Öffentlicher Verkehr

Das ist schon der zweite verregnete Tag, seit ich Tamaras Wohnung in Köln hüte. Ich habe mir ein Tagesticket für die Straßenbahn gekauft und fahre einfach so durch die Stadt. So kommt man in Kölner Viertel, die man sonst nie sähe.

Neumarkt. Das ist der mit dem umgedrehten Eis auf dem Dach.

Heumarkt ist der mit den drei Büdchen nebeneinander. Und alle laufen! Das gäb‘s bei uns nicht.

Bei uns gibt‘s überhaupt keine Büdchen. Wenn alles zu hat, also um halb sieben, kann man in der Tankstelle einkaufen. Doppelt so teuer wie normal. Hier gibt‘s in jeder Straße ein Büdchen, die haben Tag und Nacht geöffnet und keine Tankstellenpreise. Toll. Einfach toll.

Messe Deutz. Jetzt wird‘s unterirdisch. Das ist langweilig. Man kann dann nur die Leute in der Bahn beobachten, draußen ist ja alles duster.

Bei uns in Ostwestfalen-Lippe gibt es nicht nur keine Büdchen, sondern auch keinen Öffentlichen Personennahverkehr. ÖPNV heißt das.

Bei uns fährt zum Beispiel der Bus zum Einkaufszentrum von elf bis siebzehn Uhr jede Stunde um viertel nach voll.

Dabei haben die Weser-Arcaden bis zwanzig Uhr geöffnet. Wer mit dem Bus fahren muss, kann also am Abend nicht einkaufen. Diskriminierend, oder?

Aber ich verstehe das schon, dass die Busse so selten fahren, denn es ist ja bei den wenigen Fahrten schon kaum einer drin. Dann lohnt sich das einfach nicht.

In meiner Stadt hat fast jeder ein Auto.

Wer bei uns mit dem Bus fährt, ist meist arm, und das ist nicht unlogisch, obwohl Busfahren teuer ist! Es ist billiger als Autofahren. Tanken, Versicherung, Steuern und zwei Euro Parkuhr die halbe Stunde ist nichts für Arme.

So ein Auto kostet immer, auch wenn man nicht damit fährt. Wenn aber einer kein Geld für den Bus hat, kann er ja zu Fuß gehen. Zeit genug haben arme Leute. Deswegen brauchen die auch abends nicht einkaufen.

Es ist bei uns so selbstverständlich, ein Auto zu haben, dass die Leute misstrauisch werden, wenn man keins hat. Ich habe das am eigenen Leib erfahren:

Als ich noch mit Manni zusammen war, hatten wir die meiste Zeit zwei Autos. Ich fuhr einen kleinen, alten Opel Kadett und Manni den großen silbernen Ford. Einmal kam der Ford für ein paar Tage in die Werkstatt, genau zu der Zeit, als Manni nach Oer-Erkenschwick zum Lehrgang musste.

Manni kam gar nicht auf den Gedanken mit der Bahn zu fahren. Er nahm natürlich meinen Kadett. Ich musste mit dem Bus zur Arbeit. Ein paar Tage kann man das aushalten.

An meinem vierten Tag als Busfahrerin wurde ich zum Abteilungsleiter bestellt. Das hatte es in den ganzen Jahren noch nie gegeben.

Herr Templin fragte mich, ob ich ihm nichts zu sagen hätte. Ich hatte richtig Herzklopfen, weil ich überhaupt >nicht wusste, was der meinte!

Immer wieder sagte er, ich könnte ihm alles anvertrauen, und ich wäre jetzt schon so lange im Betrieb, dass die Firma mich auch in solchen Fällen nicht allein lassen würde.

In solchen Fällen? Was denn für Fälle?

Ich hatte richtigen Gedankensalat, überlegte, ob er die Firmen-Kugelschreiber meinte, die ich immer wieder mal aus Versehen einsteckte, oder die privaten Telefongespräche mit Tamara und Conny, die sich manchmal nicht vermeiden ließen. Oder den Kaffee, für den ich meist nichts ins Kaffeeschwein warf. Ich hatte mal ein paar Blätter Kopierpapier aus Versehen mit nach Hause genommen, ob das einer gesehen und mich verraten hatte? Ich wusste es nicht.

Herr Templin sprach in Rätseln.

„Was denn für Fälle?“ fragte ich schließlich.

Er kritzelte auf seiner Schreibtischunterlage rum, malte Hasen und Tannenbäume und Spiralen.

„Meine liebe Frau Jesse, Sie wissen, dass ich auch gern mal ein Bierchen trinke, oder einen Wein. Aber wenn das zur Gewohnheit wird …“

Ich starrte ihn an.

Er stotterte. „Also wenn das zur Gewohnheit wird, ich meine … wenn man das öfter tut … tun muss, es also nicht lassen kann … dann ist das … dann ist das eine anerkannte Krankheit. Sie wissen das doch. Wir hier im Krankenhaus haben ja täglich mit solchen armen Menschen zu tun.“

Hatte Herr Templin ein Alkoholproblem? Beim Betriebsausflug und auf der Weihnachtsfeier spuckte er ja nicht rein. Wollte er jetzt mit mir darüber sprechen? Ausgerechnet mit mir! Ich war ganz gerührt.

Dann sagte er: „Frau Jesse, jetzt bitte mal Butter bei die Fische, wann kriegen Sie Ihren Schein denn wieder?“

„Meinen Schein?“

Er warf seinen Stift auf den Schreibtisch und lehnte sich zurück und sagte ärgerlich: „Frau Jesse, nun machen Sie es mir doch nicht so schwer! Man hat Sie schließlich gesehen!“

„Gesehen? Mich? Wobei denn?“

Jetzt stand er auf: „Frau Jesse, Sie müssen mich nicht für dumm verkaufen! Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass Sie seit geraumer Zeit Bus fahren!“

„Bus fahren.“ Ich verstand ihn einfach nicht. Dann löste er das Rätsel:

„Die Gemeindeschwester, Frau Schmidt, hat sie in der Vergangenheit immer wieder an der Bushaltestelle gesehen, und sie sind in den Bus jedes Mal eingestiegen. Frau Schmidt setzte mich pflichtgemäß darüber in Kenntnis, dass Sie wegen Trunkenheit wahrscheinlich keinen Führerschein mehr haben und deswegen Busfahren müssen!“

Ich bekam erst einen Lachanfall und dann einen Wutanfall. Isa. Typisch. Die hatte nichts besseres zu tun, als Leute anzuschwärzen.

Herr Templin entschuldigte sich später bei mir und bestellte Isa Schmidt in sein Büro. Das Geschrei war bis in den Sozialraum zu hören.

Hier in Köln ist das mit dem ÖPNV anders. Da muss man sich nicht schämen, wenn man KVB fährt. Es kennt einen ja auch keiner. Hier fahren sogar die Banker Straßenbahn. Mit Krawatte.

Neulich habe ich eine Frau im Abendkleid gesehen, in der Bahn! Ich hab mir dann vorgestellt, was bei uns los wäre, wenn ich im langen Fummel in den vierhundertzwölfer Bus einstiege. Der Busfahrer würde mich wahrscheinlich direkt einweisen lassen. Nicht so in Köln.

Wenn die hier so empfindlich wären wie wir in OWL, müssten sie sowieso jeden zweiten einweisen lassen.

Allein, weil die hier schon im November in ihren Karnevalsverkleidungen Bahn fahren. Vernünftig ist das schon, denn der Rheinländer an sich trinkt sich ja gerne einen. Wenn die aber in der Gruppe Bahn fahren und ihren Flachmann im Brustbeutel mitführen und unverständliche Lieder singen … also das muss man mögen.

Vorhin diese fünf Frauen … alle im gleichen gelben Kükenkostüm aus Plüsch … „Jommer inne annere Kaschemm“ sangen die und lachten sich scheckig über ihr eigenes Kauderwelsch.

„Das gibt‘s bei uns nicht. Gibt ja auch keinen Karneval bei uns“, hab ich spontan zu der alten Dame neben mir gesagt.

„Ach Jottchen, dat is ja schrecklisch! Sie Arme!“ sagte die Oma und tätschelte mir die Hand.

Die Kölner sind ein Völkchen für sich.