Der Traum der frühen Jahre

Gestern hab ich Manni getroffen.

Seit unserer Scheidung hab ich ihm zum ersten Mal vis a vis gegenübergestanden.

Wie oft hatte ich mir dieses Wiedersehen ausgemalt! Und welche Varianten hatte ich vor meinem geistigen Auge …

Direkt nach der Scheidung waren diese Varianten ziemlich blutrünstig gewesen, ich hatte zeitweise regelrechte Entmannungsfantasien. Ganz brutale Visionen, zugegeben, ich sag nur: Kurzer Prozess mit langer Schere und dann in Scheiben mit Senf zum Abendessen. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt, sonst scheint morgen nicht die Sonne, so hab ich mir das vorgestellt.

Tamara sagte damals, meine Reaktion sei ganz normal für eine reife Frau, die wegen einer jüngeren verlassen wurde. Eigentlich war das paradox.

Manni und ich hatten uns wegen Thema Nummer eins mit den Jahren auseinandergelebt. Er gab mir die Schuld, weil er dauernd wollte und ich keine Lust hatte. Dann hatte er seine neue Tussi kennengelernt und wurde plötzlich verrückt. Die Tussi, zehn Jahre jünger als ich, keine Kinder, die hat ihn wohl anständig versorgt.

Manni drehte jedenfalls völlig durch. Er ließ sich die Haare wachsen. Vokuhila mit fuffzig. Das hätte eher Vokahischü heissen müssen. (vorne kahl und hinten schütter) Dazu ließ er sich einen grau-blond gescheckten Dreitagebart stehen. Er trug plötzlich karierte Hosen, rote Pullover und weiße Lederjacken.

Ich hab ihn nie so gesehen, Eva Hansmeier hat‘s mir mal im Lottoladen erzählt. Und dass Manni, wenn er mit seiner Neuen durch die Fußgängerzone stolzierte, immer eine Hand auf ihrem Hintern hatte. Da war ja auch Platz genug. Da hätten auch vier Hände drauf gepasst. Auf eine Backe.

Ich kenn sie ja vom Sehen, sie hat mal in der Apotheke am Goetheplatz gearbeitet. Eine kleine Dicke mit explodierter Dauerwelle, Hundeblick und Doppel-D.

Man merkt es vielleicht ein bisschen: Ich kann die nicht ab.

Jedenfalls ließ Manni in der Öffentlichkeit keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er Sex hatte. Viel Sex.

Eva Hansmeier, Frau Schweiger aus der Personalabteilung und Tamara haben das glückliche Paar mehrmals getroffen und alle haben gesagt, dass Manni und seine Heike (genauer gesagt Heike-Ulrike Falldorf-Grützediek) sich sehr sexuell animiert aufführten. Und deswegen war ich dann sauer und hatte diese „In-Scheibenmit-Senf-Fantasien“.

Mit den Jahren hat sich das gelegt. Weil ich irgendwann begriffen hatte, dass es nicht meine Schuld war, wenn ich keine Lust hatte. Denn ich hatte keine Lust auf Manni.

Wenn ich mir nämlich in meinen kühnsten Träumen vorgestellt habe, ich träfe Ulli Wickert oder Harald Schmidt oder, wenn ich ganz mutig und unanständig gelaunt war, Tom Jones, dann war ich sehr wohl animiert.

Also lag das an Manni und nicht an mir. Er hätte sich ja was einfallen lassen können.

Bei seiner Heike-Ulrike wird er ja auch nie gesagt haben: „Bärchen, wollen wir beide uns das in der langen Werbung bei ‚Wer wird Millionär‘ ein bisschen gemütlich machen?“

Bei Heike-Ulrike wird er Sonntags zwischen Frühstück und Frühschoppen nicht grinsend Frühsport gefordert haben.

Der Sonntag-Termin stammte noch aus der Zeit, als die Kinder zum Kindergottesdienst mussten und wir mal eine Stunde für uns hatten. Irgendwann fing Manni dann mit dem Frühschoppen in Rudis Glas-Bier-Geschäft an und dann blieben dafür nur noch zehn Minuten…

Ich verstehe heute, dass sich im Laufe einer Ehe Rituale bilden, aber damals wusste ich das nicht.

Wenn Manni Samstagmittags schon sagte: „Bärchen, ziehst du dir heute Abend deine sexy Sachen an?“, wurde ich irgendwie jedesmal aggressiv und hab gefragt: „Vor oder nach ‚Wetten dass‘?“

Ich habe bis heute nicht verstanden, wieso Manni immer besonders erotisiert war, wenn ich einen durchsichtigen Babydoll und die hochhackigen Brokatschlappen mit dem Puschel drauf anzog. In allen Farben hatte ich diese Sachen.

Als Manni mich verlassen hatte, kamen die sexy Sachen sofort im Rotkreuzsack an die Straße. Und dann passierte das Unglaubliche: Die Säcke wurden abends schon geklaut, noch bevor der Wagen kam, um sie abzuholen.

Und ein paar Wochen später war ich auf dem Flohmarkt am Verkehrsübungsplatz. Als ich so durch die Reihen schlenderte, sah ich plötzlich auf einem der Tapeziertische Babydolls mit Rüschen liegen. Rosa, bleu, weiß. Daneben meine Puschelschlappen. Ich hab meine Sachen sofort erkannt.

Hinter dem Tisch standen die Kinder von Pastor Geldmacher. Sie verkauften Schuhkartons mit Legosteinen, Geschirr, Seidenblumengestecke, Window-Colours und meine Babydolls. So eine kriminelle Bagage. Mann, war ich sauer! Aber ich konnte doch nix sagen. Ich konnte doch nicht laut sagen, dass die Bande meine Reizwäsche im Rotkreuzsack geklaut hatte, aber seit dem Tag wusste ich Bescheid. Beim Martinssingen hab ich denen seitdem immer nur taube Nüsse und matschige Klementinen in die Tüten getan.

Aber ich wollte ja von Manni erzählen.

Er ist mit seiner Heike-Ulrike nicht zusammengeblieben. Nach zwei oder drei Jahren war Schluss. Eva Hansmeier erzählte, Tina Kracht aus der Kantstraße hätte gesagt, Heike-Ulrike wollte ein Kind. Die biologische Uhr tickte kurz vor dem Stillstand, denn Heike-Ulrike war Ende dreißig. Da hatte Manni aber gottseidank eine lichte Phase. Er hat ihr kein Kind gemacht. Ob das nun aus Vernunft war oder weil er wusste, dass er sich nach unserer Scheidung keinen weiteren lebenslangen Unterhalt mehr leisten konnte, entzieht sich jetzt meinem Wissen.

So, das war also noch mal gut gegangen, Trennung ohne Kind kostet ja nix. Und dann hatte Manni ganz zackig wieder eine Neue. Tina Kracht hat bei Eva Hansmeier im Lottoladen erzählt, dass Manni eine Frau im Internet kennengelernt hat. Ich muss mich da unbedingt auch mal drum kümmern, das scheint zu funktionieren, vielleicht ist da ja auch für mich was im Angebot.

Die Neue kommt aus Stemwede, das ist irgendwo in der Pampa. Kein Wunder, dass die Frauen auf dem Land im Internet nach Männern suchen, denn auf‘m Dorf ist ja männertechnisch nicht viel zu holen. Die paar Bauern, die da Single sind, finden ihre Bettgenossinnen bei RTL und lassen sich dabei gern filmen. Jedenfalls: Die Neue ist wohl ganz nett und soll so aussehen wie die Claudia Roth von den Grünen. In seinem Alter soll sie sein. Also viel älter als ich und wesentlich dicker. Ist ja auch egal.

Gestern war ich im Getränkemarkt Poppensieker. Ich hatte eine Kiste Wasser und eine Kiste Cola-Fanta gemischt gekauft und just alles ins Auto geladen, machte die Klappe zu, drehte mich zum leeren Einkaufswagen um und da stand er da.

Manni. Wir waren beide ein bisschen verlegen.

„Hi!“, sagte er und streckte mir die Hand hin.

Hab ich genommen, die Hand, ich bin kein nachtragender Mensch.

„Hi!“, hab ich geantwortet und ihn stickum gemustert.

Oben Glatze, hinten Kranz, aber jetzt ganz kurz. Der Zopf war ab. Tränensäcke. Hängende Augenlider. Blass.

Knubbelige Nase mit geplatzten Äderchen.

Zwei Kinne, eins davon schlabberte wie bei einem alten Hahn. Lange Ohrläppchen, große Ohren, irgendwie auffallend größer als früher, Fielmann-Brille.

Kariertes Hemd, Shirt drunter, Strickjacke drüber.

Jeans, gut geputzte Lederschuhe.

Altersflecken auf den Händen.

„Wie geht‘s denn so?“, fragte Manni.

„Danke. Und selbst?“, sagte ich.

„Och. Muss ja“, sagte er.

„Na denn“, sagte ich.

„Ja, genau“, sagte er.

„Was gibt‘s Neues?“, fragte ich.

„Och. Du. Man schlägt sich so durch“, sagte er.

„Was macht die Arbeit?“, fragte ich.

„Alles im grünen Bereich“, sagte er.

„Und sonst?“, fragte ich.

Er grinste: „Ich hab da ne neue Bekannte, mit der lebe ich jetzt zusammen.“

„Ne Bekannte, soso. Ne Fremde wär auch schlecht. Na denn, schönen Gruß zu Hause“, sagte ich.

„Ja, auch so“, sagte Manni.

Dann grinste er und ging zu seinem Auto. Dunkelblauer Passat-Kombi, älteres Modell. Blitzeblank. Kennzeichen MJ 55. Also wahrscheinlich sein Wagen, es sind seine Initialen und sein Geburtsjahr. Vorne am Spiegel baumelte eine Dufttanne, das sah ich, als er zurücksetzte und dann an mir vorbeifuhr.

Komisch, dachte ich. Da fährt dein Exmann, Vater deiner Kinder, Traum der frühen Jahre, im Kombiwagen mit Dufttanne an dir vorbei und was fühlst du?

Erleichterung.

Ich bin richtig froh, dass ich mit dem alten Sack nix mehr zu tun habe. Er ist ein komischer Mensch, ich hab das aber erst sehr spät gemerkt. Kurz nach unserer Scheidung passierte zum Beispiel folgendes:

Samstag. Zwanzig nach sieben. Morgens. Ich liege noch im Bett. Mein Telefon klingelt. Ich springe auf, gehe ran: „Ja, bitte?“

Es war Manni. Er sagte: „Ja, ich bin es, hast du noch geschlafen?“

„Nein, ich bin grad wachgeworden, was ist passiert?“

„Wieso passiert?“

„Mensch Manni, wenn du so früh anrufst, dann denke ich, es ist was passiert!“

„Wieso, ich bin seit halb sechs auf!“

Und dann fragte er mich nach der Postleitzahl von Tante Wilma am Bodensee, weil er mit seiner Tussi da umsonst Urlaub machen wollte.

Der ändert sich nie. Jedenfalls innen nicht, aussen schon. Zwei Kinne, kein Arsch in der Schlotterhose, Riesenohren.

Vielleicht ist das von der Natur so gewollt, dass Männer im Alter größere Ohren kriegen, damit die Brille besser hält? Manni hatte graue Haare in den Nasenlöchern. Die waren früher schwarz. Dann hat er womöglich jetzt überall graue Haare. Oje.

Lebte ich immer noch mit Manni in einem Haus, hätt er betreutes Wohnen und ich einen unfreiwilligen Nebenjob als Altenpflegerin. Nein, das hat die Natur sehr umsichtig eingerichtet, dass Männer sich eine Jüngere suchen, bevor sie schäbig werden und gestandenen Frauen nur noch Arbeit und Scherereien machen.

Da ist gehen kein Fehler.

Früher ist er mir fremdgegangen und heute hat er ne neue Bekannte.

Diesmal hat es das Schicksal richtig gut mit mir gemeint.