16.

Zu Lieutenant Minulescu hatte ich gesagt: Wir schaffen's. Alles sprach dagegen. Alles sprach dafür, daß wir es nicht schaffen würden. Bereits nach zwei, drei Minuten wußte ich Bescheid. Es war in der Tat unmöglich. Es war fast unmöglich.

Ein Siebenkilometermarsch auf der Erde ist eine Sache. Ein Siebenkilometermarsch auf dem Phoebe ist eine völlig andere Sache.

Daß man dabei behindert wird durch die klobige Ausrüstung, die auf fröhliches Wandern nun einmal nicht zugeschnitten ist, kann man mit einem Achselzucken abtun. Von allen Übeln ist das das kleinste.

Eines von den ins Gewicht fallenden Übeln, mit denen wir zu kämpfen hatten, hing mit der Orientierung zusammen. Auf dem Hinweg waren wir einer unsichtbaren Standlinie gefolgt, ohne zu jenen zeitraubenden, beschwerlichen und verwirrenden Umwegen genötigt zu sein, zu denen uns die Bodenbeschaffenheit nun immer wieder zwang – Umwege, die uns kreuz und quer durch ein chaotisches Labyrinth aus unbezwingbaren Felsen und gähnenden Kraterschlünden führte. Wir konnten lediglich versuchen, die Generalrichtung zu halten, ohne zu wissen, nach welcher Seite wir drifteten: zwei einsame, vertriebene Schiffe auf einem unbekannten Meer.

Dazu kam die Schwierigkeit, das verminderte Körpergewicht mit den ausgeführten Bewegungen in Einklang zu bringen. Man mußte bei den Känguruh-Sprüngen höllisch aufpassen, wohin man die Füße setzte. Solange man Schutt und Geröll unter den Füßen hatte, war das Gehen noch einigermaßen erträglich. Zur Qual wurde es, wenn man bis an die Knie im zähen Staub versank.

Eine wertvolle Hilfe wäre es gewesen, wenn uns die Explorator mittels eines Peilstrahles die exakte Richtung gewiesen hätte. Infolge der starken Oberflächenkrümmung, bedingt durch die Kleinheit des Phoebe, waren unsere UKWSender jedoch praktisch lahmgelegt. Die Verbindung ließ sich nicht herstellen. Wir waren und blieben völlig auf uns allein gestellt.

Es war eine bittere Tatsache: Auf dem heimtückischen Gelände eines fremden Himmelskörpers, unter gravitatorischen Bedingungen, die den Organismus aufs höchste beanspruchten, in pechschwarzer Dunkelheit und in unbarmherziger Kälte, die sich, je schwächer unsere Batteriesätze wurden, mehr und mehr an die Haut heranfraß, waren Lieutenant Minulescu und ich genötigt, unsere Marschrichtung mit Mitteln zu bestimmen, die allenfalls für das Geländespiel einer Pfadfindergruppe genügen mochten.

Und um die Zahl der Übel vollzumachen, saß uns die Zeitnot im Nacken: die elende Sorge, zu spät zu kommen und keine Gelegenheit mehr zu haben, mittels des unter Opfern und Strapazen beschafften Moduls die Probe aufs Exempel machen zu können.

Irgendwann blieb Lieutenant Minulescu stehen.

»Sir, es hat doch keinen Sinn!«

Ich trieb ihn an.

»Weiter, weiter! Nicht anhalten! In Bewegung bleiben!« Die Temperatur in unseren Kombinationen sank langsam, aber sicher ab und näherte sich dem Nullpunkt, so daß jedes Verweilen mit Frieren und Zähneklappern bezahlt werden mußte. Der Augenblick war in Sicht, an dem der durchfrorene Organismus mit Mutlosigkeit und Apathie reagieren würde und diesen Augenblick galt es hinauszuschieben. Solange der Körper und mit ihm der Blutkreislauf in Bewegung war, ließ sich die Kälte einigermaßen ertragen. Ein frischer Batteriesatz für die Kombinationen lag zwischen den Trümmern des Dingis. Ihn daraus hervorzuklauben, ohne geeignetes Werkzeug wie Schneidbrenner und Brechstange, hatte sich als unmöglich erwiesen.

Die Regel, daß ein Unglück selten allein kommt: auf dieser Reise lernte ich sie kennen. Und dieser Marsch über den Phoebe war dahinter der Schlußpunkt.

Meinem Gefühl nach mußte die Explorator längst in Sicht sein – aber so sehr ich auch Ausschau hielt: Nirgendwo in der phoebischen Nacht, die vor uns herwanderte, war das Glimmen einer Topplaterne auszumachen. Ich begann, den Überblick zu verlieren. Es war nicht länger auszuschließen, daß wir in die falsche Richtung gingen.

»Explorator – bitte melden!«

Die Antwort blieb aus. In den Kopfhörern des Helmes war nur das gleichgültige Knistern der Sterne zu hören – vor dem monotonen Rauschen der Unendlichkeit.

Als ich den Kopf wandte, stellte ich fest, daß Lieutenant Minulescu nicht mehr an meiner Seite war.

»Lieutenant Minulescu!«

Er antwortete ebensowenig wie die Explorator. Ich blieb stehen und leuchtete den Grund ab. Seine Spuren fehlten. Ich fand ihn erst, nachdem ich zwanzig oder dreißig Meter in meinen eigenen Fußstapfen zurückgegangen war. Ich sah auch, weshalb er nicht antwortete.

Ein getarnter Krater war ihm zum Verhängnis geworden. Die verkrustete Sandschicht hatte nachgegeben – und darunter lauerte, zäher und saugender als jedes Moor, ein Abgrund aus Staub. Bei dem Versuch, sich zu befreien, mußte er sich unglücklich gedreht haben. Der Oberkörper war bereits im Staub versunken; nur seine Beine ragten noch heraus. Zwei, drei Sekunden später – und von Lieutenant Minulescu wäre nicht mehr zu sehen gewesen.

Ich tastete mich an den Abgrund heran und zerrte den LI auf festen Grund zurück. Er war ohne Bewußtsein. Ich brachte seinen verhedderten Luftschlauch in Ordnung, so daß die Luft wieder zu strömen begann. Lieutenant Minulescu schlug die Augen auf.

»Was ist passiert, Sir?«

»Sie haben ein Trockenbad genommen, Lieutenant«, antwortete ich. »Nur hatten Sie dabei die Schwimmweste vergessen.«

Er atmete tief durch.

»Sie hätten mich sterben lassen sollen, Sir. Dann hätte ich es jetzt wenigstens hinter mir.«

Ich zerrte ihn in die Höhe.

»Sie werden noch benötigt, Lieutenant! Vorwärts! Halten Sie sich an mir fest!«

Er gehorchte und legte seinen linken Arm um meine Schulter.

Nach diesem Zwischenfall schleppten wir uns noch eine Weile weiter, bis ich nicht mehr konnte. Das Verlangen aufzugeben wehte mich an. Ich hatte mir, falls ich mich einfach meiner Erschöpfung überließ, nichts vorzuwerfen. Was menschenmöglich war, hatte ich versucht. Ich war bis in die Knochen durchfroren. Mit jedem Schritt, den ich mir abrang, wurde das Bedürfnis größer, sich sinken zu lassen und die Augen zu schließen. Irgendwann würde dann alles vorbei sein: friedvoll und ohne Schmerz.

Lieutenant Minulescu kam mir zuvor. Sein Arm rutschte von meiner Schulter; dann kippte er lautlos um und blieb liegen.

Ich blieb neben ihm stehen. Ich schwankte. Es war mir klar, daß ich ihn nicht wieder aufrichten konnte: nicht, wenn er selbst das nicht wollte.

Im Kopfhörer war eine Stimme zu hören – eine Stimme, die mir irgendwie bekannt und vertraut vorkam.

»Dingi – Explorator! Kommen!«

Es war die Stimme von Lieutenant Bokwe.

Jenseits einer nachtschwarzen Felsbarriere leuchtete ein Cockpit im schrägen, kristallklaren Licht eines frühen Phoebe-Morgens.