Kapitel 14
Pam hatte Hallow bestimmt bearbeitet, bis die Morgendämmerung am Horizont heraufzog. Ich selbst bedurfte so sehr der körperlichen und seelischen Erholung, dass ich tief und fest schlief und erst gegen vier Uhr nachmittags erwachte. Es war ein trüber Wintertag, einer jener Tage, an denen man sofort das Radio andreht, um zu hören, ob ein Eissturm im Anzug ist. Sicherheitshalber sah ich noch mal nach, ob der Vorrat an Kaminholz auch wirklich für drei, vier Tage reichte.
Eric würde heute sicher früh aufstehen.
Im Schneckentempo zog ich mich an und aß etwas und versuchte, mein Dasein wieder in den Griff zu bekommen.
Körperlich ging es mir gut. Ein paar blaue Flecken, ein bisschen Muskelkater - das war eigentlich gar nichts. Jetzt war ich schon bis in die zweite Januarwoche hinein meinen guten Vorsätzen fürs neue Jahr treu geblieben. Na, wenn das nicht großartig war.
Auf der anderen Seite - und es gibt immer eine andere Seite - fühlte ich mich geistig, oder vielleicht auch emotional, nun wahrlich nicht stabil. Ganz egal, wie praktisch veranlagt jemand ist oder wie viel er verträgt, das, was ich getan hatte, tut keiner, ohne unter den Nachwirkungen zu leiden.
So sollte es auch sein.
Als ich überlegte, ob Eric heute wohl früher aufstehen würde, hatte ich gedacht, dass wir noch ein wenig kuscheln könnten, ehe ich zur Arbeit ging. Und ich hatte auch gedacht, wie schön es doch war, mit jemandem zusammen zu sein, dem ich so viel bedeutete.
Aber ich hatte nicht daran gedacht, dass der Fluch aufgehoben sein würde.
Eric stand um halb sechs auf. Als ich Geräusche im kleinen Schlafzimmer hörte, klopfte ich an die Tür und öffnete sie. Er wirbelte auf dem Absatz herum, fuhr seine Fangzähne aus und hob die zu Klauen gekrümmten Hände wie zum Angriff.
Ich hätte beinahe »Hallo, Schatz« gesagt, doch Vorsicht ließ mich verstummen.
»Sookie«, sagte er langsam. »Bin ich bei dir zu Hause?«
Was war ich froh, dass ich mich wenigstens angezogen hatte. »Ja«, erwiderte ich und sortierte wie wild meine Gedanken neu. »Du bist hier zu deiner eigenen Sicherheit. Weißt du, was passiert ist?«
»Ich bin auf einem Treffen mit ein paar neuen Leuten gewesen«, sagte er in zweifelndem Ton. »Oder?« Überrascht sah er an seinen Wal-Mart-Kleidern hinab. »Wann habe ich die denn gekauft?«
»Die musste ich für dich besorgen«, antwortete ich.
»Hast du mich auch angezogen?«, fragte er und fuhr sich mit der Hand über die Brust und tiefer hinab. Und dazu noch dieses Lächeln, typisch Eric.
Er erinnerte sich nicht. An gar nichts.
»Nein«, sagte ich. Bilder blitzten vor mir auf: Eric und ich unter der Dusche. Auf dem Küchentisch. Im Bett.
»Wo ist Pam?«, fragte er.
»Du solltest sie anrufen«, sagte ich. »Kannst du dich noch an gestern erinnern?«
»Gestern war das Treffen mit den Hexen«, erwiderte er, als wäre das ganz unbestreitbar.
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist schon ein paar Tage her«, sagte ich, unfähig, die genaue Zahl zusammenzubekommen. Mein Herz sank immer tiefer.
»Du erinnerst dich auch nicht an gestern Nacht, nachdem wir aus Shreveport zurück waren?«, hakte ich nach. Plötzlich sah ich einen Lichtschimmer in all dem.
»Haben wir miteinander geschlafen?«, fragte er hoffnungsvoll. »Hast du dich mir endlich hingegeben, Sookie? Es ist sowieso nur eine Frage der Zeit.« Er grinste.
Nein, gestern Nacht haben wir gemeinsam eine Leiche beseitigt, dachte ich.
Ich war die Einzige, die davon wusste. Und nicht mal ich wusste, wo Debbies Überreste begraben lagen oder was aus ihrem Auto geworden war.
Ich setzte mich auf die Kante meines alten schmalen Betts. Eric sah mich aufmerksam an. »Stimmt irgendwas nicht, Sookie? Was ist passiert, als ich - warum kann ich mich nicht erinnern, was passiert ist?«
Je weniger du drüber sprichst, desto besser.
Ende gut, alles gut.
Aus den Augen, aus dem Sinn. (Ach, wenn das doch nur wahr wäre.)
»Wetten, dass Pam hier jede Minute auftaucht«, sagte ich. »Ich überlasse es einfach ihr, dir alles zu erzählen.«
»Und Chow?«
»Nein, der wird nicht kommen. Er ist letzte Nacht gestorben. Das Fangtasia scheint es nicht gut zu meinen mit seinen Barkeepern.«
»Wer hat ihn getötet? Ich werde ihn rächen.«
»Das hast du bereits getan.«
»Irgendwas stimmt nicht mit dir«, sagte Eric. Scharfsinnig war er schon immer.
»Ja, mit mir stimmt eine ganze Menge nicht.« In diesem Moment hätte ich ihn zu gern umarmt, aber dann wäre alles nur noch komplizierter geworden. »Es wird wohl bald schneien.«
»Schnee, hier?« Eric war begeistert wie ein kleines Kind. »Ich liebe Schnee!«
Warum überraschte mich das kein bisschen?
»Vielleicht werden wir ja zusammen eingeschneit«, sagte er und zuckte anzüglich mit seinen blonden Augenbrauen.
Ich lachte. Ich konnte einfach nicht anders. Und das war verdammt viel besser als zu weinen, was ich zuletzt ja zur Genüge getan hatte. »Als ob dich je das Wetter abgehalten hätte, zu tun, was du tun willst«, sagte ich und stand auf. »Komm, ich mache dir etwas Blut warm.«
Schon die paar gemeinsam verbrachten Nächte hatten mich so liebevoll gestimmt, dass ich auf mein Verhalten achten musste. Einmal strich ich ihm fast übers Haar, als ich an ihm vorbeiging; und ein andermal beugte ich mich schon vor, um ihn zu küssen, und musste dann behaupten, mir wäre etwas heruntergefallen.
Als Pam eine halbe Stunde später an die Tür klopfte, war ich fertig für die Arbeit und Eric äußerst zappelig.
Pam hatte sich kaum hingesetzt, da bombardierte er sie schon mit Fragen. Ich sagte noch, dass ich gehen müsste, aber sie haben wohl gar nicht mehr bemerkt, wie ich durch die Küchentür verschwand.
Im Merlotte's war am späteren Abend nicht besonders viel los, nachdem zuvor eine ganze Menge Leute zum Abendessen da gewesen waren. Ein paar Schneeflocken hatten die meisten Stammgäste davon überzeugt, sich lieber nüchtern auf den Heimweg zu machen. Aber es waren noch genug andere da, um Arlene und mich einigermaßen zu beschäftigen. Sam fing mich ab, als ich mein Tablett gerade mit sieben Bierkrügen belud, und wollte alles über die letzte Nacht hören.
»Ich erzähl's dir später«, versprach ich. Diese Geschichte musste ich erst noch sehr sorgfältig zurechtstutzen.
»Irgendeine Spur von Jason?«, fragte er.
»Nein«, erwiderte ich und war plötzlich trauriger denn je. Das letzte Mal hatte die Polizistin am Telefon beinahe bissig geklungen, als ich anrief und nachfragte, ob es irgendwelche Neuigkeiten gab.
Kevin und Kenya kamen an diesem Abend nach Dienstschluss in die Bar. Als ich ihnen ihre Drinks (einen Bourbon mit Cola und einen Gin Tonic) brachte, sagte Kenya: »Wir haben wirklich nach deinem Bruder gesucht, Sookie. Tut mir leid.«
»Ich weiß, alle haben sich sehr bemüht«, erwiderte ich. »Und ich bin euch unheimlich dankbar, dass ihr diese Suchaktion organisiert habt! Ich wünschte nur...« Und dann fehlten mir einfach die Worte. Dank meiner »Behinderung« erfuhr ich in diesem Augenblick etwas über sie, das der jeweils andere nicht ahnte. Sie liebten einander. Doch Kevin wusste, dass seine Mutter ihren Kopf eher in den Gasofen stecken würde als zuzusehen, wie er eine schwarze Frau heiratete; und Kenya wusste, dass ihre Brüder Kevin lieber ungespitzt in den Boden rammen würden, als sie mit ihm vor den Altar treten zu sehen.
Und ich wusste das jetzt. Ich ganz allein. Keiner der beiden ahnte etwas von den Gedanken des anderen. Oh, wie ich es hasste, diese privaten Dinge mitzubekommen, all diese intimen Dinge, die sich mir einfach aufdrängten.
Schlimmer als dieses Wissen war nur die Versuchung, mich einzumischen. Eisern sagte ich mir, dass ich schon genug eigene Probleme hatte, auch ohne in denen anderer Leute herumzupfuschen. Zum Glück war ich den restlichen Abend über genug beschäftigt, um diese Versuchung wieder aus meinem Hirn zu drängen. Doch ich war den beiden Polizisten etwas schuldig. Sollte ich von irgendwas erfahren, das ich ihnen sagen konnte, würde ich es tun.
Als das Merlotte's zumachte, half ich Sam, die Stühle auf die Tische zu stellen, damit Terry Bellefleur morgen früh durchwischen und auch die Toiletten sauber machen konnte. Arlene und Tack waren >Let It Snow< singend gemeinsam durch die Hintertür verschwunden. Tatsächlich trieben draußen Schneeflocken, die aber wohl den nächsten Morgen nicht erleben würden. Ich dachte an all die Geschöpfe im Wald, die heute Nacht trocken und warm zu bleiben versuchten. Und ich wusste, dass irgendwo dort draußen im Wald Debbie Pelt in einem Loch lag, für immer kalt.
Wie lange würde ich noch auf diese Weise an sie denken müssen, fragte ich mich und hoffte, ich würde mich stets genauso deutlich daran erinnern, was für eine schreckliche Person sie gewesen war, wie rachsüchtig und mörderisch.
Schon ein paar Minuten hatte ich so dagestanden und aus dem Fenster gestarrt, als Sam hinter mir auftauchte.
»Woran denkst du?«, fragte er. Er fasste mich beim Ellbogen, und ich spürte die Kraft seiner Finger.
Ich seufzte, nicht zum ersten Mal. »Ich denke an Jason«, sagte ich. Das kam der Wahrheit immer noch nahe genug.
Tröstend tätschelte er mir die Schulter. »Erzähl mir von gestern Nacht«, bat er, und einen Moment lang dachte ich, er fragte nach Debbie Pelt. Doch mir fiel noch rechtzeitig ein, dass er von dem Kampf mit den Hexen sprach, und darüber konnte ich sehr wohl Bericht erstatten.
»Pam ist also heute Abend zu dir gekommen.« Sam klang sehr erfreut. »Dann muss sie Hallow wirklich geknackt und dazu gebracht haben, den Fluch aufzuheben. War Eric wieder er selbst?«
»Soweit ich weiß, ja.«
»Was hat er denn erzählt?«
»Er kann sich an nichts erinnern«, sagte ich langsam. »Er scheint nicht die leiseste Ahnung zu haben, was passiert ist.«
Sam schaute mich nicht an, als er fragte: »Und wie kommst du damit klar?«
»So ist es am besten«, erwiderte ich. »Ganz bestimmt.« Und ich würde wieder mal in ein leeres Haus heimkehren. Diese Erkenntnis steckte irgendwo in den Randbezirken meines Bewusstseins, doch noch wollte ich mich ihr nicht stellen.
»Schade, dass du heute nicht die Nachmittagsschicht hattest«, sagte er. Sam wich dem Thema auch lieber aus. »Calvin Norris war hier.«
»Und?«
»Er hoffte wohl darauf, dich hier anzutreffen.«
Skeptisch sah ich Sam an. »Wirklich?« »Ich glaube, er meint's ernst, Sookie.«
»Sam«, sagte ich, unerklärlicherweise fühlte ich mich verletzt, »ich lebe zwar allein, und das ist nicht immer lustig. Aber ich muss mich deswegen noch lange nicht mit einem Werwolf einlassen, nur weil er zu haben ist.«
Sam sah einigermaßen verdutzt aus. »Das müsstest du auch nicht. Die Leute in Hotshot sind keine Werwölfe.«
»Aber er hat es doch gesagt.«
»Nein, nicht Werwölfe, sondern Wergeschöpfe. Sie sind nur zu stolz, sich Gestaltwandler zu nennen. Aber im Grunde sind sie genau das. Sie sind Werpanther.«
»Was?« Kleine Pünktchen schwebten in der Luft vor meinen Augen, das schwöre ich.
»Sookie, was hast du denn?«
»Panther? Weißt du nicht, dass der Abdruck auf Jasons Steg von einem Panther stammt?«
»Nein, von einem Abdruck hat mir niemand was erzählt. Bist du sicher?«
Verzweifelt sah ich ihn an. »Natürlich bin ich sicher. Und er verschwand in der Nacht, in der Crystal Norris in seinem Haus auf ihn wartete. Du bist wirklich der einzige Barbesitzer der Welt, der den allgemeinen Klatsch nicht kennt.«
»Ist Crystal das Mädchen aus Hotshot, mit dem er Silvester verbracht hat? Diese dünne Schwarzhaarige bei der Suchaktion?«
Ich nickte.
»Die große Liebe von Felton?«
»Was? Wer?«
»Na, du weißt schon, Felton, der auch bei der Suchaktion dabei war. Er liebt sie schon sein ganzes Leben lang.«
»Und woher weißt du das?« Da ich, die Gedankenleserin, das nicht wusste, war ich ziemlich angefressen.
»Er hat's mir eines Abends erzählt, als er zu viel getrunken hatte. Die Typen aus Hotshot kommen nicht oft vorbei, aber wenn, dann trinken sie ordentlich.« »Aber wieso hat er dann bei der Suche geholfen?«
»Vielleicht sollten wir hinfahren und nachfragen.«
»So spät noch?«
»Hast du was Besseres vor?«
Der Punkt ging an ihn. Ich wollte ja unbedingt erfahren, ob sie meinen Bruder hatten oder wussten, was ihm zugestoßen war. Doch irgendwie hatte ich auch Angst vor dem, was ich herausfinden würde.
»Diese Jacke ist nicht warm genug bei diesem Wetter, Sookie«, sagte Sam, als wir uns etwas überzogen.
»Mein Mantel ist in der Wäsche«, entgegnete ich. Eigentlich hatte ich bisher bloß noch keine Gelegenheit gehabt, ihn in den Trockner zu tun und nachzusehen, ob all das Blut rausgegangen war. Und außerdem waren Löcher drin.
»Hmmm«, war alles, was Sam sagte, ehe er mir einen grünen Wollpullover lieh, den ich unter meine Jacke zog. Wir stiegen in Sams Pick-up, weil es mittlerweile richtig schneite und Sam, wie alle Männer, davon überzeugt war, dass er im Schnee fahren konnte, auch wenn er es fast noch nie getan hatte.
Die Fahrt hinaus nach Hotshot schien bei Nacht und bei dem wirbelnden Schnee im Licht der Scheinwerfer sogar noch länger zu dauern.
»Ich bin dir sehr dankbar, dass du mit mir hier herausfährst. Aber so langsam fange ich an, uns für total verrückt zu halten«, sagte ich auf halbem Wege.
»Bist du angeschnallt?«, fragte Sam.
»Natürlich.«
»Gut«, meinte er, und wir setzten unseren Weg fort.
Schließlich erreichten wir das kleine Dorf. Straßenlaternen gab es hier draußen natürlich nicht, aber einige der Bewohner hatten Sicherheitsleuchten gekauft und sie an den Strommasten angebracht. In ein paar Häusern waren die Fenster noch erleuchtet.
»Zu wem sollen wir gehen?«
»Zu Calvin. Er ist hier derjenige, der die Macht hat«, sagte Sam sehr bestimmt.
Ich erinnerte mich, wie stolz Calvin auf sein Haus gewesen war, und ein klein wenig neugierig auf das Innere war ich schon. Es brannte noch Licht. Wir stiegen aus Sams warmem Pick-up aus und liefen durch die eisige feuchte Schneenacht auf die Vordertür zu. Ich klopfte, und nach einer ganzen Weile wurde die Tür geöffnet. Calvin wirkte erfreut, bis er Sam hinter mir stehen sah.
»Kommen Sie herein«, sagte er, nicht allzu herzlich, und trat einen Schritt zur Seite. Höflich trampelten wir den Schnee von unseren Schuhen, ehe wir eintraten.
Das Haus war schlicht und sehr sauber, eingerichtet mit preiswerten, aber sorgsam ausgesuchten Möbeln und Bildern. Auf keinem der Bilder waren Leute zu sehen, was ich interessant fand. Nur Landschaften und Tiere.
»Das ist keine Nacht, in der man gern draußen herumfährt«, bemerkte Calvin.
Mir war klar, dass ich hier vorsichtig vorgehen musste, so gern ich ihn auch an seinem Flanellhemd gepackt und ihm ins Gesicht geschrien hätte. Dieser Mann war ein Herrscher. Auf die Größe des Königreichs kam es dabei nicht an.
»Calvin«, sagte ich so beherrscht wie möglich, »wussten Sie, dass die Polizei auf dem Steg neben Jasons Stiefelabdruck eine Pantherspur gefunden hat?«
»Nein«, sagte er nach einem langen Moment. Ich konnte förmlich zusehen, wie Zorn in ihm hochstieg. »Hier draußen hören wir nur wenig Klatsch und Tratsch. Es hat mich gewundert, warum bei der Suchaktion Männer mit Gewehren dabei waren, aber wir machen die Leute ja meist irgendwie nervös, und niemand hat viel zu uns gesagt. Eine Pantherspur, hm.«
»Bis heute Abend hatte ich keine Ahnung, dass das Ihre, äh, andere Identität ist.«
Unverwandt sah er mich an. »Sie glauben, dass sich einer von uns Ihren Bruder geschnappt hat.«
Wortlos stand ich da und wandte meinen Blick nicht von ihm. Sam war genauso schweigsam wie ich.
»Glauben Sie, Crystal war wütend auf Ihren Bruder und hat ihm etwas angetan?«
»Nein«, sagte ich. Seine goldgrünen Augen wurden größer und runder, während ich mit ihm sprach.
»Haben Sie Angst vor mir?«, fragte er plötzlich.
»Nein«, erwiderte ich, »habe ich nicht.«
»Felton«, sagte er.
Ich nickte.
»Gehen wir hin«, entschied er.
Also wieder raus in den Schnee und die Dunkelheit. Ich spürte die beißende Kälte der Schneeflocken auf meinen Wangen und war froh, dass meine Jacke eine Kapuze hatte. Sams behandschuhte Hand griff nach meiner, als ich über ein herumliegendes Werkzeug oder Spielzeug stolperte. Während wir noch auf den betonierten Streifen zugingen, der Feltons vordere Veranda darstellte, klopfte Calvin bereits an die Tür.
»Wer ist da?«, fragte Felton.
»Mach auf«, sagte Calvin.
Als Felton seine Stimme erkannte, öffnete er sofort die Tür. Bei ihm war es längst nicht so sauber wie bei Calvin, und seine Möbel wirkten nicht sorgsam arrangiert, sondern lieblos hingestellt, wo sie gerade Platz fanden. Seine Bewegungen waren nicht die eines Menschen, das fiel mir heute Nacht noch deutlicher auf als bei der Suchaktion. Felton stand seiner Tiernatur sehr viel näher als seiner menschlichen Existenz. Die Inzucht hatte bei ihm unübersehbare Spuren hinterlassen.
»Wo ist der Mann?«, fragte Calvin ohne jede Vorrede.
Feltons riss die Augen weit auf und zuckte, als wollte er jeden Moment losrennen. Er sagte kein Wort.
»Wo?«, fragte Calvin erneut, und dann verwandelte sich seine Hand in eine Tatze, mit der er quer durch Feltons Gesicht fuhr. »Lebt er noch?«
Ich schlug die Hände vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Felton sank auf die Knie, sein Gesicht war gezeichnet von parallelen Kratzspuren, die sich mit Blut füllten.
»Im Schuppen hinten«, sagte er undeutlich.
Ich rannte so schnell zur Tür hinaus, dass Sam kaum mit mir mithalten konnte. Mit fliegenden Schritten eilte ich um die Ecke des Hauses - und fiel der Länge nach über einen Holzhaufen. Später würde es wehtun, doch jetzt sprang ich wieder auf, und Calvin Norris hob mich, wie schon im Wald, einfach über den Holzhaufen hinweg, noch ehe ich wusste, wie mir geschah. Er selbst setzte mit anmutiger Grazie über ihn hinweg. Und dann standen wir vor dem Schuppen, einem jener Exemplare, die jeder bei Sears oder Penney's bestellen konnte. Da halfen dann immer die Nachbarn beim Aufbauen, wenn der Betonboden ausgegossen war.
Die Tür war mit einem Vorhängeschloss gesichert, doch Calvin war sehr stark. Er brach das Schloss auf, drückte die Tür nach innen und schaltete das Licht ein. Ich staunte nicht schlecht darüber, dass hier draußen Strom war; üblich war das bestimmt nicht.
Anfangs war ich nicht sicher, ob das, was ich sah, wirklich mein Bruder war. Dieser Mensch ähnelte Jason so wenig. Er war blond, ja, aber er war so verdreckt und stank selbst in der eiskalten Luft so fürchterlich, dass ich zurückzuckte. Da er nur Hosen anhatte und auf einer dünnen Decke auf dem Betonboden lag, war er vor Kälte ganz blau gefroren.
Und schon kniete ich neben ihm und nahm ihn in die Arme, so gut ich konnte. Seine Lider flatterten, und seine Augen öffneten sich. »Sookie?«, sagte er, und ich hörte den ängstlichen Zweifel in seiner Stimme. »Sookie? Bin ich gerettet?«
»Ja«, sagte ich, obwohl ich da keineswegs so sicher war. Ich musste an den Sheriff denken, der auch hier heraus nach Hotshot gekommen war und wohl etwas gefunden hatte. »Wir bringen dich nach Hause.«
Er war gebissen worden.
Er war sehr oft gebissen worden.
»Oh, nein«, sagte ich leise, als mir die Bedeutung dieser Bisse aufging.
»Ich habe ihn nicht getötet«, sagte Felton von draußen wie zu seiner Verteidigung.
»Sie haben ihn gebissen«, entgegnete ich. Meine Stimme klang wie die einer anderen Person. »Sie wollten, dass er ist wie Sie.«
»Damit Crystal ihn nicht mehr liebt als mich. Sie weiß, dass wir die Inzucht bekämpfen müssen. Aber eigentlich liebt sie mich«, sagte Felton.
»Und darum haben Sie ihn entführt und gefangen gehalten und ihn gebissen.«
Jason war zu schwach, um aufzustehen.
»Trägt ihn bitte einer zum Wagen«, bat ich steif. Ich war nicht in der Lage, irgendjemandem in die Augen zu sehen. Wie eine große schwarze Welle spürte ich die Wut in mir aufsteigen, aber ich musste sie zurückdrängen, zumindest bis wir hier weg waren. Ich besaß genug Selbstbeherrschung, um das zu schaffen. Das wusste ich.
Jason schrie auf, als Calvin und Sam ihn hochhoben. Sie nahmen die Decke und umwickelten ihn damit. Ich stolperte hinter ihnen her, als sie ihn zu Sams Pick-up trugen.
Ich hatte meinen Bruder wieder. Es bestand die Möglichkeit, dass er sich von Zeit zu Zeit in einen Panther verwandelte, doch ich hatte ihn wieder. Keine Ahnung, ob die Regel für alle Gestaltwandler galt, aber Alcide hatte mir mal erzählt, dass Werwölfe, die durch Bisse und nicht durch Geburt Werwölfe waren - also kreierte Werwölfe, keine genetischen -, zu jenen Kreaturen, halb Mensch, halb Tier, wurden, die die Horrorfilme bevölkerten. Doch ich zwang mich, diesen Gedanken schnellstens zu vergessen und mich einfach nur zu freuen, dass ich meinen Bruder wiederhatte, und zwar lebend.
Calvin hob Jason in den Pick-up und schob ihn etwas zur Mitte. Sam stieg auf der Fahrerseite ein, wir würden Jason zwischen uns haben, wenn auch ich eingestiegen war. Doch zunächst hatte Calvin mir noch etwas zu sagen.
»Felton wird bestraft«, versicherte er. »Jetzt gleich.«
Feltons Bestrafung war mir im Moment schnurzpiepegal. Aber ich nickte, denn ich wollte verdammt noch mal nur raus hier.
»Wenn wir uns um Felton kümmern, werden Sie zur Polizei gehen?« Calvin Norris stand ungerührt da, als ob ihn die Frage gar nicht weiter interessierte. Doch dies war ein gefährlicher Moment. Ich wusste ja, was Leuten widerfuhr, die die Aufmerksamkeit auf Hotshot lenkten.
»Nein«, sagte ich. »Es war nur Felton.« Obwohl Crystal es natürlich auch gewusst haben musste, bis zu einem gewissen Grad. Sie hatte mir erzählt, dass sie an jenem Abend in Jasons Haus ein Tier gerochen habe. Wie hatte sie den Geruch eines Panthers verkennen können, wenn sie selbst einer war? Wahrscheinlich hatte sie die ganze Zeit gewusst, dass dieser Panther Felton gewesen war. Sein Geruch musste ihr doch vertraut sein. Aber jetzt war einfach nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden; und Calvin würde das alles genauso gut wissen wie ich, wenn er erst mal nachgedacht hatte. »Und mein Bruder könnte jetzt einer der Ihren sein. Er wird Sie brauchen«, fügte ich in so ruhigem Ton hinzu, wie mir möglich war. Aber ich hatte meine Möglichkeiten schon so ziemlich ausgeschöpft.
»Beim nächsten Vollmond werde ich Jason holen.«
Ich nickte noch einmal. »Danke«, sagte ich, denn ich wusste, wir hätten Jason ohne seine Unterstützung nie gefunden. »Jetzt muss ich meinen Bruder nach Hause bringen.« Calvin wünschte sich, dass ich ihn berührte, irgendeine Verbindung zu ihm herstellte, das war mir klar. Aber ich konnte es einfach nicht.
»Natürlich«, sagte er nach einem langen Augenblick. Er trat einen Schritt zurück, und ich kletterte in den Pick-up hinein.
Er schien sehr genau zu wissen, dass ich in diesem Moment keine Hilfe von ihm wollte.
Ich hatte immer gedacht, die ungewöhnlichen Gedankenmuster der Leute aus Hotshot würden mit ihrer Inzucht zusammenhängen. Die Idee, dass sie etwas anderes als Werwölfe sein könnten, war mir nie gekommen. Ich hatte es einfach vorausgesetzt. Aber wie sagte mein Volleyballtrainer an der Highschool immer so schön: Du darfst gar nichts voraussetzen. Wenn du auf den Platz gehst, musst du dich ganz aufs Spiel konzentrieren. Okay, er hatte auch gesagt, lasst alles hinter euch, wenn ihr auf den Platz geht, damit es noch da ist, wenn ihr zurückkommt - was das bedeutete, hatte ich noch nicht begriffen.
Aber mit dem Voraussetzen hatte er Recht gehabt.
Die Heizung im Pick-up lief bereits, Sam hatte sie jedoch nicht auf die höchste Stufe gestellt. Zu viel Hitze auf einmal wäre sicher nicht gut gewesen für Jason. Und auch so war der Gestank, den er mit zunehmender Wärme verströmte, ja schon unerträglich genug. Fast hätte ich mich bei Sam entschuldigt, fand es dann aber doch wichtiger, Jason diese erneute Demütigung zu ersparen.
»Mal abgesehen von den Bissen und der Unterkühlung, geht es dir sonst gut?«, fragte ich, als Jason aufgehört hatte zu zittern und wieder sprechen konnte.
»Ja«, sagte er. »Ja. Jeden Abend, jeden verdammten Abend ist er in den Schuppen gekommen und hat sich vor mir verwandelt. Und jedes Mal dachte ich: Heute Abend tötet er mich und frisst mich auf. Aber er hat mich immer nur gebissen, jeden Abend. Und dann hat er sich wieder zurückverwandelt und ist gegangen. Das war ganz schön hart für ihn, nachdem er das Blut bereits gerochen hatte... aber er hat nie was anderes getan, nur zugebissen.«
»Sie töten ihn heute Nacht«, erzählte ich ihm. »Als Gegenleistung dafür, dass wir nicht zur Polizei gehen.«
»Guter Deal«, sagte Jason. Und das meinte er auch so.