Kapitel 4

Gleich danach schüttelte der Detective mich eilig ab, indem er mir erzählte, dass er sich jetzt um die Spurensicherung kümmern müsse und wir in Kontakt bleiben würden. Mir kam der Gedanke, und zwar direkt aus seinem Gehirn, dass es da etwas gab, was ich nicht sehen sollte, und dass er Carla Rodriguez nur erwähnt hatte, um mich abzulenken.

Ich fürchtete, er könnte mir die Schrotflinte wegnehmen, weil er es jetzt sehr viel wahrscheinlicher fand, dass er es mit einem Verbrechen zu tun hatte, und die Schrotflinte vielleicht so eine Art Beweismittel war. Doch Alcee Beck sagte nichts, und ich auch nicht.

Ich war viel stärker erschüttert, als ich mir selbst eingestehen mochte. Innerlich war ich überzeugt gewesen, dass es Jason - auch wenn ich meinen Bruder erst wieder auftreiben musste - trotz allem gut ging und er vielleicht nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Genauer, im falschen Bett. Er hatte doch wahrscheinlich bloß irgendeinen ziemlich harmlosen Ärger am Hals, hatte ich mir eingeredet. Jetzt wirkte die Lage viel ernster.

Die Kosten für ein Handy waren bei mir finanziell nie drin gewesen, und so fuhr ich erst mal nach Hause. Ich überlegte, wen ich anrufen sollte, und gab mir schließlich dieselbe Antwort wie vorher. Niemanden. Es gab noch keine sicheren Informationen. Einsamer hatte ich mich in meinem Leben noch nie gefühlt. Aber ich wollte auch nicht als Mensch gewordene Krise bei meinen Freunden auf der Türschwelle stehen und meine Probleme abladen.

Tränen traten mir in die Augen. Ich wollte meine Großmutter zurückhaben. Ich fuhr das Auto an den Straßenrand, hielt an und gab mir selbst eine heftige Ohrfeige. Und ich schimpfte fürchterlich mit mir.

Shreveport. Ich sollte nach Shreveport fahren und Dovie und Carla Rodriguez zur Rede stellen. Dort konnte ich außerdem herausbekommen, ob Chow und Pam irgendetwas über Jasons Verschwinden wussten - auch wenn es noch Stunden dauerte, bis sie wach wurden, und ich in der Zwischenzeit in einem leeren Club Däumchen drehen musste; vorausgesetzt, dass überhaupt jemand da war, der mich reinließ. Aber ich konnte nicht einfach zu Hause sitzen und abwarten. Ich würde die Gedanken der menschlichen Angestellten lesen und herausfinden, ob sie irgendwas wussten.

Wenn ich nach Shreveport fuhr, wusste ich einerseits zwar nicht, was zu Hause vor sich ging. Andererseits würde ich aber immerhin etwas unternehmen.

Und während ich noch überlegte, ob es irgendeine dritte Seite zu bedenken galt, passierte etwas ganz anderes.

Etwas noch Merkwürdigeres als all die vorangegangenen Ereignisse des Tages. Da saß ich also, in einem am Straßenrand geparkten Auto irgendwo im Niemandsland, und plötzlich hielt ein schnittiger schwarzer, brandneuer Camaro hinter mir. Auf der Beifahrerseite stieg eine wunderschöne, sehr große Frau aus. Ich erinnerte mich natürlich an sie; sie war am Silvesterabend auch in Merlotte's Bar gewesen. Meine Freundin Tara Thompson saß hinter dem Steuer.

Oh, dachte ich verständnislos und starrte in den Rückspiegel, na so was. Ich hatte Tara seit Wochen nicht gesehen, zuletzt in einem Club für Vampire in Jackson, Mississippi. Sie war mit einem Vampir namens Franklin Mott dort gewesen; er hatte sehr gut ausgesehen, so die Art gediegener älterer Herr, äußerst gewandt, gefährlich und kultiviert.

Tara, eine Freundin aus Schulzeiten, sah einfach immer großartig aus. Sie hatte schwarzes Haar, dunkle Augen und einen glatten olivfarbenen Teint und war noch dazu sehr klug, was sie zur erfolgreichen Besitzerin von Tara's Togs gemacht hat, einem Laden für hochklassige Damenbekleidung in einem Einkaufszentrum, das Bill gehört. (Na ja, so hochklassig, wie das in Bon Temps eben möglich ist.) Tara und ich hatten uns vor Jahren angefreundet, weil sie aus familiären Verhältnissen kam, die noch trauriger waren als meine.

Doch die hochgewachsene Frau neben ihr stellte selbst Tara in den Schatten. Sie hatte ebenso dunkles Haar wie meine Freundin, in ihrem glänzten allerdings rötliche Strähnchen, die ein echter Hingucker waren. Ihre Augen waren dunkel und sehr groß und mandelförmig, fast unnatürlich groß. Ihre Haut schimmerte weiß wie Milch und ihre Beine waren so lang wie eine Leiter. Zudem war sie mit herrlichen Brüsten gesegnet, und sie trug von Kopf bis Fuß die Farbe Feuerwehrrot. Ihr Lippenstift war natürlich darauf abgestimmt.

»Sookie«, rief Tara. »Was ist denn los?« Vorsichtig ging sie auf mein altes Auto zu, den Blick auf die Füße gerichtet, weil ihre glänzenden braunen, hochhackigen Lederstiefel keine Schramme abbekommen sollten. Die wären höchstens fünf Minuten an meinen Füßen geblieben. Herrje, ich verbringe einfach zu viel Zeit auf den Beinen, um mir Gedanken über hübsche, aber unpraktische Schuhe zu machen.

Tara sah erfolgreich, attraktiv und selbstbewusst aus in ihrem graugrünen Pullover und der graubraunen Hose. »Ich habe im Polizeifunk gehört, dass irgendwas bei Jasons Haus los ist«, sagte sie. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, beugte sich herüber und nahm mich in den Arm. »Und als ich bei Jason ankam, sah ich dich wegfahren. Was ist los?« Die Frau in Rot stand mit dem Rücken zu meinem Auto und blickte taktvoll in den Wald.

Ich hatte meinen Vater geliebt, und ich hatte immer gewusst (und meine Mutter selbst war fest davon überzeugt gewesen), dass auch meine Mutter - was immer ich ihretwegen durchmachen musste - stets aus Liebe zu mir gehandelt hatte. Taras Eltern dagegen waren richtig schlechte Menschen gewesen, zwei Alkoholiker, die ihre Kinder misshandelt hatten. Taras ältere Schwestern und Brüder hatten ihr Zuhause so schnell wie möglich verlassen und es Tara als der Jüngsten überlassen, die Kosten ihrer Freiheit zu begleichen.

Und jetzt steckte ich in Schwierigkeiten, und schon war sie da und bot mir ihre Hilfe an.

»Tja, Jason ist verschwunden«, sagte ich in ziemlich ruhigem Tonfall, machte dann aber die Wirkung zunichte, indem ich einen dieser furchtbar erstickt klingenden Schluchzer ausstieß. Ich wandte das Gesicht ab. Es war mir peinlich, meinen Kummer vor dieser anderen Frau offen zu zeigen.

Klugerweise überging Tara meine Tränen und stellte mir die nahe liegenden Fragen: Hatte Jason seinen Chef angerufen? Hatte er mich gestern Abend angerufen? Mit welcher Frau war er zuletzt häufiger ausgegangen?

Das erinnerte mich an die Gestaltwandlerin, mit der Jason zu Silvester verabredet gewesen war. Ich könnte sogar von der Andersartigkeit dieser Frau erzählen, fand ich, denn Tara hatte an jenem Abend im Vampir-Club einiges mitbekommen. Und Taras hochgewachsene Begleiterin war ebenfalls irgendeine Art Supra. Tara wusste Bescheid über die geheime Welt.

Nein, wusste sie nicht, wie sich dann herausstellte.

Ihr Gedächtnis war gelöscht worden. Oder wenigstens tat sie so.

»Was?«, fragte Tara, fast übertrieben verwirrt. »Werwölfe? In diesem Nachtclub? Ich erinnere mich, dich dort gesehen zu haben. Aber sag mal, Schatz, hattest du nicht ein bisschen zu viel getrunken und bist schließlich umgekippt oder so was?«

Da ich nur sehr in Maßen trinke, ärgerte ich mich ziemlich über die Frage. Aber es war gut möglich, dass genau diese reichlich unspektakuläre Erklärung von Franklin Mott in Taras Kopf eingepflanzt worden war. Ich war so enttäuscht, weil ich mich ihr nicht anvertrauen konnte, dass ich die Augen schloss, um ihre verständnislose Miene nicht ansehen zu müssen. Einzelne Tränen zogen eine Spur meine Wangen hinunter. Ich hätte es einfach dabei belassen sollen, doch mit leiser, rauer Stimme sagte ich: »Nein, hatte ich nicht.«

»Ach herrje, hat dir dein Begleiter was in den Drink getan?« Aufrichtig entsetzt drückte Tara mir die Hand. »Etwa Rohypnol? Aber Alcide war doch so ein netter Typ!«

»Vergiss es«, sagte ich und versuchte, sanfter zu klingen. »Das hat doch eigentlich gar nichts mit Jason zu tun.«

Immer noch bekümmert drückte Tara mir erneut die Hand.

Und ganz plötzlich wurde mir klar, dass ich ihr kein Wort glaubte. Tara wusste, dass Vampire Erinnerungen streichen konnten, und sie tat so, als hätte Franklin Mott die ihren gelöscht. Sie erinnerte sich sehr gut an das, was im Club passiert war, tat aber, als wäre dem nicht so, um sich selbst zu schützen. Wenn sie das zu ihrem eigenen Schutz tun musste, okay. Ich holte tief Luft.

»Triffst du dich eigentlich noch mit Franklin?«, fragte ich, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.

»Er hat mir dieses Auto gekauft.«

Ich war ziemlich schockiert, eigentlich richtig entsetzt darüber, gehörte aber hoffentlich nicht zu denen, die auf andere mit dem Finger zeigen.

»Ein wunderbares Auto. Kennst du eigentlich irgendwelche Hexen?«, fragte ich und wechselte schnell wieder das Thema, damit Tara meine Vorbehalte nicht auffielen. Ich war überzeugt, sie würde mich auslachen, weil ich ihr eine solche Frage stellte. Aber es war eine gute Ablenkung. Nicht um alles in der Welt wollte ich sie verletzen.

Eine Hexe zu finden wäre eine enorme Hilfe. Ich war mir sicher, dass Jasons Entführung - und ich schwor mir selbst, dass es eine Entführung war und kein Mord - irgendwie mit Erics Verwünschung durch die Hexen zusammenhing. Das wären sonst einfach zu viele Zufälle auf einmal gewesen. Andererseits hatte ich in den letzten paar Monaten eine ganze Reihe von sehr vertrackten Zufällen erlebt. Na bitte, da hatte ich doch noch eine dritte zu bedenkende Seite gefunden.

»Natürlich«, sagte Tara und lächelte stolz. »Da kann ich dir helfen. Das heißt, wenn dir eine Wicca recht ist?«

Mich beherrschten so viele Gefühle gleichzeitig, dass ich nicht sicher war, ob mein Gesicht mit seinem Mienenspiel da hinterherkommen würde. Schock, Angst, Kummer und Sorge schwirrten wild durcheinander in meinem Hirn. Wenn dieser Wirbel sich wieder legte, würden wir ja sehen, was zuoberst lag.

»Du bist eine Hexe?«, fragte ich schwach.

»Meine Güte, nein. Ich bin katholisch. Aber ich bin mit ein paar Leuten befreundet, die zu den Wiccas gehören. Und einige von denen sind Hexen.«

»Oh, wirklich?« Das Wort Wicca hatte ich vorher noch nie gehört, glaube ich, höchstens vielleicht mal in einem Roman gelesen. »Tut mir leid, aber ich weiß nicht, was das bedeutet«, gab ich kleinlaut zu.

»Das kann Holly dir besser erklären als ich«, sagte Tara.

»Holly? Die Holly, mit der ich zusammenarbeite?«

»Genau. Oder du gehst zu Danielle, obwohl sie bestimmt nicht so bereitwillig darüber sprechen wird. Holly und Danielle gehören demselben Zirkel an.«

Mittlerweile war ich so schockiert, dass ich auch gleich ganz die Fassung verlieren konnte. »Zirkel«, wiederholte ich.

»Ja, eine Gruppe von Leuten, die gemeinsam einen heidnischen Kult zelebrieren.«

»Sind alle in diesen Zirkeln Hexen?«

»Ich glaube nicht - aber sie dürfen, nun ja, eben keine Christen sein. Wicca ist eine Religion.«

»Okay«, sagte ich. »Okay. Und du meinst, Holly würde mit mir darüber reden?«

»Warum nicht?« Tara ging zurück zu ihrem Auto, um ihr Handy zu holen, und schlenderte zwischen unseren beiden Wagen hin und her, während sie mit Holly telefonierte. Ich war ziemlich dankbar über diese kleine Verschnaufpause, die mir erlaubte, mental wieder auf die Beine zu kommen, wenn ich das mal so sagen darf. Und um höflich zu sein, stieg ich aus meinem Auto aus und sprach die Frau in Rot an, die sehr viel Geduld bewiesen hatte.

»Tut mir leid, dass wir uns an einem so schlimmen Tag kennen lernen«, sagte ich. »Ich bin Sookie Stackhouse.«

»Ich bin Claudine«, erwiderte sie mit einem wunderschönen Lächeln. Ihre Zähne waren schneeweiß wie die eines Hollywoodstars. Ihre Haut war von seltsamer Beschaffenheit; leicht glänzend und zart, erinnerte sie mich an die Haut einer Pflaume; so als würde süßer Saft hervorquellen, wenn jemand hineinbiss. »Ich bin wegen all der Aktivitäten hier.«

»Oh?«, machte ich verblüfft.

»Ja, ihr habt Vampire, Werwölfe und alle möglichen anderen Geschöpfe hier in Bon Temps - gar nicht zu reden von einigen machtvollen Wegkreuzungen. Das finde ich alles höchst faszinierend.«

»Aha, hm«, sagte ich unbestimmt. »Und haben Sie vor, das alles nur zu beobachten?«

»O nein. Die reine Beobachtung ist nicht mein Ding.« Sie lachte. »Du bist selbst recht faszinierend, wie?«

»Holly weiß Bescheid«, sagte Tara, klappte ihr Handy zu und lächelte, denn in Claudines Gegenwart fiel es regelrecht schwer, das nicht zu tun. Ich bemerkte, dass auch ich übers ganze Gesicht lächelte, und das war nicht mein übliches angespanntes Grinsen, sondern ein Ausdruck heiteren Glücks. »Sie sagt, du sollst bei ihr vorbeischauen.«

»Kommt ihr mit?« Ich wusste nicht, was ich von Taras Begleiterin halten sollte.

»Tut mir leid, Claudine hilft mir heute im Laden«, sagte Tara. »Wir machen einen Sonderverkauf der alten Kollektion zu Neujahr, und die Leute kaufen ein wie wild. Soll ich etwas für dich zurücklegen? Ich habe noch ein paar richtig schicke Partykleider. War das, das du in Jackson getragen hast, nicht kaputtgegangen?«

Allerdings, schließlich hatte mir ein Fanatiker einen Pfahl in den Oberkörper getrieben. Darunter hatte das Kleid unweigerlich gelitten. »Es sind Flecken drauf«, sagte ich mit größter Beherrschung. »Das ist wirklich nett von dir, aber ich werde wohl kaum die Zeit finden, etwas anzuprobieren. Wegen Jason und all dem.« Und außerdem habe ich herzlich wenig Geld übrig für so was, sagte ich mir selbst.

»Klar«, sagte Tara. Sie nahm mich noch mal in den Arm. »Ruf mich an, wenn du mich brauchst, Sookie. Ist schon komisch, dass ich mich nicht besser an den Abend in Jackson erinnere. Vielleicht hatte ich auch zu viel getrunken. Haben wir getanzt?«

»Oh, ja, du hast mich überredet, diese Nummer zu tanzen, die wir für die Talentshow in der Schule eingeübt hatten.«

»O Gott, nein!«

»Ich fürchte, doch.« Ich wusste verdammt gut, dass sie sich daran erinnerte.

»Wenn ich bloß auch da gewesen wäre«, sagte Claudine. »Ich tanze so gern.«

»Also, diesen Abend im Vampir-Club hätte ich liebend gern verpasst«, erwiderte ich.

»Ich kann nie wieder nach Jackson fahren, wenn ich dort diesen Tanz öffentlich vorgeführt habe«, sagte Tara.

»Am besten fährt keine von uns noch mal nach Jackson.« Ich hatte in Jackson einige sehr wütende Vampire zurückgelassen, die Werwölfe waren allerdings noch zorniger. Nicht, dass viele von ihnen übrig geblieben waren. Aber immerhin.

Tara zögerte einen Augenblick, offensichtlich suchte sie nach den richtigen Worten. »Bill gehört doch das Gebäude, in dem Tara's Togs ist«, begann sie vorsichtig, »daher habe ich eine Telefonnummer, unter der er im Ausland zu erreichen ist. Wenn du ihn also irgendwas wissen lassen möchtest ... ?«

»Danke«, sagte ich, ganz und gar nicht sicher, ob ich dankbar war. »Er hat mir auch eine Nummer hinterlassen.« Eine Art von Endgültigkeit umgab Bills Aufenthalt im Ausland, die ihn unerreichbar erscheinen ließ. Ich hatte nicht mal daran gedacht, wegen meiner Zwangslage Kontakt zu ihm aufzunehmen; ich war so viele Leute durchgegangen und hatte darüber nachgedacht, ob ich sie anrufen sollte, doch sein Name war mir nicht ein einziges Mal eingefallen.

»Es ist nur so, dass er ziemlich, tja, weißt du, niedergeschlagen wirkte.« Tara begutachtete die Spitzen ihrer Stiefel. »Melancholisch«, sagte sie, als freute sie sich, ein Wort benutzen zu können, das nicht oft über ihre Lippen kam. Claudine verströmte freudige Zustimmung. Was für eine merkwürdige Person. Ihre großen Augen leuchteten, während sie mir die Schulter tätschelte.

Ich schluckte schwer. »Tja, ein echter Mr Smiley war er ja nie«, erwiderte ich. »Ich vermisse ihn. Aber ...« Nachdrücklich schüttelte ich den Kopf. »Es war einfach zu schlimm. Er hat mich ... zu sehr verletzt. Aber ich danke dir. Auch dafür, dass du mir das mit Holly erzählt hast.«

Tara strahlte im wohlverdienten Gefühl, für diesen Tag ihre gute Tat vollbracht zu haben, und ging zurück zu ihrem nagelneuen Camaro. Auch Claudine faltete ihren langen Körper wieder auf dem Beifahrersitz zusammen und winkte mir zu, als Tara losfuhr. Ich überlegte, wo Holly Cleary wohnte. Dann erinnerte ich mich, wie sie mal über den winzigen Einbauschrank in ihrem Apartment geklagt hatte - und das konnte nur eins bedeuten: Kingfisher Arms.

Als ich die U-förmig gebaute Wohnanlage am südlichen Ende von Bon Temps erreicht hatte, suchte ich die Briefkästen ab, um Hollys Apartmentnummer herauszubekommen. Sie wohnte im Erdgeschoss, in Nummer 4. Holly hatte einen fünfjährigen Sohn, Cody. Wie ihre beste Freundin Danielle Gray hatte auch Holly gleich nach dem Highschool-Abschluss geheiratet, und keine fünf Jahre später waren beide bereits wieder geschieden gewesen. Danielles Mutter war ihrer Tochter eine große Hilfe, doch so viel Glück hatte Holly nicht gehabt. Ihre schon lange geschiedenen Eltern waren beide weggezogen und ihre Großmutter war auf der Alzheimer-Station des Pflegeheims von Renard gestorben. Ein paar Monate lang hatte sich Holly mit Detective Andy Bellefleur getroffen, aber irgendwie wurde nichts daraus. Man munkelte, dass die alte Caroline Bellefleur, Andys Großmutter, der Ansicht war, Holly sei nicht gut genug für ihren Andy. Ich hatte dazu keine Meinung. Weder Holly noch Andy standen auf der Liste meiner besten Freunde, obwohl ich für Andy eindeutig weniger übrig hatte.

Als Holly die Tür aufmachte, erkannte ich ganz plötzlich, wie sehr sie sich in den letzten paar Wochen verändert hatte. Jahrelang hatte sie ihr Haar goldgelb wie Löwenzahn gefärbt. Doch jetzt war es von einem stumpfen Schwarz und raspelkurz. In jedem Ohr hatte sie vier Piercings. Und ich sah, wie ihre Hüftknochen sich unter dem dünnen Denim ihrer alten Jeans abzeichneten.

»Hallo, Sookie«, sagte sie freundlich. »Tara bat mich, mit dir zu reden, aber ich war nicht sicher, ob du überhaupt auftauchen würdest. Das mit Jason tut mir leid. Komm doch herein.«

Das Apartment war klein, was sonst, und obwohl es erst kürzlich frisch gestrichen worden war, zeigte es deutliche Spuren jahrelangen Gebrauchs. Wir gingen in eine Wohnzimmer-Esszimmer-Küchen-Kombi mit einer Art Frühstückstheke, die den eigentlichen Küchenbereich vom Rest des Raums abtrennte. In einer Ecke stand ein Korb mit Spielsachen, und auf dem zerkratzten Tisch sah ich eine Putzmittelflasche, neben der ein Wischlappen lag. Holly war gerade dabei zu putzen.

»Tut mir leid, wenn ich störe«, sagte ich.

»Das macht nichts. Coke? Saft?«

»Nein, danke. Wo ist Cody?«

»Bei seinem Vater«, sagte sie und sah hinunter auf ihre Hände. »Ich hab' ihn einen Tag nach Weihnachten hingefahren.«

»Wo wohnt sein Vater denn?«

»David wohnt in Springhill. Er hat gerade wieder geheiratet. Seine neue Frau hat bereits zwei Kinder. Ihre kleine Tochter ist im Alter von Cody, und er spielt unheimlich gern mit ihr. Dauernd heißt es >Shelley dies< und >Shelley das<.« Holly wirkte ziemlich niedergeschlagen.

David Cleary entstammte einer riesengroßen Sippe. Sein Cousin Pharr war in meinem Schuljahrgang gewesen. Codys Genen zuliebe hoffte ich, dass David intelligenter war als Pharr, was wirklich nicht allzu schwer sein dürfte.

»Ich muss mit dir über etwas ziemlich Persönliches reden, Holly.«

Holly wirkte ganz überrascht. »Nun, so eng waren wir eigentlich nie befreundet, oder?«, sagte sie. »Aber frag ruhig, ich kann dann immer noch entscheiden, ob ich antworte.«

Ich versuchte in Worte zu fassen, was ich sagen wollte - und dabei geheim zu halten, was ich geheim halten musste, und trotzdem das Notwendige von ihr zu erfahren, ohne sie zu kränken.

»Du bist doch eine Hexe?«, fragte ich, verlegen, weil ich einen so theatralischen Ausdruck gebrauchte.

»Ich bin eher eine Wicca.«

»Würde es dir was ausmachen, mir den Unterschied zu erklären?« Einen kurzen Moment sah ich ihr in die Augen, dann beschloss ich, mich doch lieber auf den Trockenblumenstrauß auf dem Fernseher zu konzentrieren. Holly glaubte, ich könnte ihre Gedanken nur lesen, wenn ich ihr direkt in die Augen sah. (So wie körperliche Berührung vereinfacht Blickkontakt das Gedankenlesen zwar, ist aber keineswegs nötig.)

»Das kann ich schon tun.« Sie sprach sehr langsam, als würde sie sich jedes Wort genau überlegen. »Du bist ja keine, die herumtratscht.«

»Was immer du mir erzählst, werde ich an niemand weitergeben.« Noch einmal sah ich ihr in die Augen, nur ganz kurz.

»Okay«, sagte sie. »Also, wenn du eine Hexe bist, praktizierst du, natürlich, magische Rituale.«

Sie benutzte das »du« als so eine Art Verallgemeinerung, schien mir, »ich« zu sagen wäre wohl ein zu kühnes Eingeständnis gewesen.

»Du schöpfst von einer Macht, von der die meisten Leute niemals etwas ahnen. Eine Hexe sein heißt nicht böse sein, oder wenigstens ist es so nicht gedacht. Als Wicca gehörst du einer Religion an, einer heidnischen Religion. Wir folgen den Wegen der Mutter, und wir haben unseren eigenen Kalender heiliger Festtage. Du kannst beides sein, sowohl Wicca wie Hexe, oder mehr das eine oder auch mehr das andere. Das ist ziemlich individuell. Ich praktiziere ein wenig Hexenkunst, bin aber viel stärker am Wicca-Leben interessiert. Wir glauben daran, dass deine Handlungen okay sind, solange sie niemand anderen verletzen.«

Seltsam, mich überkam ein Gefühl größter Verlegenheit, als Holly mir erzählte, dass sie keine Christin war. Ich war noch nie jemandem begegnet, der nicht zumindest vorgab, Christ zu sein, oder wenigstens ein Lippenbekenntnis zu den grundsätzlichen christlichen Prinzipien abgab. Ich war ziemlich sicher, dass es in Shreveport eine Synagoge gab, doch ich hatte, soweit ich wusste, bislang noch nicht mal einen Juden gesehen. Hier konnte ich eindeutig noch etwas dazulernen.

»Verstehe. Kennst du viele Hexen?«

»Ein paar.« Holly nickte bestätigend, vermied jedoch weiterhin den Augenkontakt mit mir.

Auf einem klapprigen Tisch in einer Ecke entdeckte ich einen Computer. »Habt ihr so was wie einen Online-Chatroom oder ein Schwarzes Brett oder etwas Ähnliches?«

»Ja, klar.«

»Hast du was gehört über eine Gruppe von Hexen, die vor kurzem nach Shreveport gekommen sind?«

Hollys Gesicht nahm einen sehr ernsten Ausdruck an. Ihre geraden dunklen Augenbrauen zogen sich zu einem Stirnrunzeln zusammen. »Erzähl mir bloß nicht, dass du mit denen zu tun hast«, sagte sie.

»Nicht direkt. Aber ich kenne jemanden, der von ihnen verletzt wurde, und ich fürchte, sie könnten sich Jason geschnappt haben.«

»Dann steckt er in echten Schwierigkeiten«, sagte sie unverblümt. »Die Frau, die diese Gruppe anführt, ist durch und durch skrupellos. Und ihr Bruder ist genauso schlimm. Die sind nicht so wie wir anderen. Sie sind nicht auf der Suche nach einem besseren Leben oder nach einem Weg, um mit Naturkräften in Berührung zu kommen, oder nach Zaubersprüchen, die den inneren Frieden stärken. Sie sind böse.«

»Kannst du mir vielleicht irgendwelche Tipps geben, wo ich sie aufspüren könnte?« Ich tat mein Bestes, damit meine Gesichtszüge mir nicht entgleisten. Mit meinem anderen Sinn hörte ich, wie Holly dachte, sollte dieser Hexenzirkel Jason wirklich in seiner Gewalt haben, wäre der sicher böse zugerichtet, wenn nicht sogar schon tot.

Anscheinend tief in Gedanken versunken, sah Holly aus dem Fenster ihres Apartments, das auf die Straße hinausging. Sie hatte Angst, dass diese Leute jede Information, die sie mir gab, bis zu ihr zurückverfolgen und sie bestrafen würden - vielleicht durch Cody. Das waren keine Hexen, die aufgrund ihres Glaubens niemandem ein Leid antun wollten. Das waren Hexen, deren ganzes Leben darauf ausgerichtet war, jede Art von Macht an sich zu ziehen.

»Sind es eigentlich alles Frauen?«, fragte ich, weil sie kurz davor stand, mir überhaupt nichts zu erzählen.

»Wenn du hoffst, Jason könnte sie mit seiner charmanten Art und seinem guten Aussehen einwickeln, dann vergiss es gleich wieder«, erwiderte Holly. Ihr Gesichtsausdruck war grimmig. Sie wollte, dass ich verstand, wie gefährlich diese Leute waren. »Es gibt auch ein paar Männer unter ihnen. Sie sind ... das sind keine normalen Hexen. Ich meine, sie waren nicht mal normale Menschen

Ich war nur zu bereit, ihr das zu glauben. Schließlich hatte ich schon seltsamere Dinge glauben gelernt, seit Bill Compton eines Nachts in Merlotte's Bar aufgetaucht war.

Holly sprach, als wüsste sie weit mehr über diese Gruppe von Hexen, als ich je vermutet hätte... mehr als nur das allgemeine Hintergrundwissen, das ich von ihr zu erfahren hoffte. Ich bohrte ein bisschen nach. »Wieso sind sie denn so anders?«

»Sie haben Vampirblut getrunken.« Holly sah schnell zur Seite, als ob dort jemand stünde und ihr zuhörte. Bei dieser Bewegung überlief es mich kalt. »Hexen - Hexen mit sehr viel Macht, die sie bereitwillig für das Böse einsetzen - gnadenlos genug sind sie. So machtvolle Hexen, die Vampirblut getrunken haben, können ... Sookie, du hast keine Ahnung, wie gefährlich sie sind. Einige von ihnen sind Werwölfe. Bitte, halte dich fern von ihnen.«

Werwölfe? Sie waren nicht nur Hexen, sondern auch Werwölfe? Und sie tranken Vampirblut? Jetzt bekam ich richtig Angst. Etwas noch Schlimmeres konnte ich mir nicht vorstellen. »Wo sind sie?«

»Hast du mir nicht zugehört?«

»Doch, aber ich muss wissen, wo sie sind!«

»Sie sind in einem alten Geschäftshaus in der Nähe der Pierre-Bossier-Mall«, sagte sie, und ich konnte das Bild in ihrem Kopf sehen. Sie war bereits dort gewesen. Sie hatte sich mit ihnen getroffen. All das hatte sie in ihrem Kopf, und ich bekam eine ganze Menge davon mit.

»Warum bist du dort gewesen?«, fragte ich, und sie wich zurück.

»Wusste ich's doch, ich hab' mir gleich Sorgen gemacht wegen dieses Gesprächs mit dir«, sagte Holly verärgert. »Ich hätte dich gar nicht reinlassen sollen. Aber weil ich eine Zeit lang mit Jason ausgegangen bin ... Du bringst es dahin, dass sie mich umbringen, Sookie Stackhouse. Mich und meinen Jungen.«

»Nein, das tue ich nicht.«

»Ich war dort, weil ihre Anführerin an alle Hexen der Umgebung einen Aufruf ausgesandt hat, eine Art Gipfeltreffen abzuhalten. Es stellte sich jedoch heraus, dass sie eigentlich vorhatte, uns allen ihren Willen aufzuzwingen. Einige waren ziemlich beeindruckt von ihrer Persönlichkeit und ihrer Macht, aber die meisten von uns kleinstädtischen Wiccas lehnten ihren Drogenkonsum ab - denn darauf läuft das Trinken von Vampirblut hinaus - und auch ihre Vorliebe für die dunkle Seite der Hexenkunst. So, und das ist jetzt alles, was ich darüber sagen möchte.«

»Danke, Holly.« Ich überlegte, ob mir noch irgendetwas einfiel, das ich ihr sagen konnte, um ihr ihre Ängste zu nehmen. Aber mehr als alles auf der Welt wollte sie, dass ich endlich ging, und ich hatte ihr schon genug Ärger bereitet. Es war ein großes Zugeständnis gewesen, dass sie mich überhaupt zur Tür hereingelassen hatte, denn sie glaubte tatsächlich an meine Fähigkeit des Gedankenlesens. Ganz egal, welche Gerüchte sie hörten, die Menschen wollten zumeist doch lieber glauben, dass der Inhalt ihrer Köpfe Privatsache war, egal, welchen Gegenbeweis sie erhielten.

Das ging mir schließlich auch nicht anders.

Ich tätschelte leicht Hollys Schulter, als ich ging, aber sie stand nicht auf von dem alten Sofa. Hoffnungslos starrte sie mich mit ihren braunen Augen an, als könnte jeden Augenblick jemand durch die Tür hereinkommen und ihr den Kopf abschlagen.

Dieser Blick flößte mir mehr Furcht ein als all ihre Worte und Gedanken, und ich verließ Kingfisher Arms so schnell ich konnte - nicht ohne mir die Gesichter der Leute genau anzuschauen, die sahen, wie ich wegfuhr. Ich kannte keinen von ihnen.

Ich fragte mich, warum die Hexen in Shreveport ausgerechnet Jason haben wollten, wie sie einen Zusammenhang zwischen dem verschwundenen Eric und meinem Bruder hatten herstellen können. Und wie konnte ich mich ihnen nähern, um das herauszufinden? Würden Pam und Chow mir helfen, oder hatten sie bereits eigene Schritte unternommen?

Und wessen Blut hatten die Hexen getrunken?

Seit die Vampire die Welt vor nunmehr fast drei Jahren von ihrer Existenz unterrichtet hatten, waren sie auf ganz neue Art zur Beute geworden. Anstatt sich Sorgen zu machen, dass Möchtegern-Van-Helsings ihnen einen Pfahl durchs Herz trieben, fürchteten sich die Vampire vor modernen Händlertypen, die man Ausbluter nannte. Ausbluter reisten in Teams umher, überfielen mit einer Vielzahl von Methoden Vampire (meistens durch einen sorgfältig ausgetüftelten Hinterhalt), fesselten sie mit silbernen Ketten und zapften ihr Blut in Phiolen ab. Abhängig vom Alter eines Vampirs brachte eine Phiole Vampirblut auf dem Schwarzmarkt zwischen 200 und 400 Dollar ein. Und welche Wirkung hatte es, dieses Blut zu trinken? Das blieb ziemlich unberechenbar, wenn das Blut erst mal aus dem Vampir heraus war. Ich schätze, gerade darin bestand ein Großteil der Attraktion. Meistens erwarb der Bluttrinker für ein paar Wochen körperliche Stärke, geschärftes Sehvermögen, gute Gesundheit und erhöhte Attraktivität. Es hing alles vom Alter des angezapften Vampirs und der Frische des Bluts ab.

Und natürlich verblasste die Wirkung bald, sofern man nicht wieder Blut trank.

Ein gewisser Prozentsatz der Leute, die bereits Vampirblut getrunken hatten, konnte für den Nachschub kaum schnell genug Geld zusammenkratzen. Diese Blutjunkies waren extrem gefährlich. Großstädtische Polizeibehörden waren jedenfalls froh, dass sie Vampire anstellen konnten, um mit ihnen fertig zu werden, denn normale Polizisten wären von ihnen einfach zu Brei geschlagen worden.

Hin und wieder verfiel ein Bluttrinker auch einfach dem Wahnsinn - manchmal auf ganz ruhige und harmlos plappernde Weise, aber manchmal auch spektakulär und mörderisch. Es war unmöglich vorauszusagen, wen es wie treffen würde, und es konnte schon nach der ersten Blutphiole passieren.

Es gab Männer in Gummizellen, in deren Augen der Wahnsinn glitzerte, und es gab hinreißende Filmstars, die ihre Anziehungskraft ebenfalls den Ausblutern verdankten. Das Blutzapfen war natürlich ein höchst riskanter Job. Manchmal gelang es dem Vampir, sich zu befreien, mit sehr vorhersehbarem Resultat. Ein Gericht in Florida hatte diesen Vampir-Vergeltungsschlag in einem berühmten Fall als Totschlag in Notwehr eingestuft, weil die Ausbluter ihre Opfer bekanntlich einfach dem Tod überließen. Sie ließen einen völlig blutleeren Vampir, der sich vor Schwäche nicht mehr rühren konnte, einfach dort liegen, wohin er zufällig gefallen war. Der geschwächte Vampir starb, wenn die Sonne aufging, falls er nicht das Glück hatte, in den Stunden der Dunkelheit gefunden und in Sicherheit gebracht zu werden. Es dauerte Jahre, sich von so einer Ausblutung zu erholen, und zwar Jahre der Hilfe anderer Vampire. Bill hatte mir erzählt, dass es Zufluchtsstätten für ausgeblutete Vampire gab und dass ihre Standorte streng geheim gehalten wurden.

Hexen mit nahezu der körperlichen Stärke von Vampiren - das schien eine höchst gefährliche Kombination. Ich sah immer noch nur Frauen vor mir, wenn ich über den Hexenzirkel nachdachte, der nach Shreveport gekommen war, und immer wieder korrigierte ich mich. Holly hatte gesagt, in der Gruppe gäbe es auch Männer.

Ich blickte auf die Uhr am Bankgebäude und sah, dass es kurz nach Mittag war. Ein paar Minuten vor sechs würde es vollständig dunkel sein; dann würde Eric aufstehen. Ich konnte ohne weiteres nach Shreveport fahren und bis dahin wieder zurück sein. Etwas anderes fiel mir nicht ein, einfach zu Hause herumsitzen und warten konnte ich nicht. Selbst Benzin zu vergeuden war besser. Ich hätte mir die Zeit nehmen und die Schrotflinte zu Hause deponieren können. Aber solange sie nicht geladen war und die Patronen woanders untergebracht waren, war es wohl legal, damit herumzufahren.

Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich in den Rückspiegel, um zu prüfen, ob mir jemand folgte. Ich bin mit Spionagetechniken nicht sonderlich vertraut, und wenn mir einer folgte, so bemerkte ich ihn nicht. Also hielt ich an und tankte, nur um zu sehen, ob hinter mir noch jemand in die Tankstelle hineinfuhr. Niemand. Das war doch richtig gut, dachte ich und hoffte, dass auch Holly nicht in Gefahr war.

Während ich fuhr, hatte ich Zeit, mein Gespräch mit Holly noch einmal Revue passieren zu lassen. Mir fiel auf, dass es mein erstes Gespräch mit ihr gewesen war, in dem kein einziges Mal Danielles Name fiel. Seit der Grundschule waren Holly und Danielle so etwas wie siamesische Zwillinge gewesen. Sie hatten wahrscheinlich sogar immer zur gleichen Zeit ihre Periode gehabt. Danielles Eltern, Gründungsmitglieder der Freien Kirche der Auserwählten Gottes, würden einen Anfall kriegen, wenn sie von Hollys Aktivitäten wüssten. Kein Wunder also, dass Holly so diskret gewesen war.

Unsere kleine Stadt Bon Temps hatte inzwischen ihre Tore weit genug geöffnet, um Vampire zu tolerieren, und auch Schwule und Lesben hatten die harten Zeiten längst hinter sich (wenn es auch immer noch abhängig davon war, wie sie ihre sexuellen Vorlieben zum Ausdruck brachten). Doch den Wiccas würden die Tore wohl vor der Nase zugeknallt, fürchtete ich.

Die seltsame und schöne Claudine hatte mir erzählt, dass sie Bon Temps gerade aufgrund der vielen Merkwürdigkeiten so faszinierend fand. Ich fragte mich, was da draußen wohl sonst noch sein mochte und nur darauf wartete, sich zu erkennen zu geben.