend immer unschärfer wurde.

An der Wildsau fanden sich sogar Bisswunden. Ich war derart von Sorgen überwältigt, dass ich meine Schutzbarriere nicht aufrechterhalten konnte und sich die ungefilterte Aufregung aller Leute in meinen Kopf ergoss - all ihre Abscheu, Angst, Panik über das viele Blut, das Wissen um die schwere Verwundung einer Mitsucherin und der Neid der anderen Jäger wegen Jimmy Fullenwilders Coup. Das alles war zu viel, und mehr als ich je etwas gewünscht hatte, wünschte ich mich von dort fort.

»Gehen wir. Das ist das Ende der Suche, wenigstens für heute«, sagte Sam, der neben mir stand. Sehr langsam gingen wir zusammen aus dem Wald hinaus. Ich erzählte Maxine, was passiert war, und nachdem ich ihr für all ihre Bemühungen gedankt und ein paar Krapfen angenommen hatte, fuhr ich nach Hause. Sam folgte mir. Als wir dort ankamen, war ich schon wieder ein bisschen mehr ich selbst.

Ich schloss die Hintertür auf und fand den Gedanken plötzlich ziemlich merkwürdig, dass noch jemand anderes im Haus war. Nahm Eric meine Schritte auf dem Fußboden über seinem Kopf auf irgendeiner Ebene wahr - oder war er auf dieselbe Weise tot wie ein ganz normaler toter Mensch? Doch diese Fragen strömten nur durch meinen Kopf und gleich wieder hinaus, weil ich einfach viel zu mitgenommen war, um lange darüber nachzudenken.

Sam fing an, Kaffee zu kochen. Er fühlte sich in meiner Küche ganz zu Hause, da er früher, als meine Großmutter noch lebte, hin und wieder vorbeigekommen war und mich auch sonst mal besuchte.

Ich hängte unsere Mäntel auf und sagte: »Das war die reine Katastrophe.«

Sam widersprach nicht.

»Wir haben nicht nur Jason nicht gefunden, was ich eigentlich auch nicht erwartet hatte, sondern die beiden Typen aus Hotshot wären beinahe aufgeflogen und Crystal ist verletzt. Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wieso die überhaupt da aufkreuzen mussten.« Ich weiß schon, das auszusprechen war nicht sonderlich nett von mir. Aber außer Sam hörte es ja keiner, und er kannte meine schlechten Seiten zur Genüge und machte sich da nichts vor.

»Ich habe mit ihnen geredet, bevor du kamst. Calvin wollte zeigen, dass er ernsthaft um dich wirbt, wie sie das in Hotshot eben so machen«, sagte Sam in ruhigem gleichmäßigen Ton. »Feiton ist ihr bester Spurenleser, deswegen hat er ihn überredet, mitzukommen. Und Crystal wollte einfach bloß Jason finden.«

Sofort schämte ich mich. »Tut mir leid«, sagte ich und ließ mich auf einen Stuhl fallen. »Tut mir leid.«

Sam kniete sich vor mich hin und legte seine Hände auf meine Knie. »Du hast wirklich jedes Recht auf miserable Laune.«

Ich beugte mich über ihn und küsste ihn auf den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde«, sagte ich ohne irgendeinen Hintergedanken.

Er sah zu mir hinauf, und für einen langen, seltsamen Moment schien das Licht im Raum zu tanzen und zu zittern. »Du würdest Arlene anrufen«, sagte er lächelnd. »Sie würde mit den Kindern hierher kommen, Schnaps in deinen Kaffee gießen, dir von Tacks Knick im Schwanz erzählen und dich damit zum Lachen bringen, so dass es dir gleich besser ginge.«

Ich war ihm dankbar, dass er den Moment hatte verstreichen lassen. »Also, da werde ich ja glatt neugierig, bei dieser Sache mit Tack. Aber das fällt wahrscheinlich in die Kategorie >zu intime Details<, oder?«

»Das dachte ich auch. Hat mich aber nicht davon abgehalten, zuzuhören, als sie es Charlsie Tooten erzählte.«

Ich goss uns beiden eine Tasse Kaffee ein, stellte die halb leere Zuckerdose in Sams Reichweite und legte einen Löffel dazu. Um zu sehen, wie viel Zucker ich noch hatte, blickte ich zur Küchenanrichte mit den Vorratsgläsern hinüber und bemerkte dabei, dass das Licht meines Anrufbeantworters blinkte. Ich musste nur aufstehen, einen einzigen Schritt tun und den Knopf drücken. Die Nachricht war um 5.01 Uhr aufgezeichnet worden. Ach ja, ich hatte den Hörer vom Telefon genommen, ehe ich völlig erschöpft ins Bett gegangen war. Meine Nachrichten waren meist unterschiedslos banal - Arlene, die mir den allerneuesten Klatsch erzählte; Tara, die plaudern wollte, weil im Laden gerade nichts los war -, dagegen war diese hier geradezu sensationell.

Pams klare Stimme sagte: »Heute Nacht greifen wir die Hexen und ihren Unterschlupf an. Die Werwölfe haben die Wiccas der Umgebung überredet, uns zu helfen. Und du musst Eric mitbringen. Er kann kämpfen, auch wenn er nicht weiß, wer er ist. Außerdem ist er sowieso nutzlos für uns, wenn wir den Fluch nicht brechen können.« Typisch Pam, immer praktisch orientiert. Eric sollte wenigstens als Kanonenfutter dienen, wenn wir ihn nicht wieder in seinen vollen Anführer-Modus zurückversetzen konnten. Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Die Werwölfe von Shreveport verbünden sich mit den Vampiren zum gemeinsamen Kampf. Hier wird Geschichte geschrieben, meine liebe Gedankenleserin, und du kannst dabei sein.«

Das Geräusch eines Telefonhörers, der aufgelegt wurde. Das Klicken, das die nächste Nachricht ankündigte, die nur zwei Minuten später angekommen war.

»Da ich gerade daran denke«, sagte Pam, als hätte sie nie aufgelegt, »es sieht so aus, als könnte uns deine ungewöhnliche Fähigkeit in unserem Kampf helfen, und wir würden das gern nutzen. Komm also hierher, sobald es dunkel genug ist.« Sie legte wieder auf.

Klick. »>Hierher< ist Parchman Avenue 714«, sagte Pam. Und legte auf.

»Wie kann ich das tun, solange Jason noch vermisst wird?«, fragte ich, als klar war, dass Pam nicht noch einmal angerufen hatte.

»Jetzt legst du dich erst mal hin«, sagte Sam. »Komm.« Er zog mich vom Stuhl und brachte mich zu meinem Zimmer. »Du ziehst deine Stiefel und die Jeans aus, krabbelst ins Bett und schläfst eine Weile. Und wenn du wieder aufwachst, wirst du dich viel besser fühlen. Du hinterlässt Pams Telefonnummer, dann kann ich dich erreichen. Und der Polizei sagst du, sie soll in der Bar anrufen, wenn es was Neues gibt. Ich sage dir dann Bescheid, wenn ich von Bud Dearborn höre.«

»Du findest also, ich sollte das tun?« Ich war total verwirrt.

»Nein, ich würde was drum geben, wenn du's nicht tätest. Aber ich denke, du musst es tun. Es ist nicht mein Kampf, ich wurde nicht aufgefordert, mitzumachen.« Sam drückte mir einen Kuss auf die Stirn und machte sich dann auf den Weg zurück ins Merlotte's.

Seine Einstellung war recht interessant, weil meine beiden Vampire Bill und Eric immer so sehr darauf beharrten, dass ich ein Besitz sei, den es zu beschützen gelte. Ich fühlte mich ziemlich gestärkt und zuversichtlich - ungefähr dreißig Sekunden lang, bis ich mich an meinen guten Vorsatz fürs neue Jahr erinnerte: Ich möchte nicht noch mal zusammengeschlagen werden. Wenn ich mit Eric nach Shreveport fuhr, würde ich mit Sicherheit Dinge zu sehen bekommen, die ich nicht sehen wollte; Dinge erfahren, die ich nicht wissen wollte; und den Arsch voll kriegen würde ich außerdem.

Andererseits hatte mein Bruder Jason einen Deal mit den Vampiren gemacht, und ich musste mich daran halten. Manchmal schien mir, als sei mein ganzes Leben ein einziges Hin und Her zwischen Regen und Traufe. Allerdings hatten auch viele andere Menschen ein kompliziertes Leben.

Ich dachte an Eric, den mächtigen Vampir, dessen Hirn jeder noch so kleinen Erinnerung an seine Identität beraubt war. Ich dachte an das Gemetzel, das ich in der Boutique für Brautmoden gesehen hatte, an die rot bespritzte weiße Spitze. Ich dachte an die arme Maria-Star, die jetzt im Krankenhaus von Shreveport lag. Diese Hexen waren von Grund auf böse, und das Böse sollte aufgehalten, das Böse sollte überwältigt werden. Das ist doch der amerikanische Ansatz.

Mir schien nur der Gedanke etwas seltsam, dass ich auf der Seite von Vampiren und Werwölfen stand und dass das die gute Seite war. Darüber musste ich denn doch ein klein wenig lachen, wenn auch nur ganz für mich. O ja, wir waren die Guten und würden die Rettung bringen.