Der fünfzigste Geburtstag

Gabi Horstmann, meine Nachbarin aus dem Haus schräg gegenüber, feierte letzte Woche ihren fünfzigsten Geburtstag.

Wir sind zusammen zur Schule gegangen, so lange kennen wir uns schon. Warum sie mich eingeladen hat, obwohl wir in den letzten Jahren kaum miteinander zu tun hatten, weiß ich auch nicht. Vielleicht wollte sie unbedingt groß feiern, hat aber gar nicht genug Freunde, um den großen Saal im Bürgerhaus voll zu kriegen?

Ganz egal, ich hab gedacht, wenn ich ein Geschenk für zwanzig Euro kaufe und dafür den ganzen Abend umsonst essen und trinken kann, dann rechnet sich das.

Tamara hatte mir neulich ein „Kleines Schwarzes“ geschenkt, ein todschickes Etuikleid, passt mir auch wie angegossen, das hatte ich noch nie an, und nun war endlich eine Gelegenheit. Aber: Tamara hatte mir mit dem Kleid sozusagen eine Aufgabe gegeben, eine kreative Aufgabe, sehr anspruchsvoll.

Das kam so: Neulich, als ich wegen meiner Zustände zwei Wochen krank geschrieben war, hatte ich ziemlich viel Zeit. „Zustände“ nenne ich die Phasen, in denen ich ab und zu deprimiert bin. Das hätte auch mit den Wechseljahren zu tun, hat meine Gynäkologin gesagt.

Ich hab seit einiger Zeit eine Frau als Frauenärztin. Früher hatte ich immer einen Mann als Frauenarzt, jahrelang war ich bei Dr. Buschjost, und ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, zu einer Frau zu gehen.

Einmal war ich beim Nachfolger von Dr. Buschjost, aber das ging nicht, gar nicht, denn der sah richtig toll aus und ich finde, dass gut aussehende männliche Gynäkologen eine wirkliche Zumutung sind.

Inzwischen sind fast alle meine Ärzte jünger als ich. Daran merkt man, dass man alt wird.

Beim Augenarzt oder beim Orthopäden ist mir das schnurzegal, aber bei so heiklen Themen wie Hitzewallungen, Orangenhaut, schwabbeligen Oberarmen und schleichendem Verlust der Libido kann ich nicht mehr zu einem Mann gehen.

Etwas peinlicheres als sich in meinem Alter vor einem vierzigjährigen Doktor auszuziehen und sich die schlaffen Brüste quetschen zu lassen - von untenrum ganz zu schweigen - gibt‘s ja wohl nicht. Also hab ich eine Frauenärztin. Ist eigentlich auch viel logischer, denn die kennt sich von Natur aus aus.

Jedenfalls bin ich manchmal sehr traurig oder schlecht gelaunt, manchmal sogar aggressiv und ein bisschen verzweifelt, ohne Grund eigentlich und aus heiterem Himmel, und meine Gynäkologin, sie ist selber um die fünfzig und weiß wirklich Bescheid, sie meinte, das sei eine leichte depressive Verstimmung infolge der starken Hormonschwankungen während der Wechseljahre. Ich müsste mich ausruhen, sehr viel Johanniskrauttee trinken, täglich mindestens eine Stunde spazieren gehen und sehr viel schlafen.

Viel schlafen, Kunststück, ich habe seit Monaten nicht mehr durchgeschlafen, das ist nämlich auch ein Symptom. Die Gynäkologin hat mich krankgeschrieben, und Tamara, die gute Seele, hatte dann die Idee des Jahres.

„Tante Maria“, hat sie gesagt, „Tante Maria, du musst dir ein Ventil suchen. Schreib dir von der Seele, was dich beschäftigt, schreib es auf, in einem Tagebuch, oder, noch besser: Dichte!“

Ich wurde ganz wuschig von Tamaras kreativem Tempo. Ich habe schon ein paar mal, wenn jemand Geburtstag hatte oder zu Weihnachten, gereimte Briefe geschrieben. Das kam immer gut an. Auch Tamara findet diese Reimgeschichten ganz toll. Nun ist sie Galeristin und versteht was von Kreativität, deswegen vertraue ich ihr.

Sie sagte: „Tante Maria, was immer dir passiert: Schreib es einfach auf. Sei kreativ, du wirst dir selber auf die Spur kommen, wenn du ungefiltert aufschreibst, was dir in den Sinn kommt. Lass deine Gedanken schweifen, lass sie abschweifen und reime alle Ungereimtheiten deines Lebens.“

Das war der Satz, der gezündet hat!

Und als Tamara mir dann eine gebundene Kladde schickte, auf die sie auf einen wunderschönen Aufkleber „Marias gereimte Ungereimtheiten“ geschrieben hat, da habe ich es gewagt.

Ich habe ihren Ratschlag umgesetzt.

Ich habe gedichtet.

Der Anlass war Gabi Horstmanns Geburtstag im Bürgerhaus. Und das ist dabei rausgekommen:

Herzlichen Glückwunsch, Gabi! Alles Gute
ich freu mich so, bei Dir zu Gast zu sein,
sagt Susi. Und sie denkt: Die dumme Pute,
die lädt sogar die blöde Müller ein.

Und ihre teuren Jacketkronen blitzen,
sie grüßt und nickt und lächelt alle an.
In einer Stunde hat sie einen sitzen
und dann beginnt die Jagd nach einem Mann.

Am runden Tisch, links, sitzen die Verwandten.
„Mein Gott“, denkt Susi, „sind die provinziell!“
Sie winkt den Nachbarn und den alten Tanten
von weitem zu. Und dreht sich um. Ganz schnell.

„Für mich Champagner - wenn sie welchen führen!“
Der Barmann hat ja Haare auf der Brust!
Der soll es auch von Anfang an gleich spüren:
Sie kennt die Welt.Und hat heut keine Lust.

Sie nimmt ein Bier. Na gut, dann heute ländlich.
Champagner ist im Bürgerhaus nicht drin.
Die Deko auf den Tischen ist ja schändlich!
Und diese Leute! Ich gehöre hier nicht hin.

Aha. Musik. Jetzt kommt die Polonäse.
Am Klo vorbei, links rum und dann nach vorn.
Auf dem Büfett stehn Shrimps in Mayonnaise.
Auch dort entlang und dann gibt’s einen Korn.

Die Kegelschwestern sagen ein Gedicht auf.
Auch Susi klatscht dazu im Rhythmus mit.
Sie setzt dabei ein fröhliches Gesicht auf.
Nimmt noch ein Bier. Und fühlt sich richtig fit.

Ihr Chef hält später dann noch eine Rede. Er macht das gut,
er ist daran gewöhnt.
Der sieht gut aus, denkt Susi. Alter Schwede.
Sie geht aufs Klo, wo sie sich rasch verschönt.

Als sie zurück kommt, steht der Chef am Tresen.
Und neben ihm die Dame vom Versand.
Sie redet klug und gibt sich sehr belesen.
Der Chef prüft. Ihren Hintern mit der Hand.

Susi trinkt Bier. Zehn Stück in einer Stunde.
Ein Dicker fordert sie zum Tanzen auf.
Schneewalzer. Foxtrott. Und noch eine Runde.
Und Susi lässt den Dingen ihren Lauf.

Das Haar zerzaust und das Make-up zerronnen.
Die Stöckelschuh beim Barmann deponiert.
Die Nacht ist bunt und hat grad erst begonnen.
Und Susi gibt sich gar nicht mehr blasiert.

Die Damenwahl kommt ihr nicht ungelegen.
Susi ist sicher, dass noch was passiert.
Sie sieht sich um. Mund, Blick und Haar - verwegen.
Nein, nicht mit dem, denn der ist tätowiert.

Dort! Ein Adonis! Susi’s Hände beben.
Er steuert direkt auf die Theke zu.
Lächelt sie an. Und Susi glaubt zu schweben.
Und ihre Augen finden sich im Nu.

Sie tanzen und betrinken sich gemeinsam.
Sie essen Spargelröllchen am Büfett.
Und Susi weiß: Noch gestern war sie einsam.
Adonis tätschelt sanft ihr Dekolleté.

Als Gabi kommt, sind Susi’s Augen strahlend.
Stolz auf die Beute liegt in ihrem Blick.
Jedoch Adonis, eben wild und prahlend,
zieht blitzschnell seinen Arm von ihr zurück.

„Komm Schatz!“ sagt Gabi irgendwie ironisch.
Und Susi weiß sofort, worum es geht.
Adonis flieht mit Gabi. „Wie harmonisch!“,
zischt Susi. „Barmann, schenk’ noch einen ein!“

Die letzten Gäste gehen gegen Morgen.
Gabis Geburtstag ist nun mal vorbei.
Und niemand macht sich mehr um Susi Sorgen.
Auch dem Adonis ist sie einerlei.

Susi schwankt ohne Schuhe um die Ecke.
(Der Barmann hat sie hinterm Tresen stehn.)
Susi ist schlecht. Sie kotzt in eine Hecke.
Und sie hat keine Lust, nach Haus zu gehn.

Sie torkelt in den deutsch gepflegten Garten
und schaut den Fischen zu im Goldfischteich.
Und dann beschließt sie, nicht darauf zu warten,
uralt zu sterben. Dann doch lieber gleich.

Zwei Tage später meldete die Presse:
„Susi S. im Gartenteich ersoffen!“
Gabi las die Meldung mit Int’resse
Und ihr Adonis zeigte sich betroffen.