2.

In Metropolis, der Hauptstadt der zur EAAU vereinigten drei Kontinente, gab es die besten Krankenhäuser und die besten Ärzte der Welt. Ein Leben lang hatte ich mit dieser beruhigenden Gewißheit gelebt, und mehr als einmal hatte ich mitangesehen, wie ärztliches Wissen und ärztliche Kunst verstümmelte, verbrannte, halbtote Kameraden wieder in lebensfrohe Menschen verwandelte. Diesmal jedoch, schien mir, war alles anders. 

Wortkarge Ärzte kamen und gingen, geschäftige Krankenschwestern eilten stumm und mit ausdruckslosen Mienen an mir vorüber. Ich saß mit wieder eingerenkter Schulter auf einer unbequemen Bank gegenüber dem OP, lutschte die Halstabletten, die man mir gegeben hatte, und wartete.

»Sie sind ein Glückspilz, Commander«, hatte einer der Ärzte zu mir gesagt. »Andere Leute fallen vom Stuhl und brechen sich das Genick – und Sie fallen vom Himmel, und alles, was sie davontragen, ist eine dicke Schulter.«

Niemand sagte es mir, aber ich wußte es auch so: Ruth hatte weniger Glück gehabt.

Es war nicht wichtig, daß der Fall klar lag – oder doch nur für die Bürokraten, die über den Unfall zu Gericht sitzen würden. Wichtig war der Umstand, für mich wichtig, daß ich am Steuer gesessen hatte, als es passierte. Vielleicht, wenn ich weniger an den bevorstehenden Urlaub gedacht hätte, vielleicht, wenn ich mich weniger blindlings auf die Freigabe durch den Tower verlassen hätte, vielleicht, wenn ich dem scheinbar leeren seidenblauen Himmel mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte …

Eine ältere Krankenschwester tippte mich an.

»Kommen Sie, Commander. Hier sind Sie uns doch nur im Weg. Im Aufenthaltsraum sind Sie besser aufgehoben. Sobald es etwas Neues gibt, wird man Sie unterrichten.«

Im Aufenthaltsraum gab es einen großen Strauß künstlicher Blumen und einen Fernseher, den jemand eingeschaltet und danach nicht wieder abgestellt hatte. Stella-TV sendete gerade die neusten Nachrichten.

Umbildungen in der Regierung.

Vulkankatastrophe auf Island.

Eine neue militante Sekte in Afrika.

Die Regionalnachrichten aus Metropolis schlossen sich an. Ich starrte auf die schwelenden Trümmer meiner Diana. Die nächste Einstellung zeigte den gelben Sampan auf dem Rampengelände.

Eine weibliche Stimme kommentierte: »… obwohl es mittlerweile feststeht, daß sich an Bord des an der Kollision beteiligten Sampans eine mehrköpfige VOR-Delegation befunden hat, ist das Auswärtige Amt angeblich nicht in der Lage, hierzu eine Erklärung abzugeben.«

Ein neuer kurzer Filmstreifen zeigte den Botschafter der VOR, wie er auf dem VEGA-Flugdeck eilig aus seinem schwarzen Diplomatenhelikopter kletterte und, ohne nach rechts oder links zu blicken, im Aufzug verschwand.

Die weibliche Stimme kommentierte: »Inzwischen ist auch der Botschafter der Vereinigten Orientalischen Republiken, Sen Sung Yang, auf dem Gelände der VEGA eingetroffen – ein Umstand, der dazu beiträgt, die Vermutung zu erhärten, daß die überraschende Anreise der asiatischen Abordnung im Zusammenhang steht mit einem möglichen Bergungsunternehmen für einen in Schwierigkeiten befindlichen Kosmokreuzer der Peking-Klasse. Als autonome Gesellschaft wäre die VEGA theoretisch imstande, eine humanitäre Expedition unabhängig von der Regierung der EAAU in die Wege zu leiten.«

Die Kamera zielte auf die vier goldenen Lettern neben dem Hauptportal – auf diese weltweit bekannte Abkürzung für Venus-Erde, Gesellschaft für Astronautik.

»Wir hoffen, Ihnen, meine Damen und Herren, schon in der nächsten Ausgabe unserer Tageschronik nähere Angaben über dieses nicht ganz alltägliche Ereignis machen zu können, das so dramatisch begonnen hat.«

Noch einmal waren die stummen Zeugen der Katastrophe zu sehen: die verkohlten Trümmer des Schuppens und das rußgeschwärzte, noch immer rauchende Skelett der Diana.

»Mark, du kannst nichts dafür!«

Ich sah mich um. Mike Berger vom Tower war eingetreten.

»Die Leute von der Ambulanz haben mir gesagt, wo du steckst. Wie geht es Ruth?«

Ich hob die Schultern.

»Die Ärzte tun, was sie können.«

»Das klingt nicht gerade, als ob du Vertrauen zu ihnen hättest. Hier, nimm erst einmal das.«

Berger zog eine flache Nickelflasche aus der Tasche, schraubte sie auf und hielt sie mir hin.

»Ein kräftiger Schluck, Mark, und die Welt sieht gleich viel rosiger aus.«

Er meinte es gut, aber ich lehnte ab.

»Danke, Mike. Mir ist nicht danach. Später vielleicht …«

Berger stellte die Flasche auf den Tisch.

»Herrgott, Mark – wenn einer Schuld hat an dem Unfall, dann einzig und allein dieser verdammte Schlitten, der nicht warten wollte, bis ich ihn vom Himmel pfiff. Ich traute meinen Augen nicht, als der Sampan da plötzlich zur Landung ansetzte. Ich glaube, er hat dich ebensowenig gesehen wie du ihn. Und dann hat der Bursche auch noch mehr Glück als Verstand – setzt auf wie bei einer Bilderbuchlandung!«

Berger war eigens gekommen, um mir meinen moralischen Freispruch zu übermitteln. Er hatte den Dienst im Tower hingeknallt und war hierher zur Klinik herausgerast, weil dies ein Augenblick sein mochte, an dem ich seine Freundschaft benötigte. Und nun stand er vor mir, groß, zottig und ungeschlacht wie ein Bernhardiner, und tat sein Bestes, um mich seelisch aufzurichten.

»Und die Leute an Bord des Sampans, Mike?«

»Nicht einen Kratzer. Alles Schlitzaugen übrigens, auch Frauen. Hat angeblich was mit der Han Wu Ti zu tun, die sich festgeflogen hat und jetzt das fünfte Rad am Großen Wagen macht.«

Die Han Wu Ti, das modernste Passagierschiff der VOR im astralen Verkehr, war mir dem Namen nach ein Begriff. Davon, daß sie sich in Schwierigkeiten befand, hörte ich an diesem Tag zum ersten Mal.

Berger ließ das Thema bereits wieder fallen. Er war in Fahrt.

»Mark, wenn ich du wäre – ich würde dieses Miststück von Sampan-Piloten einmal mit allen einschlägigen Paragraphen ganz mächtig in den Hintern treten. Im Augenblick wird er von unseren Sicherheitsleuten verhört – aber bei den paar Brocken Metro, die er kauderwelscht, ist das ein echtes Problem.«

Ich sprach keine leere Drohung aus: »Wenn Ruth stirbt, Mike, drehe ich ihm eigenhändig den Hals um.«

Berger nickte.

»Ich glaube, das wäre dein gutes Recht, Mark. Und, verdammt, unsere Sicherheitsleute würden wie ein Mann in die andere Richtung blicken.« Berger sah auf die Uhr. »Also, ich habe meinen Senf jedenfalls schon zu Protokoll gegeben. Du bist entlastet, müßtest aber noch gehört werden.«

»Jetzt gleich?«

»Laß dir Zeit. Das war's, was ich dir sagen wollte, Mark. Ich muß zurück. Soll ich Harris was ausrichten?«

John Harris, der Direktor der VEGA, war mir seit langem mehr als nur ein Vorgesetzter. Er war der väterliche Freund, an den ich mich in allen Lebenslagen wenden konnte. Im Augenblick freilich vermochte auch er mir nicht zu helfen.

»Nichts.«

»Vorhin hat er gerade mit Busch konferiert – Commander Busch. Da ist was im Gange, kann ich dir sagen, Mark, ein Affenaufstand wegen dieser Han Wu Ti. Na, wenn es nach mir ginge …« 

Es gelang mir zu lächeln.

»… dann würdest du diese ganze Gesellschaft dorthin schicken, wo der Pfeffer wächst.«

»Noch weiter, Mark. Aber was kann ich schon tun? Harris ist der Boß.« Berger hob die Schultern. »Und was Ruth angeht – du weißt, daß ich ihr die Daumen drücke.«

Berger schüttelte mir die Hand und trollte sich. Die Nickelflasche ließ er zurück.

Der Unfall hatte ihn aufgebracht. Man durfte seine Worte nicht auf die Goldwaage legen. In Wirklichkeit war er eine Seele von Mensch. Sein Groll gegen die VORs war nicht von Dauer. Im Augenblick benutzte er ihn, um mich seine Anteilnahme spüren zu lassen. Sein spontaner Besuch war ein Lichtblick. Das Fernsehen lief noch. Das Stella-TV-Ballett tanzte zu den Klängen einer modernen Musik, die sich nach Reibeisen und Nebelhörnern anhörte. Ich schaltete das Gerät ab und versank erneut ins Grübeln. Die Flasche rührte ich nicht an. Mein Kummer war keiner von der Sorte, die sich hinwegspülen läßt.

Es war am späten Nachmittag, als endlich einer der Ärzte eintrat. Ich sah sein erschöpftes Lächeln, und ein Stein fiel mir vom Herzen, noch bevor der Arzt sagen konnte: »Gute Nachricht, Commander. Ihre Frau ist über den Berg.«

»Kann ich zu ihr?«

Der Arzt bewegte in müder Abwehr die Hand.

»Später. Gönnen Sie ihr ein wenig Ruhe. Ich würde sagen – wenn Sie noch etwas zu erledigen haben, tun Sie das jetzt. Und dann, gegen Abend …« 

Die Stimme eines Engels sprach zu mir. Ruth war außer Gefahr.

Ich stürzte zum nächsten Visiofon, rief die Flugbereitschaft der VEGA an und ließ mir einen Helikopter kommen.