Weihnachten bei Uwe und Heidi

Dieses Jahr ist alles anders. Dieses Jahr gibt‘s keinen Gottesdienst am Heiligabend, ich mach keinen Braten und hab keinen Tannenbaum. Die Kinder sind wieder auf Ibiza. Sie verweigern sich dem „Feierstress und Konsumterror“. Wenn sie meinen.

Tamara feiert mit ihrem derzeitigen Bekannten auf einem Schiff. Viertausend Euro. Pro Nase. Aber ihr neuer Typ, er ist Banker, der hats ja. Da kam mir die Einladung von Uwe und Heidi Schalk grade passend.

Früher haben wir viel zusammen gefeiert, Manni und Uwe waren richtig gute Kumpels. Schalk‘s Kinder, die Zwillinge Kim und Kai, sind für ein Auslandsemester in Kopenhagen und können Weihnachten nicht nach Hause kommen.

Ich traf Heidi beim Einkaufen.

Sie erzählte, dass sie und Uwe Heiligabend alleine sind, und es standen uns beiden die Tränen in den Augen, als ich sagte. „Ich auch.“

So kam es zustande, dass sie mich einlud.

Ob Manni auch käme, hab ich natürlich gefragt. Das hätte mir noch gefehlt, dass ich mit meinem Geschiedenen und seiner neuen Tussi Weihnachten feiere.

„Keine Gefahr“, Heidi verstand meine Sorge sofort.

„Manni und Uwe haben sich im Sommer fürchterlich verkracht, als wir bei uns den Terrassengrill gebaut haben.“

Klar, ich wusste sofort Bescheid, denn mein Exgatte ist genauso ein Korinthenkacker wie Uwe und wenn von der Sorte zwei aufeinandertreffen, ist Holland in Not.

Um drei soll ich zum Kaffee da sein, abends gibt‘s Fondue und danach ist geselliges Beisammensein unterm Tannenbaum. Na, dann haben die wenigstens einen Baum. Weihnachten ohne Baum ist nix.

Wie lange war ich nicht mehr hier? Fünfzehn Jahre? Aber da hängen noch dieselben Gardinen. Die Jalousien sind halb runter, als wäre keiner zu Hause.

Heidi hat dieselben Klamotten an wie immer. Weiße Hosen, Sommer wie Winter, Turnschuhe und pastellfarbene Oberteile mit Stickerei vorne. Heute trägt sie rosa Nicki mit goldenen Bärchen. Die Bärchen haben karierte Baskenmützen auf. Das muss man mögen.

Heidi ist ordentlich dick geworden. Tamara würde sagen: „Timo.“ Das ist ihre Abkürzung für „Tittenmonster“.

Heidi nimmt immer noch rosa Lipgloss, aber sie hat ihn mehr auf den Zähnen als auf den Lippen.

Meine Güte, hier ist die Zeit stehengeblieben.

Das ist Uwes Elternhaus, Baujahr 1904. Ich glaube, sein Großvater ist schon in diesem Haus geboren. Wir haben als Kinder immer gesungen: „Leise rieselt der Kalk, bei Familie Schalk“. Weil das Haus so baufällig war.

Uwe und Heidi haben damals viel reingesteckt, als die Eltern tot und somit quasi aus dem Haus waren:

Laminat wurde ausgelegt, die Zimmerdecken mit weißen Styropor-Platten isoliert, die teure Küche eingebaut. Hier ist aber immer noch Einfachverglasung. Deshalb sind vielleicht die Jalousien runter. Heizkosten sparen? Es sieht aus wie immer.

Sogar die lila Teppiche und die Glitzertapete aus den Achtzigern hat sie noch. Und die dunkelblaue Küche mit der Arbeitsplatte in weinrot.

Da ist Uwe. Sieht aus, als säße der immer noch auf demselben Platz wie damals, als ich das letzte Mal hier war. Wie festgenagelt.

Jeans und Schlappen. Das macht man nicht. Wenn Besuch kommt, zieht man sich Schuhe an, wenigstens Schuhe, wenn schon kein gebügeltes Hemd möglich ist.

„Wir gehn in die Stube“, sagt Heidi, und ich erinnere ich, das Manni auch immer „Stube“ zum Wohnzimmer sagte, „Uwe macht noch sein Rätsel zu Ende.“

Rätsel? Ich sehe das Notebook auf dem Küchentisch. Daneben liegt eine Rätselzeitschrift. Uwe sagt:

„Ja! Kennste nich, oder was? Hält n Geist fit, da bleibste im Hirn bewechlich. Wenn ich was nich weiß, kuck ich auf Rätsellösungen Punkt d e und krich alles raus.“

Heidi zieht mich am Ärmel ins Wohnzimmer. Sie flüstert: „Der weiß ja nicht allzu viel. Der gibt jede Frage in sein Rätsellösungen Punkt d e ein und dann überträgt er die Antworten in die Zeitschrift und freut sich, wenn er das Lösungswort hat.“

Als ich lachen muss, sagt sie: „Psst“.

Sie zeigt auf den Tannenbaum: „Schön?“

„Schöner Baum, ja!“ sage ich.

Heidi geht hin und biegt einen Zweig um.

„Künstlich! Sieht man gar nicht, oder? Ich war es leid mit den teuren Blaufichten, erst die Schlepperei und die Sauerei im Kofferraum und dann das Genadel, die Bäume reihern alle so schrecklich und ich hab wochenlang die Nadeln in den Teppichen.“

„Schön“, sage ich, obwohl ich das schrecklich finde, „schön geschmückt.“ „Ach, das war da alles schon dran“, sagt Heidi und schnippt mit den Fingern gegen eine Kugel. Plastik. Den Baum klappt sie jedes Jahr am neunten Januar mitsamt Schmuck, Lametta und Lichtern zusammen, steckt ihn in einen alten Bettbezug und dann kommt er „ab in den Keller.“

Ich sag nix dazu.

Es gibt Kekse zum Kaffee. „Selbst gebacken“, sagt Heidi. Sie flüstert: „Aber aus dem Kühlregal: Ich nehme Teig-Rollen, da kann man sich Scheiben abschneiden, die muss man ein paar Minuten mit Backpapier auf dem Blech in den Ofen schieben und zack, sind die Kekse fertig. Ich hab keine Lust auf diese Sauerei in der Küche, Teig rühren, Mixer saubermachen, Mehl in allen Ritzen, außerdem sind diese viel billiger als komplett selbst gemachte.“ Ich nicke.

Heidi zeigt auf den riesigen Fernseher, der in einem beleuchteten Fach der schwarzen Anbauwand steht.

„Pass mal auf!“

Sie nimmt die Fernbedienung. Auf der Mattscheibe erscheint ein flackerndes Kaminfeuer.

„Sieht aus wie echt, oder?“ sagt Heidi.

„Ja“, sage ich, „riecht aber nicht so.“

„Stimmt, macht aber nicht so viel Dreck und Arbeit wie ein echter Kamin, für den man immer Holz kaufen und die Asche raus fegen muss, und dieser rußt natürlich nicht.“

Heidi raucht Kette. Uwe auch. So riecht es hier: Nach Generationen von Kettenrauchern.

Heidi fragt, ob mir der Kaffee schmeckt.

Geht, ja, danke, gut.

Sie erklärt, dass sie jede Tasse einzeln macht, aus Pads, die man in diese Maschine legen muss. „Ich war es leid, immer den Kaffeeprött in den Filtern zu haben, Kaffee kaufen, Filter kaufen, Maschine entkalken, dies ist viel praktischer.“

Ich frage, wie lange sie jetzt hier wohnen.

„Seit unserer Hochzeit, also fast dreißig Jahre.“

Heidi sagt, dass das Haus eigentlich viel zu groß sei, und alt sei es auch, jeden Monat gehe irgendwas kaputt, neulich die Heizung, dann brach im Keller ein Rohr, dann war ein Fensterrahmen verfault. Sie würden bald nur noch für die Reparaturen arbeiten.

„Warum sucht ihr euch keine Mietwohnung? Zwei Zimmer würden doch für euch beide jetzt reichen, und billiger wäre das auch?“, sage ich. Man braucht doch zu zweit kein ganzes Haus.

Uwe steht plötzlich vor uns. Ich hätte gar nicht gedacht, dass der uns in der Küche hören kann. Heidi sagt: „Hattest du wieder Dumbo-Ohren?“ Er geht nicht darauf ein.

Er sagt: „Ich wohn hier schon immer. Meine Eltern ham hier immer gewohnt, un unser Oppa is hier aufgewachsen. Warum soll ich fremde Leute mein Geld fürs Wohnen in ‘n Hintern schieben, wenn ich hier Eigenheim hab un tun un lassen kann, was ich will?“

Ich hatte vergessen, dass Uwe starken Dialekt spricht.

Jetzt wird Heidi fuchtig: „Weil mein ganzes Gehalt nur dafür gebraucht wird, um diese alte Hütte instand zu halten!“ Uwe zieht eine Augenbraue hoch und holt tief Luft.

Ich muss was sagen, die beiden ablenken, ich hab keine Lust, dass die sich jetzt streiten, es ist schließlich Heiligabend.

„Wo arbeitest du denn jetzt, Heidi?“, frage ich.

Uwe antwortet für sie: „Sie macht Schreibkram inne Bettenbude. Höken Heini, kennste nich?“

Ich zucke die Schultern.

„Wenn de am Zubringer dranne längs fährs, hinter Scheuermanns Klitsche, umme Schule rum un da is die Firma von Heinrich Höken. Meine macht da einen auf Sekretärin, also Tippse un Kaffeeköchin.“

Heidi ist weiß vor Wut. Sie sagt: „Ich habe vor zehn Jahren Computerkurse gemacht und dann als Schreibkraft angefangen. Erst halbtags, dann ganze Tage und seit fünf Jahren bin ich Chefsekretärin.“

Uwe schnaubt: „Cheftippse, jau.“

Heidi sagt zu mir: „Er kann das nicht ab, dass ich fast so viel verdiene wie er.“

Jetzt ist Uwe wieder dran: „Ich arbeite getz vierunddreißig Jahre bei Usol, seit ich inne Lehre kam, geh ich jeden Tach un jeden Tach denselben Wech um die dieselbe Zeit nache Arbeit un mache denselben Job. Un weisste was? So gehört sich das. Die Welt braucht zuverlässige Leute.“

Usol ist die Mülltonnen-Fabrik in der Nordstadt, die produzieren die gelben und die blauen Mülleimer für ganz Ostwestfalen. Uwe hat da gelernt und ist seitdem geblieben. Seit irgendwann ist er Werkmeister.

Ich weiß nicht, ob ich die Vorstellung gut oder gruselig finde. Vierunddreißig Jahre. Jeden Tag dasselbe.

Das muss man mögen.

Beide stecken sich eine neue Zigarette an. Heidi sagt, sie hätte mal versucht, aufzuhören, aber Uwe hätte nicht mitgezogen und deswegen hätte sie es auch nicht geschafft.

„Wieviel rauchst du so?“ frage ich, nur um was zu sagen. Sie überlegt und sagt: „Zwei Päckchen am Tag. Und er auch, auch zwei.“ Sie zeigt mit dem Kopf auf Uwe. Das ginge alles ganz schön ins Geld, sagt Heidi, vier Schachteln am Tag, und eine kostet fünf Euro.

„Teures Hobby. Habt ihr gar keine Angst wegen eurer Gesundheit?“ sage ich, und Uwe meint: „Pah! Wenn mir morgen ne Dachpfanne auf‘n Kopp knallt bin ich auch hin. Gefährlich lebste überall.“

Ich hab keine Lust, das weiter auszuführen und bin froh, als das Telefon klingelt. Uwe schlurft hin.

Heidi sagt: „Mal ganz unter uns, sobald ich genug gespart habe, ziehe ich hier aus.“

Ich erinnere mich plötzlich an einen Silvesterabend vor vielen Jahren, den wir zusammen verbrachten. Die Kinder waren noch klein. Damals hatte Heidi nach einigen Sambuca jedem erzählt, dass sie abhauen würde, sobald die Zwillinge aus dem Hause seien.

Die Zwillinge sind vor einigen Jahren ausgezogen. Ich seh mir Heidi an. Sie hat ostwestfälische Mundwinkel.

Früher hatten wir beim Bier oft das Thema Nummer eins. Thema Nummer eins war: Er will immer, sie hat nie Lust. Das war damals in jeder Familie das Problem. Ich kannte keine Frau, der wirklich danach zumute war.

Ich hab bei Manni immer mitgespielt, damit ich meine Ruhe hatte. Einmal die Woche hab ich mir meine sexy Sachen angezogen und hab ihn gelassen. Von Heidi weiß ich, dass sie Uwe nie ranließ. Jahrelang. Bei denen war immer Remmiddemmi nach so einem geselligen Abend, das erfuhr die ganze Nachbarschaft sonntags nach der Kirche, weil Krusebeckers von gegenüber das immer mitkriegten und gern davon erzählten.

Heute muss ich grinsen, wenn ich sonntags Familien mit zwei Kindern beim Spaziergang sehe.

Oft sind ganz gute Männer dabei. Sie haben ein Kind auf den Schultern und die Frau schiebt das zweite im Kinderwagen. Diese Frauen tragen ärmellose Westen von E-Sprit über schlichten Pullis, Jeans und Paul-Green-Schuhe. Ich weiß genau, dass solche Paare es nie machen, und dass sogar ich bei solchen Männern noch Chancen hätte, weil die sexuell gesehen auf dem Zahnfleisch gehen. Aber wer will das schon...

Was hat Heidi grad gesagt? Und den Job hätte sie auch dick bis obenhin, sie zeigt mit der Hand, bis wohin, und ihr Chef, der könnte sie sowieso mal am Arsch lecken. Es wäre bald soweit, dann wär sie weg.

Ich frage: „Und dein Mann?“

Sie winkt ab: „Ach der…, Vorsicht, der hat wieder Dumbo-Ohren, der hört uns auch, wenn er telefoniert.“

Uwe kommt zurück. „So, ich geh gleich spaziern, will einer mit?“

„Och Uwe, wir haben Besuch! Bleib hier. Es ist Heiligabend. Und außerdem regnet es in Strömen!“

Uwe macht ein Hohlkreuz und sagt: „Ich geh immer Heilichahmd spaziern! Genau wie ich Pfingstsonntach immer wandern geh un mir den Bredenkamper Posaunenchor am Mühlenteich anhöre! Muss auch Leute mit Sinn für Brauchtum gebn.“

Heidi schreit hinter ihm her, dass er sich aber die Schuhe draussen ausziehen soll, wenn er zurückkommt, sie hätte im Flur gewischt.

Sie macht mir noch einen Automatenkaffee und bringt eine Flasche Erdbeer-Wodka mit. Wir trinken davon einen doppelten aus geschliffenen Likörschalen und Heidi schüttelt sich. „Damit überall was hinkommt!“, sagt sie. Und dann meint sie, dass man auf einem Bein nicht stehen kann und schüttet uns noch einen doppelten ein. Wenn das so weitergeht, kann ich kein Fondue mehr essen. Das ist überhaupt die Idee.

Ich tue so, als wäre mir schlecht und geh nach Hause. Es war keine gute Idee, hierher zu kommen. Das hat schlechtes Karma.

Da arbeiten zwei Leute den ganzen Tag in Jobs, die sie beschissen finden, damit sie mit jemandem, den sie nicht ausstehen können, in einem Haus leben können, in dem sie sich nicht wohl fühlen.

Die sind irgendwie schon tot. Die haben nur vergessen umzufallen.