Ein pikantes Detail

Gestern war ich auf dem Weihnachtsmarkt am Inowraclaw-Platz. Diesen Namen hat der Platz von unserer polnischen Partnergemeinde. Wenn man ihn geschrieben sieht, kriegt man Zustände und weiß nicht weiter, aber ausgesprochen wird er eigentlich ganz einfach: INO-FRATZ-LAF.

Die Werbegemeinschaft der Innenstadt organisiert den Weihnachtsmarkt immer sehr schön: Unter den alten Platanen ist eine Schlittschuhbahn aufgebaut, daneben gibt es ein kleines Kinderkarussell und rundum stehen viele Buden mit Glühwein, Eierpunsch, Bier, Bratfisch, Döner und Pizza. Alle Buden sind mit Tannenzweigen, künstlichem Schnee aus Watte und Lichterketten dekoriert, und über den ganzen Platz klingen Weihnachtslieder. Viermal am Tag treten auf der kleinen Bühne heimische Chöre und Musikgruppen der Schulen auf, gestern war die gemischte Samba-Truppe der Arbeiterwohlfahrt in original brasilianischen Kostümen da, toll war das, wirklich toll.

Während die kleinen Kinder also Karussell fahren und die großen Schlittschuh laufen, treffen sich die Erwachsenen zum weihnachtlichen Imbiss mit Umtrunk.

An einer Seite der Eisbahn ist eine Terrasse, wunderschön geschmückt mit Lichtergirlanden, Heizpilzen und weißen Sonnenschirmen, falls es regnet. Strohballen sind zu Mauern aufgeschichtet, damit man windgeschützt trinken kann.

In einer der Glühweinbuden hab ich Olli vor vier Jahren zuletzt gesehen. Er jobbte dort und freute sich sehr, als wir uns nach langer Zeit zufällig wieder trafen.

Olli Neumann, der blonde Hüne, der aussah wie Sascha Hehn und mit dem ich 1976 ein paar Monate lang „ging“.

Ich kannte ihn schon länger, er war in meiner Parallelklasse. Süß war der schon mit dreizehn, damals schwärmte ich mal sehr für ihn, aber als ich ihn eines Tages mit seiner Mutter im Freibad traf und er sich von seiner Mutter nach dem Schwimmen abtrocknen ließ, hatte Olli erst mal verschissen.

Wir hatten zwar immer Kontakt, gingen in der großen Pause auf dem Schulhof zusammen rum oder standen bei den Großen in der Raucherecke an der Aula, aber das war alles mehr so kumpelmäßig.

Als Olli in der Klinik von Dr. Henkel die Mandeln rauskriegte, das muss Anfang 1976 gewesen sein, habe ihn besucht. Komisch war das, einen Klassenkameraden im gestreiften Pölter und Socken im Bett zu sehen, auf dem Nachtisch Tritop und Graninisaft und Babyrosen mit Freesien und stapelweise Fix- und Foxi-Hefte. Da kam Olli mir ein bisschen unreif vor. Aber er war auch süß, irgendwie kuschelig, weil er so ruhig war und so schön lächelte.

Im Februar hatte Olli Geburtstag, er wurde sechzehn.

Er lud mich zu seiner Fete ein. Zuhause gab es ein furchtbares Theater, weil meine Mutter meinte, ich wäre erst fünfzehn und müsste mich weiß Gott nicht nachts auf Orgien rumtreiben, und das mit fremden Männern und in irgendwelchen Kellern.

Es dauerte ewig, bis sie begriff, dass die Party im Beatkeller von Olli‘s Eltern stattfand, dass die Eltern den ganzen Abend zu Hause sein würden und dass die Mutter die Mädchen um elf Uhr alle mit dem Auto nach Hause bringen wollte. Wir hatten kein Auto.

Elf Uhr kam natürlich nicht in Frage: „Mitten in der Nacht! Soweit kommt das noch. Halb zehn ist Zapfenstreich!“ befahl meine Mutter und dass meine Hose um viertel vor zehn kalt am Bett hängen solle, sonst setze es was.

Ich nickte und sagte erst mal nichts. Hauptsache, ich durfte weg. Dass ich um halb zehn die Erste sein würde, die gehen muss, und dass ich Frau Neumann nicht fragen konnte, ob sie mich als einzige so früh heimfahren konnte und dass ich deswegen die vier Kilometer nach Hause zu Fuß gehen müsste und somit schon um neun hätte aufbrechen müssen, interessierte meine Mutter nicht.

Ich musste mich im Wohnzimmer vorstellen, bevor ich ging.

Meine Mutter wollte sicherstellen, dass ich nicht wie ein Flittchen aussah. Labello war erlaubt. Schminken war verboten. Meine Spucktusche hatte ich in meiner Handtasche versteckt. Das war eine kleine Dose mit einem gepressten Block Wimperntusche, auf den man spucken musste, bevor man ihn benutzen konnte. Es gab einen winzigen Spiegel im Deckel und eine Bürste, die sah wie eine ganz kleine Zahnbürste aus.

Ich hatte die Spucktusche mit Heike Stühmeier bei Seifen-Puls geklaut und hütete sie wie einen Schatz. Ich benutzte sie immer erst, wenn ich um die Ecke war, und bevor ich nach Hause kam, wischte ich alles mit Spucke und einem Taschentuch wieder ab.

Manchmal vergaß ich das, dann gab es Ärger. „Wie Frankensteins Tochter siehst du aus!“ oder „Willste inner Geisterbahn auftreten oder warum schmierste dir die Klüsen so an?“

Mutter war wirklich streng. Genutzt hat das aber nix.

Bevor ich zu der Fete bei Olli ging, guckte sie nach, ob ich ein Unterhemd anhatte. Ich hatte.

Ich hasste diese Frottee-Dinger, die ich als Garnitur mit passendem Schlüpfer stapelweise von Tante Lisbeth zur Konfirmation bekommen hatte. Besonders die Buxen waren mir viel zu groß, „damit ich noch reinwachsen“ konnte. Mutter hatte mir neue Gummis in die Unterhosen gezogen. Es gab einen Knoten in dem Gummi, um es bei Bedarf weitermachen zu können.

Bis zur Straßenecke trug ich zum Frotteeschlüpfer mit Margeritenmuster das passende Leibchen. Ich beherrschte aber eine besondere Technik: Ich konnte mir das Hemd ausziehen, ohne den Anorak aufzumachen. Das Unterhemd steckte ich dann in die Jackentasche und schob meine Bluse ein bisschen hoch, ein bisschen mehr, ja, bis man den Bauch sehen konnte.

Ich muss immer lachen, wenn die jungen Dinger heutzutage mit Hüfthosen und bauchfrei rumlaufen und sich supermodern fühlen. Das haben wir vor dreißig Jahren erfunden, das ist nicht neu!

Ich trug, als ich zu Olli‘s Party ging, eine todschicke Rundhose, die den Reißverschluss hinten hatte. Warum ich mich daran so genau erinnere, erzähl ich später. Meine orange Bluse hatte weite Ärmel, ein modisches Muster aus grünen Schmetterlingen und wurde am Ausschnitt geschnürt.

Ich ging zu Fuß zu Olli, obwohl ich von Mutter Geld für den Bus bekommen hatte. Ich holte für eine Mark am Automaten bei Bäcker Klimke eine Schachtel Güldenring Zigaretten.

Der Beatkeller bei Neumanns war beeindruckend.

Dunkle Wände aus echtem Holz, es gab einen hohen Tresen und Barhocker mit Kuhfellbezug, es sah aus wie in einer richtigen Wirtschaft. Ein riesiges Wagenrad mit einem Strohblumenstrauß nahm eine halbe Wand ein, und über dem Tisch an der Eckbank hing eine Kupferlampe mit Herforder-Pils-Reklame.

Hinter dem Tresen standen auf einem imposanten Regal etliche Bierkrüge und Zinnbecher. Poster waren mit Tesa an allen Wänden festgemacht, ich erinnere mich an Bilder von Sweet und Slade, an die Rubettes und die Stones. Die Beleuchtung war schummrig, ein paar Tropf-Kerzen brannten in bauchigen Korbflaschen, das Wachs hatte bizarre Gebilde auf den Flaschen hinterlassen. Eine Lichtorgel tauchte den Raum abwechselnd in gelbes, rotes und blaues Licht.

Olli‘s Freund Ralli saß hinter der Stereoanlage: Neumanns hatten einen supermodernen Stereoturm (im Keller!) und daneben einen Zehnerwechsler.

Es waren etwa zwanzig Leute da, die meisten kannte ich aus der Schule. Olli drückte mir einen Coko in die Hand: Cola mit Korn. Das schmeckte mir besser als die Rum-Cola und der Mariacron, den ich danach trank.

Wir tanzten zu Fernando von Abba, Moviestar von Harpo und Daddy Cool von Boney M. Geredet wurde nicht viel, dazu war es auch viel zu laut.

Irgendwann kam Ollis Mutter runter, ich kannte sie ja schon aus der Badeanstalt, und sagte, im Flur gäb‘s was zu essen.

Weißbrotdreiecke mit Heringssalat, Käse-Igel, Spargelröllchen und harte Eier mit Deckeln aus ausgehöhlten Tomaten mit Mayonnaisetupfen, die sahen wie Fliegenpilze aus. Dann gab‘s noch halbierte Eier mit öligen grellroten Lachsersatz-Schnitzeln oder irgendeiner Creme und Kaviar. Dass es künstlicher Kaviar war, wusste ich nicht, für mich war alles sehr beeindruckend.

An die Party erinnere ich mich nicht mehr so gut, aber an das Zusammentanzen mit Olli, als „Angie“ aufgelegt wurde, daran erinnere ich mich genau.

Und daran, dass ich einen Reissverschluss hinten viel besser fand als vorne. Weil ich so rum sicher sein konnte, dass Olli meinen Margeritenschlüpfer nicht sah. Er streichelte mich, soweit er mit seiner Hand kam, ein bisschen hinten in der Hose und unter der Bluse und brachte mich damit sehr ins Schwitzen.

„Angie“ lief dann den ganzen Abend und ich hab auch nichts mehr getrunken, weil wir die ganze Zeit getanzt und gekuschelt und geknutscht haben.

Natürlich bekam ich Hausarrest, nachdem Olli‘s Mutter mich um kurz nach elf zu Hause abgesetzt hatte, es nutzte auch nichts, dass sie extra ausstieg, um meiner Mutter zu erklären, dass sie nicht zweimal hatte fahren wollen und dass ich deswegen zu spät kam.

Aber: Seit diesem Abend gingen Olli und ich miteinander. Wir sahen uns in der Schule, und als der Hausarrest vorbei war, war ich nachmittags oft bei ihm Zuhause.

Er war noch Jungfrau, ich war schon erfahren. Ich hatte ja im Sommer mal mit Micha … Micha erledigte bei mir das „erste Mal“, und ich war schwer enttäuscht über diese Sache, über die man soviel in der Bravo las und um die alle so einen Bohai machten und die im Endeffekt stinklangweilig war. Aber das ist eine andere Geschichte.

Bei Olli war „es“ nach einer Zeit auch unvermeidlich. Ich hatte weiß Gott keine Lust dazu, aber er hatte schon ganz helle Augen. Man muss es mit den Männern machen, ob man will oder nicht, sonst rufen sie nicht wieder an, sagte meine Oma immer.

Das hat sich bis heute nicht geändert.

Olli war also ein Hüne, fast zwei Meter groß. Als wir eines Tages auf seiner Umbauliege lagen und ich mal ein bisschen ans Eingemachte ging, stellte ich fest, dass die Proportionen stimmten.

Das wusste ich aber nicht. Ich merkte nur, dass er, wie soll ich das sagen, dass er bei mir nicht passte. Also nicht ganz rein ... Er war wirklich groß.

Jetzt fand ich diese Sache mit dem Sex nicht nur grundsätzlich lästig, sondern es tat auch weh. Und ich war sehr besorgt, dass ich es immer wieder würde tun müssen, es mir aber nie Spaß machen würde. Bei Micha, meinem Ersten, hatte ich nachher gedacht, okay, das erste Mal, da soll das nie so toll sein für das Mädchen, aber als es beim zweiten Jungen auch total doof war, ging ich zu Dr. Buschjost.

Der saß vor seinem leeren schwarzen Schreibtisch und sah mir nicht in die Augen. Ich wusste nicht richtig, wie ich ihm mein Problem erklären sollte. Ich druckste rum und sagte dann: „Ja, verstehen Sie das denn nicht? Ich bin falsch gebaut. Ich bin innen zu kurz, mein Freund passt da nicht rein!“

Dr. Buschjost warf seinen Kuli, mit dem er immer rumspielte, auf den Schreibtisch und bekam einen Lachkrampf. Das war mir vielleicht peinlich.

Ich weiß gar nicht mehr, wie lange ich noch mit Olli ging und warum irgendwann Schluss war. Wir hatten uns dann ewig nicht gesehen, weil er weggezogen war.

Und dann traf ich ihn auf dem Weihnachtsmarkt an der Glühweinbude und wir freuten uns über das Wiedersehen und tranken ein paar Punsch zusammen und redeten über alte Zeiten. Bei der Gelegenheit erzählte ich Olli von meinem pikanten Problem und meinem Besuch bei Dr. Buschjost. Wir haben stundenlang darüber gelacht und konnten gar nicht aufhören zu reden.

Ein Jahr später war Olli tot. Ich erfuhr es durch Zufall. Er hatte sich schlafen gelegt und war einfach nicht wieder aufgewacht. Mit fünfundvierzig. Meine Oma hat immer gesagt, dass kein Mensch tot ist, solange es jemanden gibt, der sich an ihn erinnert und von ihm spricht. Deswegen habe ich Ihnen das hier erzählt.