Isa Schmidt wandert aus

Als sie gestern in mein Büro kam, dachte ich zuerst: „Jetzt krieg ich Pfeffer!“ Wegen dem Adventskalender.

Isa Schmidt hatte mir diesen Adventskalender mit Schokolade drin geschenkt. Ich kann aber keine Schokolade essen, nicht mal sehen darf ich welche, dann nehm ich schon zu. Seit ich in den Wechseljahren bin, werd ich von allem dicker, sogar vom Kochbuchlesen. Und dann kommt Isa mit dem Kalender an. Das war natürlich pure Gehässigkeit von ihr.

Ich hab hinten vorsichtig die Pappe aufgemacht und die Schokolade rausgeholt, sie in eine Tüte gesteckt und auf dem Damenklo in den Bindeneimer gestopft.

Jetzt kann ich jeden Tag ein Türchen öffnen und falls Isa in mein Zimmer geht, merkt sie nichts.

Ich hatte mit Tamara darüber gesprochen. Sie meinte: „Tante Maria, warum sagst du dieser Isa nicht einfach, dass du keine Schokolade magst?“ Tamara kennt die alte Frusthenne ja nicht.

Wir nannten sie früher immer Iha statt Isa. Weil sie am Abendgymnasium Abitur gemacht hat und danach rumlief und bei jeder Gelegenheit betonte: „Ich hab Abitur!“ I H A. Iha. Ja, und? Wenn eine mit Mitte vierzig auf der Abendschule Abitur macht, dann weiß doch jeder, dass sie abends sonst nix zu tun hat.

Seitdem Isa vor etlichen Jahren der Mann stiften ging, ist sie immer schlimmer geworden.

Früher, in der Schule, da war sie auch schon ziemlich angriffslustig. Sowas liegt wohl in den Genen, wie beim Hund: Wenn einer ein Angstbeißer ist, hat das nicht immer was mit Erziehung zu tun. Manchmal ist das angeboren und man kann nichts dagegen machen.

Bei Isa Schmidt ist nichts mehr zu retten.

Sie ist ja eine geborene Weinstock.

In der Zeit, als wir in der Schule unsere Namen rückwärts lasen und uns auch damit ansprachen, hatte Isa schon schlechte Karten. Asi Kcotsniew ist nicht witzig.

Sie war schon damals mit Reinhard zusammen. Reinhard Schmidt aus der Goethestraße. Er war ein ruhiger Vertreter, freundlich und gutmütig.

Kaum war die Schule zu Ende, da zogen die beiden zusammen. Isas Mutter war nämlich gestorben und vererbte ihr das kleine Haus am Borstenbach. Etwas älter, das Haus, ein bisschen baufällig, aber immerhin Eigentum.

Der Vater, ja, wo war eigentlich der Vater?

Ich weiß es nicht mehr.

Jedenfalls: Reinhard zog bei Isa ein.

Das war damals noch was, wilde Ehe. Wild war das bei denen sicher, denn Isa war eine streitsüchtige Hippe. Sie war in der Lehre, er war Student.

Als Isa im Städtischen Krankenhaus ihre Ausbildung zur Krankenschwester gemacht hat, hab ich gehofft und gebetet, dass ich nie in dieses Krankenhaus muss und nie von ihr versorgt werde.

In der Zeit studierte Reinhard in Bielefeld BWL. Wenn er vorher gewusst hätte, dass Isa ihm sein Leben lang vorwerfen würde, dass sie ihn während der Lehre bekocht und versorgt und finanziert hat, dann wäre Reinhard sicher früher laufen gegangen. Tat er aber nicht, er studierte weiter und machte Isa zwei Kinder. Iris und Jasmin.

Das muss hart für Isa gewesen sein: Examen, als sie schwanger war, dann kam das Kind, ein paar Wochen später arbeitete sie wieder. Reinhard machte den Hausmann und studierte weiter. Damals bewegten sich Isa‘s Mundwinkel schon stark abwärts.

Kurz danach war sie wieder schwanger, arbeitete wieder bis kurz vor der Geburt, kriegte das zweite Kind und ging wieder arbeiten. Er versorgte nun beide Kinder und studierte nebenbei weiter.

Wenn man abends am Borstenbach spazieren ging, konnte man Isa und Reinhard oft streiten hören. Da flog Geschirr, knallten Türen, kreischten die Kinder. Immer schrie sie ihn an, dass er auf ihre Kosten studieren würde, dass sie sich den Arsch aufreißen müsste für seine Karriere und so weiter.

Dann hatte er zu Ende studiert und bekam direkt einen Job in Berlin. Weg war er, und er ließ Isa und die Mädchen zurück.

Eva Hansmeier aus dem Lottoladen erzählte, dass Reinhard jeden Monat einen Scheck mit der Alimente schickte und dass Isa diesen Scheck jedesmal am Gartentor vor der Mülltonne zerriss. Sie wartete immer, bis jemand vorbei kam, um dann zu erzählen, dass Reinhard ein undankbares Mistvieh wäre, sie hätte ihn durchgefüttert und durchs Studium gebracht, und der Dank, der Dank sei nun, dass sie alleine sei und die Drecksau - hätte Isa gesagt hat Eva gesagt, das sind nicht meine Worte - also dass die Drecksau sich nun mit irgendwelchen Flittchen in Berlin rumtriebe und es sich gut gehen ließe und dass er sie ganz fies ausgenutzt hätte, die ganze Zeit, und dass sie nun wie immer alles alleine machen müsse und so weiter und so fort.

Tja, was soll ich erzählen von Isa?

Sie hatte das mit den Kindern gut gemanagt. Sie war die erste im Ort, die sich eine Leih-Oma engagierte, das hieß nur damals nicht so. Oma Gerda zog in das grüne Haus am Borstenbach und passte auf die Kinder auf, wenn Isa Nachtdienst machte.

Viele Jahre später wurde Isa Gemeindeschwester. Seitdem hatte sie bei uns in der Klinik ein eigenes Büro. Auf meinem Flur. Deswegen kommt sie auch ab und zu in mein Zimmer und deswegen auch die Sache mit dem Kalender.

Den hat sie wahrscheinlich selbst geschenkt gekriegt und dann mir untergejubelt, weil sie nicht fett werden will. Obwohl sie damit kaum Probleme hat, dürr wie sie ist. Ich wollte ihr schon ein paar Mal sagen, dass die gefärbte Pumuckelfrisur und die rote Brille sie auch nicht jünger machen. Aber so ist das mit Isa: Keiner sagt ihr die Wahrheit, weil sie bei jeder Kritik sofort denkt, jetzt wär Krieg.

Zum Beispiel, als ihre Mädchen Abitur machten, hörten wir von Isa:

„Die beiden haben ihre Chance, ich hatte keine. Ich musste nach der mittleren Reife arbeiten gehen. Ich musste den Vater mit durchbringen und als Dank die Kinder allein großziehen. Immer arbeiten, immer dienen, immer anderen Leuten die Scheiße unter‘m Arsch wegputzen …“

Wenn ich Isa traf und sie ihre Tiraden losließ, hatte ich oft ein schlechtes Gewissen, weil ich mit Manni verheiratet war, wir in einem Neubau wohnten und weil unsere Geldsorgen und Probleme sich in Grenzen hielten.

Isa war verbittert. Daran war Reinhard schuld, weil er sie sitzengelassen hatte.

Isa war arm. Daran waren die Kinder schuld, weil sie studierten.

Isa hatte es in den Gelenken. Daran war das Wetter schuld. Daran, dass nichts dagegen half, war die Politik schuld. Wäre Isa reich und privat versichert gewesen, hätte man ihr helfen können, dessen war sie sich sicher.

Hätte Isa Geld gehabt, wäre sie für immer in den Süden gegangen, denn in der Sonne, in der Wärme, hatte man keine Gelenkschmerzen.

Wäre Isa ein Mann gewesen, hätte sie eine andere große Karriere gemacht, mehr verdient, und dann hätte sie auswandern können.

Zur Neidvermeidung hab ich Manni manchmal ein bisschen schlecht gemacht. Isa sollte ruhig wissen, dass andere Leute auch ihre Probleme haben.

Sie legte dann den Kopf schief, guckte mich mit kleinen Drosselaugen hinter der Brille an und sagte: „Dir ist es doch immer gut gegangen. Ich hatte nie was. Vater absent, Mutter tot, Haus alt, Mann faul, Kinder teuer. Patienten undankbar, Freunde falsch. Was hab ich denn schon?“

Sie hat dann irgendwann mal drei Jahre Pause gemacht. Als Iris und Jasmin mit dem Studium fertig waren, ging die eine als Archäologin nach Afrika und die andere ist Architektin und lebt auf Sizilien.

„Entweder leben die Kinder im Ausland jetzt Isa‘s Traum, oder sie sind vor der alten Krawallschachtel abgehauen“, sagte Eva Hansmeier im Lottoladen.

Isa war nicht stolz auf ihre Töchter, sie sagte:

„Die hatten ihre Chance, ich hatte keine, ich hab mich krumm gelegt, damit die Damen studieren können, und was ist der Dank: Sie lassen mich hier allein, allein mit dem alten maroden Haus, mit meiner Armut, meiner Krankheit und meinem Alter. Die eigenen Kinder!“

Isa hat sich dann selbstständig gemacht, mit einem Kreativstudio. Da bot sie Workshops für blaue Seidenmalerei auf gelben Krawatten an, Origamifalten von Elefanten aus Euroscheinen, Tonputtentöpfern und Digitalfotografiekurse für Aquaristiker.

Isa sagte, sie sei immer ein sehr kreativer Mensch gewesen, jetzt wolle sie mit ihrer Kunst bitteschön auch mal Geld verdienen.

Aber Isa war irgendwie am falschen Ort zur falschen Zeit, und bald waren die ignoranten Kulturbanausen schuld, dass sie ihr Kreativstudio wieder schließen musste.

Sie arbeitete dann im mobilen Pflegedienst und machte nebenbei das Abitur. „Mit einskommadrei!“ sagte sie immer dazu. Danach kam die Zeit, in der wir sie IHA nannten. „Ich hab Abitur“, das war ihr Standardsatz.

Damals reichten ihre Mundwinkel schon fast bis zum Kinn. Dann hat sie sich bei der VHS angemeldet und lernte Holländisch für Anfänger. Sie ließ sich einen Glitzerstein in den Nasenflügel stechen und trug bauchfreie rosa Shirts und bunte Rucksäcke, an denen hinten eine Diddlmaus baumelte.

Eva Hansmeier meinte, Isa hätte sich mächtig in ihren Holländischlehrer verknallt.

Eines Tages kam sie in den Unterricht und da war der hübsche blonde Willem nicht mehr da. Er war als Animateur in den Club Aldiana nach Tunesien abgehauen.

Isa‘s Mundwinkel erstarrten nun und zeigten nie wieder nach oben.

Seitdem verkündete sie nicht mehr: „Ich hab Abitur“, sondern: „Ich wandere aus! Nach Spanien. Im Süden geht‘s mir endlich besser. Ich will eine Finka, einen Hund und eine Vespa, und dann sitze ich am Pool und mach ein neues Kreativstudio auf.“

Neulich habe ich sie gefragt, ob sie denn schon gut spanisch spricht und wann es losgehen soll. Isa sagte, sie würde sich von mir nicht unter Druck setzen lassen, von mir nicht.

Ich stotterte: „Du willst schon so lange weg, du bist doch schon lange hier unglücklich, ich wollte ja nur wissen, wie weit…“

Sie fiel mir ins Wort, ob es denn irgendwo ein Gesetz gäbe, das ihr vorschriebe, wann sie glücklich zu sein hätte und wann nicht und wie ich dazu käme, sie so angreifen, wo ich doch selber genug Pleiten hingelegt hätte: gescheiterte Ehe, Haus verkauft, armseliger Posten in der Registratur, Single und die Kinder weit weg. Ob ich es brauchte, sie nieder zu machen, um mich besser zu fühlen.

Ich bekam Schnappatmung und mir fiel keine Antwort ein.

Seither ging ich ihr aus dem Weg.

Das ist jetzt ein halbes Jahr her. Vielleicht war der Adventskalender ein Friedensangebot?

Eben war Frau Schweiger aus der Personalabteilung hier. „Haben Sie auch einen Kalender von IWA bekommen?“, fragte sie. Iwa?

„Sie sagt doch in jedem dritten Satz: Ich wandere aus, deswegen hab ich sie so getauft - IWA“, kicherte Frau Schweiger. Sie hat also auch einen Kalender gekriegt.

Als Abschiedsgeschenk. „Weil das mein letztes Weihnachten in diesem beschissenen, kalten Land mit diesen unfreundlichen, ewig neidischen und immer unzufriedenen Menschen ist“, hatte Isa zu Frau Schweiger gesagt.

Frau Schweiger und ich haben jetzt zwei Rubbellose für Isa gekauft. Wir haben gewettet, wer Schuld sein wird, wenn es Nieten sind.

Wir, weil wir die falschen Lose ausgesucht haben?

Eva Hansmeier vom Lottoladen, die sie verkauft?

Der Besitzer des Hauses, in dem der Lottoladen ist?

Die Politik, weil sie Glücksspiel erlaubt?

Das System, das arme Menschen dazu bringt, auf Lotteriegewinne zu hoffen?

Ich wette, das Wetter ist Schuld.