Unterwegs

Jackson, Mich. (AP) – Ein halbwüchsiges Mädchen und sein zwölfjähriger Bruder wurden am Samstag von der Polizei wegen Mordversuchs an den Eltern festgenommen. Sie sollen, als diese schliefen, Benzin auf deren Bett geschüttet und es angezündet haben. Ihre Eltern, erzählten die Kinder der Polizei, seien »zu streng und meckerten immer«. Mr. und Mrs. Sterling Baker erlitten Verbrennungen, die über 50 Prozent ihrer Körperoberfläche betrafen, wurden aber in einigermaßen stabilem Zustand in ein Krankenhaus eingeliefert.


Des Moines Tribune, 13. Juni 1959

Jeden Sommer, wenn die Schulferien schon eine Weile lang währten und die Eltern einen keinen Tag länger ertragen konnten, kam der allseits gefürchtete Moment, in dem sie einen nach Riverview schickten, einem kleinen, verrotteten Rummelplatz in einem öden Einkaufsviertel am nördlichen Ende der Stadt. Man bekam zwei Dollar in die Tasche und die Anweisung, sich mindestens acht Stunden lang zu amüsieren, wenn möglich, länger.

Auf dem Riverview-Rummelplatz war alles ganz furchtbar. Die Achterbahn, ein Massiv von Himalajaausmaßen aus alterndem Holz war die baufälligste, vertrauenzerstörendste Anlage der Welt. Die Wagen waren innen und außen mit 35 Jahre altem verschüttetem Popcorn und hysterisch Erbrochenem verschmutzt. Das Ganze war 1920 erbaut worden, und man spürte sein Alter in jedem ächzenden Gelenk und jeder abgesplitterten Querverstrebung. Es war enorm groß – ungefähr sechs Kilometer lang, glaube ich, und 3600 Kilometer hoch. Es war das bei weitem furchteinflößendste Karusell, das je gebaut wurde. Die Leute schrien nicht mal, wenn sie darin saßen; sie waren zu versteinert, um überhaupt einen Laut von sich zu geben. Wenn die Achterbahn fuhr, bebte der Boden immer heftiger, und ein Schauer – eigentlich eine Lawine – Staub und uralter Vogeldreck ergoss sich aus ihrem versifften Gestänge. Einen Moment später kam die erste Ladung Erbrochenes.

Die Burschen, die an den Karusells arbeiteten, waren alle ein getreuer Abklatsch von Richard Speck, dem Chicagoer Massenmörder. Ihr Arbeitsleben verbrachten sie damit, an Pickeln herumzudrücken und mit Gruppen aufgekratzter junger Frauen mit weißen Socken zu plaudern, die sich aus unerfindlichen Gründen um sie scharten. Die Karussells hatten keine Zeitschalter. Wenn sich die dort Arbeitenden also in ihre Kartenverkaufshäuschen zurückzogen, um sexuell aktiv zu werden, oder wenn sie beim Auftauchen von zwei Männern mit Haftbefehlen über den Zaun und eine weite offene Fläche dahinter flohen, blieben die Leute auf unbegrenzte Zeit in dem fahrenden Karussell – tagelang, wenn der Angestellte mit einem entscheidenden Schlüssel oder einer wichtigen Kurbel getürmt war. Ich kannte einen Jungen, der Gus Mahoney hieß und den Beschleunigungskräften so lange ausgesetzt war, dass er noch drei Monate später sein Haar nicht nach vorn kämmen konnte und seine Ohren an seinem Hinterkopf fast zusammenstießen.

Auch bei den Autoscootern herrschte ein geradezu irrsinniges Treiben. Aus der Ferne sah der Autoscooter-Palast wie eine Schweißerwerkstatt aus, weil die Funken in Massen von der Decke regneten, stets in das Auto mit einem selbst zu fallen drohten und damit die Fahrt natürlich noch irrsinniger machten. Die Herren, die dort arbeiteten, erlaubten nicht nur Frontalzusammenstöße, sondern ermunterten regelrecht dazu. Die Autos waren derart hochgetunt, dass sie in dem Moment, in dem man – wie leicht oder behutsam auch immer – auf das Gaspedal trat, mit einem Höllentempo losschossen und der eigene Kopf nur noch eine heulende Kugel am Ende eines peitschenähnlichen Stängels war. Und waren sie erst einmal in Bewegung, verlor man jegliche Kontrolle über sie. Sie berührten den Boden kaum noch, sondern flogen wie wild durch die Gegend, bis sie gegen etwas Solides krachten und man jäh die Gelegenheit bekam, das Steuerrad von sehr nahem zu inspizieren.

Am schlimmsten war es, wenn man in einem Auto gefangen saß, das launisch oder lahm war oder komplett zusammenbrach, weil vierzig andere Fahrer – viele von ihnen kleine Kinder, die noch nie zuvor die Chance gehabt hatten, ihre Aggressionen an etwas Größerem als einer nervösen Kröte auszulassen – mit ungezügelter Begeisterung aus allen nur denkbaren Winkeln auf einen zuflogen. Einmal sah ich, wie ein Junge aus dem zusammengebrochenen Auto ausstieg, während die allgemeine Hatz noch andauerte – dabei wusste man, dass man genau das nie und nimmer tun durfte. Als er die Füße auf den Metallboden setzte, sprangen ihn aus allen Richtungen mehr als 2000 knisternde bläuliche Stromfäden an, er leuchtete auf wie ein Lampion und verwandelte sich in eine Art lebendes Röntgenbild. Man sah jeden Knochen in seinem Körper und fast alle seine größeren Organe. Benommen taumelte er durch den heftigen Verkehr auf die Bande zu und schaffte es wie durch ein Wunder, jedem Auto, das auf ihn zugerast kam – und das waren natürlich alle –, auszuweichen, bevor er auf dem stoppeligen Gras draußen kollabierte, wo er, ein wenig aus dem Oberkopf qualmend, liegen blieb und jemanden bat, seiner Mom auszurichten, dass er sie liebe. Doch abgesehen von einem anhaltenden Klingeln in den Ohren erlitt er keine größeren Schäden. Nur die Zeiger auf seiner Zorro-Uhr blieben für immer auf zehn nach zwei stehen.

Es gab nichts in Riverview, das nicht schrecklich war. Selbst der Tunnel of Love war eine Tortur. Im ersten Boot war immer ein Scherzkeks, der einen Klumpen üblen Schnodders herauswürgte und mit einem mächtigen »Pffwuup!« an die niedrige Decke beförderte – eine Aktion, die als »einen Louie hängen« bekannt war. Der Schnodder-Stalaktit blieb ein Weilchen haften und glitt dann auf das Gesicht des Insassen in einem folgenden Boot herunter. Das eigentliche Kunststück beim erfolgreichen Louie-Hängen – und ich spreche hier als Experte – hatte aber nichts mit dem Auswurf zu tun, sondern damit, wie schnell man wegrennen konnte, wenn das Boot anhielt.

In Riverview lernte man auch, dass die Jugend von der anderen Seite der Stadt einen tot sehen wollte und jede Gelegenheit beim Schopfe ergriff, um einen in diesen Zustand zu versetzen. Die Kids aus dem Bezirk Riverview, die zu einer derart trostlosen, charakterlosen Highschool gingen, dass sie nicht mal einen richtigen Namen, sondern nur eine geografische Bezeichung hatte – North High –, hassten Kids von der Theodore Roosevelt Highschool, einer Hochburg der Privilegierten, des Wohlstands und des edlen Schuhwerks. Einerlei, wo man sich in Riverview herumtrieb und besonders wenn man sich von seiner Gruppe entfernte (oder Milton Milton war, der keine Gruppe hatte) – die Chancen standen immer gut, dass man ins Gebüsch gezerrt, zügig verprügelt und um sein Portemonnaie, seine Schuhe, Eintrittskarten und Hosen erleichtert wurde. Irgendein Junge (jetzt, wo ich es recht bedenke, war es stets Milton Milton) wanderte immer – unter Schock – in schlabbernden Unterhosen herum oder stand unten an der Achterbahn und heulte ohnmächtig seine Jeans an, die von einem Sparren 120 Meter über der Erde baumelten.

Ich kannte Kinder, die ihre Eltern anflehten, sie nicht im Riverview auszusetzen, deren Finger mit Gewalt von Autotürgriffen gerissen und von jedem Paar Beine vorübergehender Erwachsener weggezerrt werden mussten, die mit ihren Absätzen 15 Zentimeter tiefe Furchen im Staub hinterließen, wenn sie vom Auto zur Eingangstür gezogen und mit den Worten »Amüsier dich« durch das Drehkreuz geschubst wurden. Es war, als würde man in einen Löwenkäfig geworfen.


Das einzige Vergnügen im Jahr, auf das sich tatsächlich alle sehr freuten, war die Iowa State Fair, die Ende August auf einem enormen Messegelände weit draußen am östlichen Rand der Stadt abgehalten wurde. Es war eine der größten Messen der Nation; der Film Jahrmarkt der Liebe basierte auf der Iowa State Fair und wurde auch dort gedreht, was uns alle mit eigenartigem Stolz erfüllte, obwohl wir niemanden kannten, der den Film gesehen hatte oder etwas darüber wusste.

Die State Fair wurde immer während der stickigsten, schwülsten Zeit des Jahres abgehalten. Stets war man in Schweiß gebadet, aß und trank ekliges Zeug – Sno Cones, Zuckerwatte, Eis am Stiel, Eissandwiches, ellenlange Hot Dogs, die in pampigem Relish schwammen, eimerweise die zuckersüßeste Limonade der Welt – und verwandelte sich zum Schluss in ein wandelndes Fliegenpapier, von Kopf bis Fuß mit farbenfrohen Flecken und festklebenden, halbtoten Insekten bedeckt.

Auf der State Fair wurde in der Hauptsache das Leben in der Landwirtschaft gefeiert. Es gab riesige Hallen voller Steppdecken, Marmelade, fransigen Maiskolben und Tischen, auf denen kuppelförmige Pasteten mit einem Durchmesser wie Autoreifen ausgebreitet waren. Alles, was man anbauen und züchten, kochen, einmachen oder nähen konnte, wurde aus allen Ecken und Enden des Bundesstaates gewissenhaft nach Des Moines verbracht, wo man hitzige Wettbewerbe darüber ausfocht. In einer Halle der Wunder, bekannt als Haus der Gewerbe, wurden glänzende neue Traktoren und andere Industrieprodukte ausgestellt, und jedes Jahr gab es eine so genannte Butterkuh, eine lebensgroße Kuh, die aus einem gigantischen (na ja, kuhgroßen) Stück Butter geschnitzt war. Sie wurde als eines der Wunder von Iowa (und weit darüber hinaus) betrachtet und zog immer eine staunende Zuschauermenge an.

Hinter den Ausstellungshallen gab es Reihen gewaltig stinkender Pavillons, alle mehrere Morgen groß und voller, meist von Mastschweinen bewohnter Tierpferche, und man genoss den unvergleichlichen Anblick Hunderter junger Männer, die in der Hoffnung, ein buntes Satinband zu gewinnen und Grundy Center oder Pisgah Ehre zu machen, ihr geliebtes Borstenvieh eifrig polierten, shampoonierten und striegelten. Eine merkwürdige Art, Ruhm zu suchen.

Für die meisten Leute war die eigentliche Attraktion der Ausstellung der Mittelweg mit seinen lauten Karrussells, den Glücksspielen und allen möglichen anderen verlockenden Darbietungen. Und der Traum aller Jungs war das Zelt der Stripperinnen.

Das Zelt der Stripperinnen hatte die hellsten Lichter und die fetzigste Musik. Von Zeit zu Zeit brachte der Anpreiser ein paar der Mädchen, keusch gewandet, heraus und ließ sie auf einer kleinen Bühne draußen paradieren, wobei er uns allen direkt in die Augen schaute und andeutete, dass diese Mädchen sich keine größere Freude im Leben vorstellen konnten, als einem Publikum aus bewundernden, heißblütigen jungen Männern einen Blick auf ihre natürlichen Reize zu gewähren. Die Mädchen sahen alle erstaunlich gut aus, doch das lag vielleicht daran, dass ich allein schon bei dem Gedanken 45 Grad Fieber bekam, mich auf demselben Planeten wie diese wunderbar entgegenkommenden jungen Frauen zu befinden. Womöglich war ich ja bereits im Delirium.

Dumm war nur, dass wir zwölf Jahre alt waren, als wir uns ernsthaft für das Stripperinnenzelt zu interessieren begannen, man aber 13 sein musste, um hineingelassen zu werden. Ein am Eintrittskartenschalter baumelndes Schild ließ daran keinen Zweifel. Doug Willoughbys älterer Bruder Joe war 13, ging hinein und kam, zehn Zentimeter über dem Boden schwebend, wieder heraus. Er sagte nicht viel mehr, als dass er für 35 Cents in seinem ganzen Leben noch nichts Besseres gekriegt hätte. Er war so hingerissen, dass er noch drei Mal hineinging und behauptete, es sei mit jedem Mal besser.

Natürlich umkreisten wir das Stripperinnenzelt wiederholt auf der Suche nach irgendeinem Riss, doch es war das Fort Knox der Messezelte. Der Stoff war am Saum Millimeter um Millimeter in den Boden gepfählt, jede Metallöse solide abgedichtet. Man hörte Musik, man hörte Stimmen, man sah sogar die dunklen Umrisse der Zuschauer, konnte aber nicht den Schatten einer weiblichen Gestalt erkennen. Selbst Doug Willoughby, der einfallsreichste Mensch, den ich kannte, war perplex. Das Wissen, dass sich zwischen uns und der lebenden, atmenden weiblichen Haut im Naturzustand nur diese wogende Zeltwand spannte, war die reinste Folter, doch wenn Willoughby keinen Weg hinein fand, dann gab es keinen. Basta.

Ein Jahr darauf trug ich jedes Stück Papier zusammen, das ich finden und mit dem ich mich ausweisen konnte – Schulzeugnisse, Geburtsurkunde, Büchereiausweis, eine ausgebleichte Mitgliedskarte des Sky-King-Fan-Clubs, alles, was auch nur vage mein Alter anzeigte –, und ging mit Buddy Doberman direkt zum Zelt. Es war im Stil von Alberto Vargas mit lebensgroßen Bildern kurviger Pin-up-Girls neu bemalt und sah sehr verheißungsvoll aus.

»Zwei Mal erste Reihe, bitte«, sagte ich.

»Zieht Leine!«, sagte der angegraute Mann, der die Eintrittskarten verkaufte. »Für Kinder Eintritt verboten.«

»Aber ich bin 13«, sagte ich und begann aus meinen Ordnern die offiziellen Bestätigungen hervorzuziehen.

»Nicht alt genug«, sagte der Mann. »Ihr müsst 14 sein.« Er schlug an das baumelnde Schild. Die ›13‹ darauf war mit einem rechteckigen Stück Pappe bedeckt, auf dem ›14‹ stand.

»Seit wann?«

»Seit diesem Jahr.«

»Aber warum?«

»Neue Regelungen.«

»Das ist ungerecht.«

»Junge, wenn du was zu meckern hast, wende dich an deinen Kongressabgeordneten. Ich kassiere hier nur.«

»Ja, aber …«

»Du hältst die hinter dir Stehenden auf.«

»Ja, aber …«

»Zieh Leine!«

Buddy Doberman und ich schlichen unter den höhnischen Blicken einer Schlange junger Männer von dannen. »Kommt wieder, wenn ihr groß seid«, witzelte einer, der bestimmt aus Idiotville kam und sich prompt unter einer vernichtenden Dosis ThunderGaze auflöste.

In das Stripperinnenzelt zu kommen sollte ab sofort die Hauptsorge meiner Pubertätsjahre werden.


Da es uns einen Großteil des Jahres an Unterhaltung mangelte, wie sie uns in Riverview oder auf der State Fair geboten wurde, gingen wir ins Stadtzentrum und vertrieben uns dort die Zeit. Uns die Zeit vertreiben konnten wir extrem gut. Die Samstagmorgen verbrachten wir in erster Linie damit, uns erhabene Positionen zu suchen – auf Dächern von Bürogebäuden, den Fenstersimsen langer Flure in den großen Hotels – und weiche oder nasse Gegenstände auf die Einkaufenden darunter zu werfen. Wir streiften auch viele glückliche Stunden lang hinter den Kulissen großer Kaufhäuser und Bürogebäude umher, schauten in Besenkammern und Büromaterialschränke, experimentierten mit dampfenden Ventilen in Heizungskellern und bohrten Kisten in Lagerräumen an.

Der Trick dabei war, sich nie heimlichtuerisch zu gebärden, sondern immer so zu tun, als begreife man gar nicht, dass man am falschen Ort sei. Begegnete man einem Erwachsenen, vermied man Festnahme oder Arrest, wenn man sofort eine dämliche Frage stellte: »Entschuldigen Sie, Mister, ist das der Weg zu Dr. Mackenzies Büro?« Oder »Können Sie mir bitte sagen, wo die Männertoilette ist?« Diese Vorgehensweise war todsicher. Frohgemut in sich hineinlachend, geleitete uns dann ein verständnisvoller Hausmeister zurück ans Tageslicht und schickte uns mit einem Klaps auf den Kopf fort, nicht ahnend, dass wir unter der Jacke 13 Rollen Isolierband, zwei kleine Feuerlöscher, eine Rechenmaschine, einen halb pornografischen Kalender von seiner Bürowand und eine wahrhaft tödliche Heftmaschine versteckt hatten.

Samstags konnte man normalerweise auch in Matineen gehen, bei denen meist zwei von den Filmen gezeigt wurden, in die mich meine Mutter nicht mitnahm – The Man from Planet X, Godzilla kehrt zurück, Zombies from the Stratosphere, oder Streifen, für die mit »Halb Mann, halb Tier, aber GANZ MONSTER« geworben wurde. Und als Dreingabe gab es auch noch etliche Zeichentrickfilme und ein paar Kurzfilme der Three Stooges, damit wir in Stimmung kamen. In den Hauptfilmen kamen gewöhnlich ein paar reizbare, sich ruckartig bewegende Dinosaurier vor, ein Schwarm mutierter Rieseninsekten und mehrere tausend ernsthaft verstörte Japaner, die direkt vor einer gewaltigen Flutwelle oder einem stampfenden Fuß durch die Straßen einer Großstadt rannten.

Die Filme waren fast immer billig gemacht, schlecht gespielt und weitgehend unverständlich, aber das machte gar nichts, denn bei den Samstagsmatineen ging es nicht darum, einen Film anzuschauen. Es ging darum, wie verrückt herumzupesen, Krach zu machen, sich mit Bonbonwerfen heiße Gefechte zu liefern und dafür zu sorgen, dass jede horizontale Fläche mindestens zehn Zentimeter hoch mit Popcorn und leeren Behältern bedeckt war. Im Wesentlichen waren die Matineen eine Einladung an 4000 Kinder, vier Stunden lang in einem großen verdunkelten Raum zu randalieren.

Vor der Vorstellung kam der Kinobetreiber, fast immer ein schlechtgelaunter Glatzkopf mit Fliege und sehr rotem Gesicht, auf die Bühne und verkündete drohend, dass jedes Kind – ausnahmslos jedes –, das beim Bonbonwerfen oder beim Versuch, Bonbons zu werfen, erwischt würde, am Schlafittchen gepackt und in die wartenden Arme der Polizei abgeführt würde. »Ich beobachte euch alle, und ich weiß, wo ihr wohnt«, sagte der Mann immer und richtete einen letzten bösen, drohenden Blick auf uns. Dann verloschen langsam die Lichter, und bis zu 20 000 Bonbons flogen durch die Luft und regneten auf ihn und die Bühne herab.

Manchmal war der Film so beliebt oder der Kinobetreiber so unbedarft und naiv, dass die Ränge geöffnet wurden, womit 1000 und mehr überglückliche Kids die Gelegenheit bekamen, nasse und klebrige Substanzen auf die wehrlosen Horden unter ihnen zu kippen. Einmal wurde die Leitung des Paramount Theater einem tragisch netten jungen Mann übertragen, der in seinem Berufsleben noch nie mit Kindern zu tun gehabt hatte. Er führte eine Pause ein, in der Kinder, die Geburtstag hatten, eine Karte ausfüllen konnten, und dann auf die Bühne gerufen wurden, wo sie sich aus einer großen Kiste ein Spielzeug, eine Schachtel Konfekt oder einen Geschenkgutschein angeln durften. In der zweiten Woche hatten 11000 Kinder Geburtstagskarten ausgefüllt. Viele machten unter jeweils leicht modifizierten Identitäten sieben oder acht Trips zur Bühne. Sowohl der junge Mann als auch die Gratisgeschenke waren nach drei Wochen verschwunden.

Doch selbst, wenn die Matineen normal durchgeführt wurden, waren sie ökonomisch unsinnig. Jedes Kind gab 35 Cents für den Eintritt und dann noch einmal 35 für ein Getränk und Süßigkeiten aus, verursachte aber 4,25 Dollar an Kosten für Reparaturen, Reinigung und Kaumgummientfernen. Die Matineen fanden dann auch in immer wieder anderen Kinos statt – im Varsity, Orpheum, Holiday oder Hiland –, weil die Betreiber irgendwann entnervt aufgaben oder die Stadt verließen.

Hin und wieder verteilten die Filmstudios oder ein Sponsor an der Eingangstür Geschenke. Da waren sie fast immer schlecht beraten. Bei der Premiere von Die Vögel gab das Orpheum an die ersten 500 Kinobesucher Einpfundtüten mit Vogelfutter. Können Sie sich vorstellen, Vogelfutter an 500 Kinder zu verschenken, die gleich ohne Aufsicht in einem dunklen Saal sind? Eine wenig bekannte Tatsache über Vogelfutter ist nämlich, dass die Körner, in Coca-Cola eingeweicht und durch einen Strohhalm ausgespien, mit Geschwindigkeiten bis zu 1 Mach 60 Meter weit fliegen können und wie Leim an allem festkleben – Wänden, Decken, Kinoleinwänden, weichem Stoff, kreischenden Platzanweiserinnen, Rücken und Hinterkopf des Kinobetreibers, an allem.

Wenn die Filme schlecht waren, ging die echte Action draußen im Foyer ab, und niemand saß dann lange still. Ungefähr alle halbe Stunde oder öfter (wenn auf der Leinwand keiner mit einem Pfahl im Auge oder einem Beil im Schädel herumtaumelte), stand man auf und schaute nach, ob in den öffentlichen Bereichen des Kinos etwas war, das zu erkunden sich lohnte. Zusätzlich zu den Verkaufsständen im Foyer gab es zum Beispiel häufig noch Verkaufsautomaten in dunklen unbewachten Ecken, und die waren immer genaueres Hinsehen wert. Allgemein war man der Überzeugung, dass sich direkt über der Stelle, wo die Becher herausplumpsten oder die Schokoriegel herausglitten – gerade außer Reichweite, doch verführerisch nahe –, mehrere kleine Hebel und Schalter befanden, die man nur in Bewegung zu setzen brauchte, und schon würden alle Süßigkeiten auf einmal herauspoltern. Womöglich wurde auch noch der Wechselgeldmechanismus aktiviert und dann eine Kaskade silberner Münzen ausgespuckt. Doug Willoughby brachte einmal eine kleine Taschenlampe und einen Spiegel mit gebogenem Stiel, wie ihn Zahnärzte benutzen, mit, schaute sich in den Innereien eines Verkaufsautomaten im Orpheum gründlich um und war forthin sicher, wenn er jemanden mit ausreichend langen Armen fände, könnte er sich den Automaten zu Diensten machen.

Stellen Sie sich seine entzückte Miene vor, als ihm eines Tages jemand einen Jungen anschleppte, der zwei Meter zehn groß war, 40 Pfund wog und Arme wie Gartenschläuche hatte. Am allerbesten: Er war doof und brav. Angespornt von einer Zuschauerschar, die rasch zu einer zweihundertköpfigen Menge anwuchs, kniete sich der Junge gehorsam hin, steckte seinen Arm in den Automaten und stocherte nach Willoughbys Anweisungen darin herum. »Jetzt ein bisschen nach links«, sagte Willoughby, »an dem Kondensator vorbei unter die Magnetspule und schau, ob du nicht einen Klappdeckel findest. Das müsste dann die Box mit dem Wechselgeld sein. Fühlst du sie?«

»Nein«, erwiderte der Junge und Willoughby fädelte noch ein Stück Arm ein.

»Kannst du sie jetzt fühlen?«, fragte Willoughby.

»Nein, aber – Autsch!«, sagte der Junge plötzlich. »Ich habe gerade einen schweren Schlag abgekriegt.«

»Das ist bestimmt die Erdungsschelle«, sagte Willoughby. »Berühr die nicht noch mal. Ich meine, berühr die wirklich nicht noch mal. Versuch drum herum zu gehen.« Er schob noch ein Stück Arm ein. »Fühlst du die Box jetzt?«

»Ich fühle überhaupt nichts mehr, mein Arm ist eingeschlafen«, sagte der Junge nach einer Weile und fügte dann hinzu: »Außerdem hänge ich fest. Ich glaube, mein Ärmel hat sich in irgendwas verfangen.« Er verzog das Gesicht und manövrierte seinen Arm hin und her, bekam ihn aber nicht frei. »Jetzt hänge ich wirklich fest«, sagte er schließlich.

Jemand holte den Kinobetreiber. Ein, zwei Minuten später eilte der in Begleitung eines seiner rüpeligen Helfer herbei.

»Was zum Teufel!«, knurrte er und zwängte sich durch die Kindermassen. »Platz da, Platz da. Verdammt und zugenäht. Was zum Teufel. Was zum Teufel ist hier los? Verdammte Bande. Platz da, Junge! Verdammt und zugenäht zum Teufel. Verdammich. Verdammich. Was zum Teufel.« Als er sich einen Weg durch die Zuschauer gebahnt hatte, sah er voller Erstaunen und Empörung, wie ein Junge obszönerweise die Innereien eines seiner Verkaufsautomaten schändete. »Teufel, was machst du da, Freundchen? Komm mit deinem Arm da raus!«

»Kann ich nicht. Ich hänge fest.«

Der Besitzer riss an dem Arm des Jungen. Der jaulte vor Schmerz auf.

»Wer hat dich dazu angestiftet?«

»Die alle.«

»Ist dir klar, dass es strafbar ist, innen in einem Food-O-Mat-Automaten herumzufummeln?«, sagte der Kinomensch, während er noch mehr an dem Arm zerrte und der Junge noch mehr jaulte. »Das gibt Ärger, junger Mann. Ich werde dich höchstpersönlich zur Polizeiwache eskortieren. Ich will gar nicht daran denken, wie lange du in der Besserungsanstalt schmoren wirst, aber bei deiner nächsten Matinee, da rasierst du dich schon, Freundchen.«

Der Arm des Jungen kam nicht frei, war dafür aber jetzt mehrere Zentimeter länger als vorher. Klirrend zückte sein Ankläger einen riesigen Schlüsselring – bei dessen Anblick ein Mann wie er bestimmt sofort alle anderen Pläne hatte fallen lassen und ins Kinogeschäft eingestiegen war –, schloss den Automaten auf und riss die Tür auf, wobei er den protestierenden Jungen mitzerrte. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wurde das Innenleben eines Verkaufsautomaten dem Blick von Kindern preisgegeben. Willoughby zückte Bleistift und Notizbuch und begann mit der Rohzeichnung. Der Anblick von 200 übereinandergestapelten Schokoriegeln, jeder in seinem kleinen schrägen Steckloch, war überwältigend.

Während der Besitzer sich vorbeugte und versuchte, Arm und Hemd des Jungen von der Tür zu befreien, langten 200 Hände an ihm vorbei und befreiten den Automaten geschickt von seiner Ladung.

»He da!«, sagte der Besitzer, als er begriff, was passierte, und entriss wutschäumend einem vorbeigehenden kleinen Jungen eine große Schachtel Milk Duds.

»Hey, die gehört mir!«, protestierte der Junge, holte sich die Schachtel zurück und hielt sie mit beiden Händen fest. »Die gehört mir! Die habe ich bezahlt!«, schrie er, während seine Füße 20 Zentimeter über dem Boden ruderten. Als die beiden weiter um die Schachtel rangen, riss sie, und der Inhalt flog heraus. Da schlug der Junge die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. 200 gellende Stimmen beschimpften den Besitzer und wiesen ihn darauf hin, dass in dem Food-O-Mat-Automaten gar keine Milk Duds waren. Während dieser momentanen Verwirrung schlüpfte der Junge mit den langen Armen aus seinem Hemd und floh oben ohne zurück in den Kinosaal – ein Akt erstaunlicher Eigeninitiative, bei dem alle anderen den Mund vor Bewunderung aufsperrten.

Der Besitzer wandte sich an seinen rüpeligen Helfer. »Hol den Jungen, und bring ihn in mein Büro.«

Der Helfer zögerte. »Ich weiß doch gar nicht, wie er aussieht«, sagte er.

»Wie bitte?«

»Ich habe sein Gesicht nicht gesehen.«

»Er hat kein Hemd an, du Depp! Er läuft mit nackter Brust rum.«

»Yeah, aber davon weiß ich immer noch nicht, wie er aussieht«, murmelte der Mann und marschierte mit zuckender Taschenlampe in den Zuschauerraum.

Der Junge mit den langen Armen ward nie wieder gesehen. 200 Kinder bekamen Gratissüßigkeiten. Willoughby konnte das Innere eines Verkaufsautomaten studieren und fand heraus, wie er funktionierte. Es war ein seltener Sieg für die Bewohner der Kinderwelt über die dunklen, repressiven Mächte der Erwachsenenwelt. Es war auch das letzte Mal, dass es im Orpheum eine Matinee gab.


Willoughby war der schlaueste Mensch, den ich je kennen gelernt habe, beschlagen insbesondere auf technischem und naturwissenschaftlichem Gebiet. Als er mir die Skizze zeigte, die er gemacht hatte, als die Automatentür auf war, sagte er: »Es ist erstaunlich simpel. Ich konnte kaum glauben, wie wenig kompliziert es ist. Das Ding hat nicht mal eine interne Trennwand oder ein Rückflussgatter oder so was. Ist denn das zu fassen?«

Ich deutete an, dass auch meine Verblüffung keine Grenzen kannte.

»Es gibt nichts, das gegenläufiges Eindringen verhindert – nichts«, sagte er, verwundert den Kopf schüttelnd, und verstaute die Pläne in seiner Gesäßtasche.

In der Woche darauf gab es keine Matinee, sondern wir schauten uns Das war der Wilde Westen an. Nachdem der Film eine halbe Stunde gelaufen war, nahm Willoughby mich mit zum Food-O-Mat-Automaten, langte in seine Jacke und holte zwei ausziehbare Autoantennen heraus. Er zog sie heraus, schob sie in den Automaten, fuchtelte kurz damit herum und herunter kam eine Schachtel Dots.

»Was willst du?«, fragte er mich.

»Könnte ich ein paar Red Hots haben?«, erwiderte ich. Ich liebte Red Hots.

Er wackelte noch einmal, und eine Schachtel Red Hots glitt heraus. Und so kam es, dass Willoughby mein bester Freund wurde.

Er war unglaublich gescheit. Er war der erste Mensch, der mit mir einer Meinung über die Bizarro World war, die Welt, in der alles rückwärts vonstatten ging, doch er nannte weit raffiniertere Gründe als ich.

»Es ist absurd«, stimmte er mir zu. »Und denk mal, was es in der Mathematik anrichten würde. Es gäbe keine Primzahlen mehr.«

Ich nickte zaghaft. »Und wenn ihnen schlecht ist, müssten sie die Kotze wieder in den Mund saugen«, fuhr ich fort, um das Gespräch auf sichereres Terrain zu lenken.

»Die Geometrie würde vollkommen den Bach runtergehen«, sagte Willoughby dann und zählte alle Lehrsätze auf, die in einer rückwärtslaufenden Welt keinen Bestand mehr hätten.

Gespräche, in denen wir über das Gleiche, doch aus meilenweit voneinander entfernten Perspektiven redeten, führten wir oft. Es war aber immer noch besser, als mit Buddy Doberman über die Bizarro World zu sprechen; der war nämlich überrascht, dass sie gar nicht existierte.

Willoughby war genial darin, selbst wenig vielversprechenden Situationen Spaß abzugewinnen. Einmal holte uns sein Vater vom Kino ab, musste aber, bevor wir nach Hause fuhren, erst noch bei der Stadtverwaltung vorbei, um seine Grundsteuern oder sonst was zu bezahlen. Wir saßen also 20 Minuten lang im Auto an einer Parkuhr vor einem Bürogebäude in der Cherry Street. Eine weniger vielversprechende Situation kann man sich ja nun eigentlich nicht vorstellen, doch kaum war Willoughbys Vater um die Ecke gebogen, sprang Willoughby aus dem Auto und verdrehte den Scheibenwischer – ich wusste nicht einmal, dass man das konnte –, so dass er auf den Bürgersteig gerichtet war, setzte sich dann auf den Fahrersitz und sagte mir, ich dürfe unter keinen Umständen mit einem der Vorübergehendem Blickkontak aufnehmen oder mir anmerken lassen, dass ich ihn sähe. Jedes Mal, wenn dann jemand vorbeilief, bespritzte er ihn mit Wasser – und glauben Sie mir, Autoscheibenwischer stoßen eine Menge Wasser aus, erstaunlich viel.

Die Opfer blieben sprachlos und verblüfft an der Stelle stehen, an der sie durchnässt worden waren, und schauten argwöhnisch in unsere Richtung – doch wir hatten die Fenster geschlossen und schienen sie absolut nicht zu bemerken. Wenn sie sich dann umdrehten und das Gebäude hinter sich beäugten, verpasste ihnen Willoughby einen weiteren Wasserschwall in den Nacken. Es war herrlich, so viel Spaß hatte ich noch nie gehabt. Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre ich immer noch dort. Wer kam schon auf die Idee, Autoscheibenwischer zu Vergnügungszwecken zu benutzen?


Auch Willoughby liebte Bishop’s über die Maßen, doch er war als Gast viel kühner und fantasievoller, als ich es je hätte werden können. Gern schaltete er die Tischlampe ein und schickte die Kellnerinnen mit seltsamen Bitten los.

»Kann ich bitte einen Angosturabitter haben?«, sagte er zum Beispiel mit der Unschuldsmiene eines Chorknaben. Oder: »Bitte, kann ich ein paar neue Eiswürfel haben, diese sind doch sehr missraten.« Oder: »Haben Sie ganz eventuell eine Schöpfkelle und eine Zange übrig?« Und dann stapfte die Kellnerin von dannen und sah nach, was sie für ihn tun konnte. Irgendetwas in seinem fröhlichen Gesicht brachte andere dazu, ihm immer gern einen Gefallen zu tun.

Ein anderes Mal zog er mit einem gewissen theatralischen Schwung ein adrett gefaltetes weißes Taschentuch aus der Tasche, dem er einen perfekt konservierten, großen, schwarzen, flachen, potthässlichen Hirschkäfer mit Zangen entnahm – in Iowa hießen diese Viecher Junikäfer. Er ließ ihn in seiner Tomatensuppe zu Wasser. Der Käfer trieb wunderschön auf der Suppe. Man konnte fast auf den Gedanken kommen, er sei zu diesem Zwecke geschaffen worden.

Dann schaltete Willoughby die Tischlampe ein. Eine Kellnerin kam, erspähte den Käfer, ließ kreischend ein leeres Tablett fallen und holte den Restaurantleiter, der herbeihastete. Er gehörte zu den Leuten, die ständig so gestresst sind, dass selbst ihre Haare und ihre Kleidung unter Hochspannung stehen. Er sah aus, als sei er gerade einem Windkanal entstiegen. Als er das schwimmende Insekt erblickte, stürzte er sich sofort in einen Nervenzusammenbruch.

»Ach, du meine Güte«, sagte er. »Ach, du meine Güte, meine Güte. Ich weiß nicht, wie das passieren kann. Es ist noch nie passiert. Ach, du meine Güte. Es tut mir schrecklich leid.« Schwungvoll entfernte er den Stein des Anstoßes, den Suppenteller, vom Tisch und hielt ihn auf Armeslänge von sich, als sei er hochgradig ansteckend. Zu der Kellnerin sagte er: »Mildred, servieren Sie diesen jungen Männern, was sie wollen – wirklich, was sie wollen« und zu uns: »Wie wär’s mit ein paar Schokokaramellbechern? Wäre die Angelegenheit damit für euch aus der Welt geschafft?«

»O ja!«, antworteten wir.

Er schnipste mit den Fingern und schickte Mildred fort, damit sie uns die Schokokaramellbecher holte. »Mit ganz viel Nüssen und Extrakirschen«, rief er. »Und vergessen Sie die Schlagsahne nicht.« Dann wandte er sich, wieder selbstsicherer, an uns. »Also, Jungs, ihr werdet das ja wohl niemandem weitererzählen, was?«

Wir versprachen es.

»Was machen eure Eltern?«

»Mein Vater ist beim Gesundheitsamt«, sagte Willoughby frohgemut.

»Ach, du lieber Gott«, sagte der Mann, und diesmal wich alles Blut aus seinem Gesicht. Dann enteilte er, um sicherzustellen, dass unsere Schokokaramellbecher auch wirklich die größten und üppigsten waren, die man je bei Bishop’s serviert hatte.

Am nächsten Samstag ging Willoughby wieder mit mir zu Bishop’s. Diesmal trank er die Hälfte seines Wassers, zog dann ein Glas mit Wasser aus einem Teich aus der Jacke und füllte damit sein Glas auf. Als er das Glas ans Licht hielt, schwammen ungefähr 16 Kaulquappen darin herum.

»Entschuldigung, war das mit meinem Wasser so gemeint?«, rief er einer vorbeieilenden Kellnerin zu, die wie gebannt sein Glas anstarrte und dann ging, um sich Verstärkung zu holen. Binnen einer Minute untersuchte ein halbes Dutzend bestürzter Kellnerinnen das Wasser, kreischte aber nicht. Einen Moment später tauchte unser Freund, der Restaurantchef, auf.

Er hielt das Glas in die Höhe. »Ach, du meine Güte«, sagte er und wurde blass. »Es tut mir schrecklich leid. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. So etwas ist noch nie passiert.« Dann schaute er Willoughby genauer an. »Sag mal, warst du nicht letzte Woche hier?«

Willoughby nickte, als wolle er sich entschuldigen.

Ich dachte, der Restaurantleiter würde uns nun an den Ohren hinauszerren, doch der gute Mann sagte: »Also, ich kann nur noch einmal sagen, wie leid es mir tut, mein Sohn. Ich kann mich gar nicht genug entschuldigen.« Dann wandte er sich an die Kellnerinnen. »Auf diesem jungen Mann liegt offenbar ein Fluch.« Zu uns sagte er: »Na, dann hole ich euch mal eure Schokokaramellbecher.« Und ging in die Küche, nicht ohne sich unterwegs hier und dort zu verneigen und dabei diskret das Wasser der anderen Gäste zu betrachten.

An einem mangelte es Willoughby freilich immer: dem Sinn für das rechte Maß. Ich bat ihn inständig, den Bogen nicht zu überspannen, doch eine Woche später wollte er unbedingt wieder zu Bishop’s. Ich weigerte mich, bei ihm zu sitzen, und setzte mich an einen Tisch auf der anderen Seite des Gangs. Dann sah ich, wie er summend eine braune Papiertüte aus der Tasche holte und in seine Suppe sorgsam zwei Pfund tote Fliegen und Falter kippte, die er von der Deckenbeleuchtung in seinem Zimmer geschabt hatte. Sie bildeten einen etwa zwölf Zentimeter hohen Hügel. Es war ein erhabener Anblick, dem es jedoch vielleicht eine Spur an Glaubwürdigkeit gebrach.

Zufällig kam der Restaurantleiter vorbei, als Willoughby seine Lampe anschaltete. Entsetzt und vollkommen bestürzt sah der leidgeprüfte Mann den widerlichen Teller und dann Willoughby an. Einen Moment lang dachte ich, er werde ohnmächtig oder sogar tot umsinken. »Das ist doch nicht mög –«, sagte er, und dann leuchtete eine riesige Glühbirne über seinem Kopf auf, denn er begriff, dass es wirklich nicht möglich war, dass man jemandem einen Teller Suppe mit zwei Pfund toter Insekten serviert.

Mit löblicher Dezenz geleitete er Willoughby zum Ausgang und bat ihn – verlangte es nicht, sondern bat ihn ruhig, höflich, eindringlich – nie mehr wiederzukommen. Es war ein schrecklicher Verweis.


Alle Willoughbys – Mutter, Vater, vier Jungs – waren die reinsten Intelligenzbolzen. Ich dachte immer, wir hätten viele Bücher zu Hause, weil wir zwei große Bücherschränke im Wohnzimmer hatten. Dann besuchte ich Willoughby. Sie hatten überall Bücher und Bücherschränke – in den Etagenfluren, in den Treppenfluren, im Badezimmer, der Küche, an allen vier Wänden des Wohnzimmers. Obendrein besaßen sie wirklich gewichtige Werke – russische Romane, historische und philosophische Bücher, Bücher auf Französisch. Da begriff ich, dass wir hoffnungslos hinterherhinkten.

Und sie lasen ihre Bücher. Ich erinnere mich, dass Willoughby mir einmal einen Absatz über die Verrohtheit von Landarbeitern zeigte, auf die er in einem langen Artikel über etwas vollkommen anderes in der Encyclopaedia Britannica gestoßen war. Ich kann mich an die Einzelheiten nicht mehr erinnern – solche Sachen behält man nicht vierzig Jahre lang –, doch im Wesentlichen besagte der Absatz, dass 32 Prozent aller Landarbeiter in Indiana oder ähnlichen Bundesstaaten (aber ich bin ziemlich sicher, es war Indiana; es war auf jeden Fall ein hoher Prozentsatz) zum einen oder anderen Zeitpunkt Geschlechtsverkehr mit Vieh hatten.

Ich war in jeder Hinsicht erstaunt. Zum einen wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass Landarbeiter oder überhaupt ein menschliches Wesen in Indiana oder sonstwo jemals freiwillig Sex mit einem Tier haben wollte. Doch hier stand schwarz auf weiß in einer angesehenen Publikation, dass ein signifikanter Teil von ihnen zumindest mal einen Versuch gewagt hatte. (Der Artikel hielt sich ein wenig bedeckt hinsichtlich der Dauerhaftigkeit der Beziehungen.) Noch erstaunlicher aber als die Tatsache selbst war, dass Willoughby die Stelle gefunden hatte. Die Encyclopaedia Britannica umfasste 23 Bände mit 18 000 Seiten – ungefähr 50 Millionen Worte, schätze ich –, und er war auf den einzigen spannenden Absatz in der ganzen Schwarte gestoßen. Wie machte er das? Wer liest die Encyclopaedia Britannica?

Willoughby und seine Brüder eröffneten mir neue Welten mit den unterschiedlichsten, unvermutetsten Möglichkeiten. Mir war, als hätte ich bis dahin jeden Augenblick meiner Existenz vergeudet. In ihrem Haus war potentiell alles faszinierend und unterhaltsam. Willoughby hatte zusammen ein Zimmer mit seinem Bruder Joe, der ein Jahr älter und kein bisschen weniger brillant in den Naturwissenschaften war. Ihr Zimmer war eher ein Labor als ein Schlafzimmer. Überall waren Gerätschaften – Becher, Phiolen, Retorten, Bunsenbrenner, Gefäße mit Chemikalien aller Art – und Bücher über jedes nur denkbare Thema und alle offenbar häufig benutzt: über angewandte Mechanik, Wellenlehre, Elektrotechnik, Mathematik, Pathologie, Militärgeschichte. Die Willoughby-Jungs hatten stets ehrgeizige, großangelegte Pläne. Sie fabrizierten Heliumballons. Raketen. Schießpulver. Eines Tages kam ich zu ihnen, und da hatten sie Schießpulver, Polstermaterial und eine silberne Kugellagerkugel, ungefähr so groß wie eine Murmel, in ein Stück Metallrohr gestopft und eine primitive Kanone gebaut – ein Testmodell. Das legten sie auf einen alten Baumstumpf im Garten hinter ihrem Haus und richteten es auf eine etwa 4,50 Meter entfernte Sperrholzplatte. Dann hielten sie ein brennendes Streichholz an die Zündschnur, und wir zogen uns alle auf eine sichere Position hinter einem Picknicktisch zurück (immerhin konnte das ganze Ding ja auch explodieren). Während wir zuschauten, brachte die brennende Lunte irgendwie das Rohr aus dem Gleichgewicht, es rollte langsam über den Baumstumpf und war nun nicht mehr auf das Sperrholz gerichtet. Doch bevor wir reagieren konnten, ging die Kanone mit einem mächtigen Krachen los und sprengte die Scheiben aus einem Badezimmerfenster im ersten Stock drei Häuser weiter. Niemand wurde verletzt, doch Willoughby bekam einen Monat Hausarrest – er hatte meist Hausarrest – und musste 65 Dollar Schadenersatz zahlen.

Die Willoughby-Jungs konnten wirklich aus nichts etwas Unterhaltsames schaffen. Bei meinem ersten Besuch machten sie mich mit der aufregenden Sportart »Streichholzkampf« bekannt. Bei diesem Spiel bewaffneten sich die Kontrahenten mit vielen Schachteln Haushaltszündhölzern, gingen in den Keller, schalteten alle Lampen aus und verbrachten den Rest des Abends damit, sich im Dunkeln gegenseitig mit angezündeten Streichhölzern zu bewerfen.

Damals waren Haushaltzündhölzer robuste Dinger – eher wie Leuchtraketen und nicht so wie die schmächtigen Hölzlein, die man heute bekommt. Man konnte sie an jeder harten Fläche reiben und mindestens fünf Meter weit schleudern, ohne dass sie ausgingen. Ja, selbst wenn sie sich vorn auf dem Pullover festgesetzt hatten und man energisch mit beiden Händen darauf einschlug, schienen sie wild entschlossen, nicht auszugehen. Unser Ziel war ohnehin, die Streichhölzer auf den Gegnern landen zu lassen und auf Teilen ihres Körpers kleine, alarmierende Buschfeuer zu entfachen. Haare waren ein besonders beliebtes Ziel. Nachteilig war, dass man jedes Mal, wenn man ein angezündetes Streichholz abwarf, seine eigene Position allen denen verriet, die neben einem in der Dunkelheit lauerten. Nach einer ausgeführten Attacke musste man eigentlich immer damit rechnen, dass die eigene Schulter lichterloh brannte oder mitten auf dem Kopf ein Leuchtfeuer loderte, dessen Flammen sich von einem rasch abnehmenden Bestand an Haaren ernährten.

Nachdem wir an einem Abend drei Stunden lang gespielt hatten und dann das Licht anmachten, entdeckten wir, dass wir uns alle mehrere lustige, kahle Stellen eingefangen hatten. Allerbester Laune gingen wir zur Dairy Queen auf der Ingersoll Avenue, um frische Luft zu schnappen und eine Erfrischung zu uns zu nehmen. Als wir zurückkamen, standen zwei Feuerwehrwagen vor dem Haus und Mr. Willoughby hüpfte extrem aufgekratzt einher. Offenbar hatten wir ein Streichholz in einem Schmutzwäschekorb brennen lassen, und es hatte sich ein Feuer entwickelt, das an der hinteren Wand hochgekrochen, ein paar Balken angekokelt und einen Großteil des Hauses darüber mit Rauch erfüllt hatte. Ein Trupp begeisterter Feuerwehrleute hatte dem Ganzen dann reichlich Wasser zugesetzt, von dem nun viel zur Hintertür hinausfloss.

»Was habt ihr da unten gemacht?«, fragte Mr. Willoughby voller Staunen und Verzweiflung. »Auf dem Boden haben bestimmt 800 abgebrannte Streichhölzer gelegen. Der Branddirektor will mich wegen Brandstiftung festnehmen. In meinem eigenen Haus! Was habt ihr gemacht?«

Willoughby kriegte diesmal sechs Wochen Hausarrest, und wir mussten unsere Freundschaft zeitweilig auf Eis legen. Aber das war nicht so schlimm, weil ich mich zufällig zu der Zeit mit einem anderen Schulkameraden namens Jed Mattes angefreundet hatte, der einen krassen Gegensatz zu Willoughby bildete: Jed war schwul oder würde es zumindest bald sein.

Er hatte Charme und Geschmack und untadelige Manieren und durch ihn lernte ich eine kultiviertere Seite des Lebens kennen – Reisen, gutes Essen, schöne Literatur, Inneneinrichtungen, für mich etwas angenehm und vollkommen Neues. Jeds Großmutter wohnte im Commodore Hotel auf der Grand Avenue, was sehr exotisch war. Sie war über 1000 Jahre alt und wog 37 Pfund, einschließlich der 16 Pfund Make-up. Sie gab uns immer Geld fürs Kino, manchmal riesige Summen wie 40 oder 50 Dollar, womit man sich Anfang der sechziger Jahre einen sehr schönen Tag machen konnte. Jed wollte nie in Filme wie Attack of the 50-Foot Woman gehen. Er ging lieber in Musicalfilme wie Goldgräber-Molly oder My Fair Lady. Ich kann nicht sagen, dass das meine allererste Wahl war, doch als guter Freund begleitete ich ihn und bekam dadurch einen gewissen kosmopolitischen Schliff. Nach dem Kino spendierte er uns ein Taxi – für mich ein Beförderungsmittel von unglaublicher Pracht und Eleganz – zu Noah’s Ark, einem allseits geschätzten italienischen Speiselokal auf der Ingersoll Avenue. Dort machte er mich mit Spaghetti bolognese, Knoblauchbrot und anderen gängigen Gerichten der feineren Küche bekannt. Zum ersten Mal benutzte ich Leinenservietten und saß vor einer Speisekarte, die weder laminiert noch klebrig war und auch keine Fotos der Speisen darauf hatte.

Jed konnte durch Reden alles erreichen. Oft gingen wir los und schauten in die Fenster von Häusern reicher Leute. Manchmal klingelte er an der Haustür.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte er, wenn die Dame des Hauses erschien, »aber ich habe gerade Ihre Wohnzimmergardinen bewundert, und ich muss Sie einfach fragen, wo Sie den Velourssamt herhaben. Er ist wunderschön.«

Und ehe wir uns versahen, waren wir im Haus und wurden auf eine Besichtigungstour mitgenommen. Jed bewunderte gurrend die genialen Verschönerungen, die die Besitzerin bereits vorgenommen hatte, und schlug seinerseits bescheiden zusätzliche Feinheiten vor, die alles noch schöner machen würden. Auf diese Weise wurden wir in den besten Häusern willkommen geheißen. Besonders freundschaftliche Bande knüpfte Jed mit einem schon betagteren Philanthropen namens A. H. Blank, dem Stifter des Blank Children’s Hospital, der mit seiner tattrigen, blauhaarigen Gattin in einer Dachterrassenwohnung in der nobelsten, angesagtesten Gegend Iowas wohnte, einem Gebäude namens The Towers auf der Grand Avenue. Mr. und Mrs. Blank gehörte der gesamte zehnte Stock. Es sei die höchstgelegene Wohnung zwischen Chicago und Denver oder zumindest zwischen Grinnell und Council Bluffs, erzählten sie uns. Freitagabends gingen wir oft auf einen Kakao und ein Stück Mokkatorte bei ihnen vorbei und genossen von den weiträumigen Balkonen den Blick auf die Stadt – ja, eigentlich auf den ganzen Mittleren Westen. Es war in jeder Hinsicht der Höhepunkt so mancher Woche. Ich wartete jahrelang, dass Mr. Blank das Zeitliche segnete und mir etwas hinterließ, doch es ging alles an wohltätige Einrichtungen. Als wir eines Samstags nach dem Kino (Mitternachtsspitzen mit Doris Day, den wir umgehend als passabel, aber keineswegs als ihren besten Film beurteilten) über die High Street nach Hause gingen – ein ungewöhnlicher Weg, ein Weg für Leute, die auf Abenteuer aus sind –, kamen wir an einem kleinen Backsteinhaus mit einem Schild vorbei, auf dem stand »Mid-America Film Distribution« oder etwas Ähnliches, und Jed schlug vor, wir sollten mal hineingehen.

Drinnen saß ein kleiner, älterer Mann in einem lebhaft gemusterten Anzug an einem Tisch und tat nichts.

»Hallo«, sagte Jed, »ich hoffe, ich störe nicht, aber haben Sie alte Filmplakate, die Sie nicht mehr brauchen?«

»Ihr geht gern ins Kino?«, sagte der Mann.

»Gern ins Kino, Sir? Ich liebe es!«

»Im Ernst?«, sagte der Mann und freute sich wie ein Honigkuchenpferd. »Toll, wirklich toll. Sag mir, mein Sohn, was ist dein Lieblingsfilm?«

»Ich glaube, Alles über Eva

»Wenn du den magst …«, sagte der Mann. »Dann habe ich das Plakat hier irgendwo. Einen Moment, bitte.« Er nahm uns mit in einen Lagerraum, der vom Boden bis zur Decke mit zusammengerollten Filmplakaten vollgestapelt war, und fing an, darin herumzusuchen. »Hier irgendwo ist es. Welche Filme magst du sonst?«

»Herrjechen«, sagte Jed. »Boulevard der Dämmerung, Rebecca, Die große Liebe meines Lebens, In den Fesseln von Shangri-La, Geisterkomödie, Ehekrieg, Mrs. Miniver, Solange ein Herz schlägt, Die Nacht vor der Hochzeit, Der Mann, der zum Essen kam, Reise aus der Vergangenheit, Ein Baum wächst in Brooklyn, Der Gefangene des Ku-Klux-Klan, Picknick im Pyjama, Dieses Mädchen ist für alle, Asphaltdschungel, Das verflixte 7. Jahr, From This Day Forward und Schlagende Wetter, wenn auch nicht unbedingt in der Reihenfolge.«

»Die habe ich!«, sagte der Mann aufgeregt. »Die habe ich alle.« Hektisch begann er, Jed Plakate auszuhändigen. Dann wandte er sich an mich. »Was ist mit dir?«, fragte er höflich.

»The Brain That Wouldn’t Die«, erwiderte ich hoffnungsfroh.

Er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Mit B-Filmen befasse ich mich nicht«, sagte er.

»Zombies on Broadway?«

Er schüttelte wieder den Kopf.

»Island of the Undead?«

Er gab mich auf und wandte sich wieder an Jed. »Magst du Lana-Turner-Filme?«

»Aber ja doch. Wer nicht?« »Ich habe sie alle – alle seit Nicht schwindeln, Liebling. Hier, die möchte ich dir alle schenken.« Und er begann Jed die Arme vollzupacken.

Letztendlich gab er uns mehr oder weniger alles, was er hatte – Plakate, die bis zum Ende der dreißiger Jahre zurückreichten, alle in erstklassigem Zustand. Weiß der Himmel, was sie heute wert wären. Wir fuhren mit dem Taxi zu Jed nach Hause und teilten sie auf seinem Schlafzimmerboden auf. Jed nahm alle für Filme mit Doris Day und Debbie Reynolds. Ich bekam die, auf denen Männer mit rauchenden Knarren gebückt daherliefen. Wir waren beide überglücklich.

Ein paar Jahre später flog ich für einen Sommer nach Europa und blieb zwei Jahre. Als ich weg war, räumten meine Eltern mein Zimmer aus. Die Plakate flogen in ein Gartenfeuer.


Manche Wünsche hatte ich mit Jed eher nicht gemeinsam, und der offensichtlichste war mein lüsternes Begehr, eine nackte Frau zu sehen. Ich glaube, in dem Jahr nach dem Reinfall bei der State Fair verging kein Tag, an dem ich nicht mindestens zweimal an das Stripperinnenzelt dachte. Es war der einzige Ort, an dem man nacktes Fleisch live sehen konnte, und mein Bedürfnis wurde immer drängender.

Ab dem März, der auf meinen 14. Geburtstag folgte, strich ich auf einem Kalender die Tage bis zur State Fair durch. Ab Ende Juni geriet ich häufiger außer Atem. Am 20. Juli legte ich die Klamotten heraus, die ich im nächsten Monat tragen wollte. Ich brauchte drei Stunden, um sie auszuwählen. Ich überlegte, ob ich ein Opernglas mitnehmen sollte, entschied mich aber dagegen, weil es sicher angelaufen wäre.

Die offizielle Eröffnung der State Fair war am 20. August. Normalerweise ging niemand, der noch recht bei Sinnen war, am Eröffnungstag dort hin, denn von der ungeheuren Menschenmenge wurde man schier erdrückt. Doug Willoughby und ich allerdings gingen. Wir mussten. Es half nichts, wir mussten. Wir trafen uns kurz nach Morgengrauen und nahmen einen Bus hinaus zur Ostseite der Stadt. Dort gesellten wir uns zu den fröhlichen Massen und warteten drei Stunden in der Schlange, um unter den Ersten zu sein, die reinkamen.

Um zehn Uhr öffneten sich die Tore und 20 000 Menschen stürmten wie die angreifenden Heerscharen in Braveheart jubelnd über das Gelände. Es überrascht Sie vielleicht zu erfahren, dass Willoughby und ich nicht direkt zum Stripperinnenzelt gingen, sondern uns Zeit nahmen. Doch wir hatten nach reiflicher Überlegung beschlossen, die Situation auszukosten, und schauten uns deshalb zuerst ausgiebig in den Ausstellungshallen um. Womöglich war es das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass jemand Steppdecken und eine Butterkuh als Variante des Vorspiels betrachtete, doch wir wussten, was wir taten. Wir wollten, dass die Mädels sich warm machten und in Schwung kamen. Bei unserem ersten Besuch wollten wir keine Darbietung von minderer Qualität sehen.

Um elf Uhr stärkten wir uns mit einem beliebten Eiskonfekt namens Wonder Bar, schlenderten dann zum Stripperinnenzelt, stellten uns in die Schlange und freuten uns, dass wir endlich von einem der Privilegien unseres Alters Gebrauch machen konnten. Doch kurz bevor wir am Eintrittskartenhäuschen ankamen, stieß Willoughby mich in die Rippen und zeigte auf das baumelnde Schild. Es war neu und darauf stand: »Kein Einlass für Minderjährige. Sie müssen 16 sein und sich entsprechend ausweisen können.«

Ich war sprachlos. Wenn es mit der Geschwindigkeit weiterging, würde ich Rentnerermäßigung bekommen, bis ich meine erste nackte Frau sah.

Am Schalter fragte der Mann, wie alt wir seien.

»16«, sagte Willoughby energisch. Was sonst?

»Du siehst mir aber nicht wie 16 aus, Junge«, sagte der Mann.

»Ja, ich habe einen leichten Hormonmangel.«

»Kannst du dich ausweisen?«

»Nein, aber mein Freund hier kann sich für mich verbürgen.«

»Verpisst euch!«

»Wir hatten aber fest damit gerechnet, dass wir eine Ihrer Vorstellungen besuchen könnten.«

»Verpisst euch!«

»Wir warten seit einem Jahr darauf. Wir sind seit sechs Uhr heute Morgen hier.«

»Verpisst euch!«

Und so schlichen wir von dannen. Es war der grausamste Schlag, den ich bis dato in meinem Leben erlitten hatte.

In der nächsten Woche ging ich mit Jed zur State Fair. Es war ein interessanter Kontrast, denn er plauderte stundenlang mit Damen in Rüschenschürzen über ihre Marmeladen und Steppdecken. Es gab nichts in der Welt des Haushalts, das ihn nicht faszinierte, und kein einziges Problem oder potentielles Missgeschick, das nicht sofort sein Mitgefühl weckte. Einmal hatte er ein Dutzend Frauen um sich versammelt, die alle wie Tante Bea aus der Andy Griffith Show aussahen und sich königlich amüsierten.

»Also war das nicht einfach wunderbar?«, sagte er hinterher zu mir und stieß einen glücklichen Riesenseufzer aus. »Danke, dass du mich überallhin begleitest. Jetzt bringen wir dich aber zum Stripperinnenzelt.«

Ich hatte ihm von meiner Enttäuschung aus der Vorwoche erzählt und erinnerte ihn jetzt daran, dass wir zu jung waren, um eingelassen zu werden.

»Das Alter ist nur ein unnötiges Detail«, sagte er aufgeräumt.

Am Zelt blieb ich im Hintergrund, während er zum Kartenschalter ging. Er redete eine Weile mit dem Mann. Ab und zu schauten beide zu mir herüber, nickten ernst, als fänden sie wirklich, dass ich an einem auffälligen Gebrechen litt. Endlich kam Jed lächelnd zurück und gab mir eine Eintrittskarte.

»Na, los dann«, sagte er fröhlich. »Es macht dir ja hoffentlich nichts aus, wenn ich nicht mitkomme.«

Es verschlug mir die Sprache. Voller Erstaunen schaute ich ihn an und stotterte dann mit Mühe: »Aber wie …?«

»Ich habe ihm gesagt, du hättest einen inoperablen Hirntumor, was er mir aber nicht abgenommen hat, und dann habe ich ihm zehn Dollar gegeben«, erklärte Jed. »Viel Spaß.«

Na, was kann ich anderes sagen, als dass es das schönste Erlebnis meines Lebens war? Die Stripperin – pro Vorstellung gab es immer nur eine, stellte sich heraus, was Willoughbys Bruder versäumt hatte uns mitzuteilen – war grenzenlos gelangweilt, sensationell gelangweilt, doch ihre schmollende Gleichgültigkeit und ihr glasiger Blick hatten etwas unerwartet Erotisches und sie sah wirklich nicht schlecht aus. Sie zog sich auch nicht ganz aus. Sie behielt einen paillettenbesetzten blauen G-String an und hatte auf den Brustwarzen Käppchen mit Fransen, doch es war eine himmlische Erfahrung, und als sie sich als eine Art Höhepunkt – und den Begriff verwende ich sehr bewusst – keine zwei Meter vor meinen bewundernden Blicken zum Publikum hinunterbeugte und zehn Sekunden die Fransen wirbeln und kurz, doch geschickt sogar in entgegengesetzte Richtungen kreisen ließ – was für ein Talent! –, dachte ich, ich sei gestorben und nun im Himmel.

Ich bin immer noch fest davon überzeugt, dass es so oder sehr ähnlich sein wird, wenn ich dort einmal hinkomme. Und im Bewusstsein dessen ist in all den Jahren seitdem kaum ein Moment vergangen, in dem ich nicht ein extrem guter Mensch war.

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
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