Sex und anderer Zeitvertreib

London, England (AP) – In einem Verleumdungsprozess gegen den Londoner Daily Mirror sprach ein Gericht dem Entertainer Liberace am Mittwoch Schadenersatz in Höhe von 8000 Pfund Sterling (22 400 Dollar) zu. Die Richter befanden nach dreieinhalb Stunden Beratung, dass der Mirror-Journalist William N. Connor in einem Artikel im Jahre 1956 angedeutet hatte, der Pianist sei homosexuell. Unter den Sätzen, die Liberace in seiner Klage zitierte, war Connors Beschreibung von ihm als »alles, was er, sie oder es sich nur wünschen kann«. Er hatte den Entertainer auch als jemanden beschrieben, der »sich gern für etwas erwärmt«.

Des Moines Tribune, 18. Juni 1959

Der Kinofilm Glut unter der Asche (nach dem Roman Die

Leute von Peyton Place) kam im Jahr 1957 heraus. Die Nation hatte schon sehnsüchtig darauf gewartet. Der Vorfilm deutete uns unverblümt an, es sei der schärfste Film seit Jahren, woraufhin meine Schwester zu dem Schluss kam, dass sie und ich hineingehen mussten. Warum ich mit von der Partie sein sollte, weiß ich partout nicht. Vielleicht lieferte ich ein Alibi. Vielleicht konnte sie nur dann unbemerkt aus dem Haus entkommen, wenn sie mich babysittete. Ich weiß nur, das ich gesagt bekam, wir würden nach dem Mittagessen am Samstag zum Ingersoll Theater laufen und ich dürfe niemandem etwas verraten. Es war sehr aufregend.

Auf dem Weg dorthin erzählte mir meine Schwester, dass viele der Mitwirkenden in dem Film – vermutlich die meisten – Sex haben würden. Zu der Zeit war Betty, zumindest meinem Dafürhalten nach, die international führende Autorität in Sachen Sex. Ihre Spezialität war es, berühmte Homosexuelle auszumachen. Sal Mineo, Anthony Perkins, Sherlock Holmes und Dr. Watson, Batman und Robin, Charles Laughton, Randolph Scott, natürlich Liberace und ein Mann in der dritten Reihe des Lawrence-Welk-Orchesters, der mir ganz normal vorkam – meine Schwester entlarvte sie alle mit ihrem durchdringenden Blick. Schon 1959, lange bevor irgendjemand darauf gekommen wäre, erzählte sie mir, dass Rock Hudson schwul sei. Ich glaube, sie wusste, dass Richard Chamberlain schwul war, bevor er selbst es wusste. Es war unheimlich.

»Weißt du, was Sex ist?«, fragte sie mich, als wir in der Abgeschiedenheit des Wäldchens waren und im Gänsemarsch über den engen Pfad durch die Bäume liefen. Es war ein winterlicher Tag, und ich erinnere mich deutlich, dass sie einen schicken, neuen roten Wollmantel trug und eine flauschige weiße Mütze, die man unter dem Kinn zuband. Für mich sah sie sehr schick und erwachsen aus.

»Nein, ich glaube eigentlich nicht«, sagte ich oder etwas in der Richtung.

Also erzählte sie mir mit ernster Stimme und sorgfältig gewählten Worten, die klar implizierten, dass es sich um streng vertrauliche Informationen handelte, alles, was man über Sex wissen musste, obwohl sie zu der Zeit erst elf und ihr Wissen sicherlich weniger enzyklopädisch war, als ich damals annahm. Wie dem auch sei, im Prinzip ging es, wie ich es verstand, lediglich darum, dass der Mann sein Ding in ihr Ding steckte, es ein bisschen darin ließ, und dann bekamen sie ein Kind. Ich erinnere mich, dass ich vage überlegte, was diese nicht genauer benannten Dinger waren – sein Finger in ihrem Ohr? Sein Hut in ihrer Hutschachtel? Wer wusste das schon? Egal, sie machten etwas sehr Privates, nackt, und kaum hatten sie sich’s versehen, waren sie Eltern.

Ehrlich gesagt, interessierte mich nicht, wie Kinder gemacht wurden. Ich war aufgeregt, weil wir ein geheimnisvolles Abenteuer bestanden, von dem unsere Eltern nichts wussten, und weil wir tatsächlich durch das Wäldchen wanderten – den mehr oder weniger endlosen, tiefen Schwarzwald, der zwischen dem Elmwood Drive und der Grand Avenue lag. Mit sechs Jahren wagte man sich von Zeit zu Zeit ein, zwei Schritte in das Wäldchen vor, spielte, die Straße stets im Blick, ein bisschen Soldat und trat nach einer Weile (normalerweise, wenn Bobby Stimson an den Giftsumach kam und in Tränen ausbrach) gern, ja, offen gestanden, erleichert, wieder in frische Luft und Sonnenschein. Das Wäldchen war sehr angsterregend, die Luft darin dicker und erdrückender, die Geräusche anders. Man konnte ins Wäldchen gehen und kam nicht wieder heraus. Warum man auch keinesfalls erwog, es als Durchgangsweg zu benutzen. Dazu war es viel zu groß. Nun aber von einer selbstsicher drauflos marschierenden Person hindurchgeführt zu werden und dabei Informationen nur für Eingeweihte zu bekommen, wenn sie auch großteils keinerlei Sinn ergaben, war über die Maßen aufregend. Den Hauptteil der langen Wanderung staunte ich ob der majestätischen Dunkelheit des Wäldchens und hielt mit halbem Auge Ausschau nach Lebkuchenhäusern und Wölfen.

Als sei das noch nicht Aufregung genug, ging meine Schwester, als wir die Grand Avenue erreichten, mit mir über einen geheimen Pfad zwischen zwei Mietshäusern und an der Hinterseite von Bauder’s Drugstore vorbei – ich war nie auf den Gedanken gekommen, dass Bauder’s Drugstore eine Hinterseite hatte –, und wir kamen fast gegenüber dem Kino heraus. Das war so unglaublich pfiffig, dass ich es kaum fassen konnte. Weil die Ingersoll eine vielbefahrene Straße war, nahm mich meine Schwester an der Hand und brachte uns gekonnt auf die andere Seite – noch eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Ich glaube, ich war noch nie so stolz in Begleitung eines anderen menschlichen Wesens.

Als die Kartenverkäuferin am Eintrittskartenschalter zögerte, erzählte meine Schwester ihr, dass wir einen Cousin in Kalifornien hätten, der in dem Film mitspielte, und unserer Mutter, einer vielbeschäftigten, einflussreichen Frau (»Sie ist Kolumnistin beim Register.«), versprochen hätten, den Film für sie anzuschauen und ihr hinterher ausführlich zu berichten. Die Geschichte entbehrte vielleicht einer gewissen Überzeugungskraft, doch meine Schwester hatte das Gesicht eines Engels, eine entschlossene Art und die flauschige unschuldige Mütze auf, und dieser Kombination musste man einfach trauen. Die Kartenverkäuferin ließ uns also nach einem Augenblick nervenkitzelnder Unsicherheit hinein. Wiederum war ich sehr stolz auf meine Schwester.

Nach diesen Abenteuern war der Film dann eher eine Enttäuschung, besonders nachdem mir meine Schwester gesagt hatte, dass wir doch keinen Cousin in dem Film und auch keinen in Kalifornien hatten. Niemand zog sich nackt aus, und es waren keine Finger in Ohren oder Zehen in Hutschachteln oder in sonst was. Nur Unmengen unglücklicher Menschen redeten mit Lampenschirmen oder Vorhängen. Ich ging zwischendurch in die Männertoilette und versperrte dort die Zellen, aber da es nur zwei gab, war auch das unbefriedigend.

Bald nach diesem Kinobesuch erlebte ich zufällig etwas, das ein wenig mehr Licht auf das Thema Sexualität warf. Ich kam eines Samstags vom Spielen nach Hause, und als ich meine Mutter nicht an den üblichen Stellen fand, beschloss ich spontan, meinen Vater aufzusuchen. Er war gerade an dem Tag von einer langen Reise an die Westküste zurückgekommen – von der World Series mit den White Sox und den Dodgers, wenn ich mich recht erinnere –, und wir hatten uns einiges zu erzählen. Ich rannte in sein Schlafzimmer, weil ich dachte, er sei dort beim Auspacken. Zu meiner Überraschung waren die Rollläden heruntergezogen und meine Eltern im Bett. Sie rangen unter dem Bettzeug. Noch erstaunlicher – meine Mutter schien zu gewinnen. Mein Vater war offensichtlich in Not. Er gab Geräusche von sich wie ein kleines Tier in einer Falle.

»Was macht ihr?«, fragte ich.

»Ach, Billy, deine Mutter sieht nur gerade meine Zähne nach«, erwiderte mein Vater rasch, aber eigentlich nicht glaubhaft.

Einen Moment lang schwiegen wir alle drei.

»Seid ihr nackt da drunter?«, fragte ich.

»Wieso? Natürlich.«

»Warum?«

»Also«, hub mein Vater an, als sei das nun eine längere Geschichte, »uns ist ein bisschen warm geworden. Bei der Arbeit wird einem warm, Zähne und Zahnfleisch und so weiter. Schau, Billy, wir sind hier fast fertig. Warum gehst du nicht runter, und wir kommen gleich nach.«

Angeblich soll man ja nach solchen Erlebnissen traumatisiert sein. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass ich mich groß darum scherte. Meine Mutter ließ ich allerdings erst nach ein paar Jahren wieder in meinen Mund schauen.

Als ich es schließlich kapierte, kam es als Überraschung, dass meine Eltern miteinander schliefen – dass die eigenen Eltern Sex haben, will man ja nie glauben –, doch es war auch ein wenig tröstlich, denn in den 1950er Jahren Sex zu haben war nicht leicht. Wenn man verheiratet war, der Mann oben lag und die Frau die Zähne zusammenbiss, war es gerade noch erlaubt, doch fast alles andere war damals in den Vereinigten Staaten verboten. So gut wie jeder Bundesstaat hatte Gesetze, die alle Formen von Sex verboten, die als entfernt von der Norm abweichend betrachtet wurden: natürlich Oral- und Analverkehr, offenkundig Homosexualität, selbst normaler, höflicher Sex in gegenseitigem Einverständnis zwischen unverheirateten Paaren. In Indiana konnte man für 14 Jahre ins Gefängnis gesteckt werden, wenn man einer Person unter 21 Jahren half, »Masturbation zu betreiben«, oder sie dazu anstachelte. Die römisch-katholische Erzdiözese desselben Staates ließ etwa zur gleichen Zeit verlautbaren, dass außerehelicher Geschlechtsverkehr nicht nur eine Sünde, schmutzig und fortpflanzungsmäßig riskant sei, sondern auch den Kommunismus fördere. Wie nun genau eine Nummer im Heu den gnadenlosen Vormarsch des Marxismus förderte, wurde nie expliziert, doch es war auch völlig unerheblich. Entscheidend war, dass man, wenn einmal eine Handlung als dem Kommunismus förderlich galt, wusste, sie war für alle Zeiten verboten.

Denn die Gesetzgeber brachten es nicht über sich, diese Dinge offen zu diskutieren. Meist konnte man gar nicht erkennen, was nun eigentlich verboten war. Kansas hatte (und hat es nach allem, was ich weiß, immer noch) einen Paragraphen, dem gemäß jeder bestraft wurde, und zwar mit aller Härte, der »eines verabscheuungswürdigen, scheußlichen Verbrechens wider die Natur überführt wird, das er mit Mensch oder Tier verübt hat«. Was ein verabscheuungswürdiges, scheußliches Verbrechen wider die Natur wohl war, erfuhr man nicht einmal andeutungsweise. Einen Regenwald abholzen? Sein Maultier mit der Peitsche schlagen? Man wusste es einfach nicht.

Fast so schlimm wie Sex haben war, an Sex zu denken. Als Lucille Ball in Typisch Lucy fast die ganze Sendezeit 1952–53 schwanger war, durfte das Wort »schwanger« nicht benutzt werden. Es könnte ja anfällige Zuschauer dazu reizen, auf dem Sofa isometrisches Muskeltraining zu machen wie unser Nachbar Mr. Kiessler in der St. John’s Road. Von Lucy hieß es, sie sei »in anderen Umständen« – offenbar ein weniger die Gefühle anregendes Wort. Bei uns in Des Moines machte die Polizei 1953 eine Razzia in Ruthie’s Lounge in der Locust Street Nr. 1311 und beschuldigte die Besitzerin Ruthie Lucille Fontanini unzüchtiger Handlungen. Die Handlung war so verstörend, dass zwei Beamte von der Sitte und Polizeihauptmann Louis Volz noch einmal extra dorthin fuhren, um sie sich anzuschauen – wie allem Anschein nach irgendwann einmal die meisten Männer in Des Moines. Die Handlung, stellte sich heraus, bestand darin, dass Ruthie, wenn der Laden voll war, sich von den angeheiterten Herren zu Folgendem beschwatzen ließ: Sie stellte zwei Gläser auf ihre in einem engen Pullover steckende Brust, goß Bier in die Gläser und beförderte diese sodann, ohne etwas zu verschütten, zu einem anerkennend wartenden Tisch.

In ihrer Sturm-und-Drang-Zeit war Ruthie offenbar nicht ohne. Der frühere Reporter des Des Moines Register, George Mills, schrieb in seinen wunderbaren Lebenserinnerungen mit dem Titel Looking in Windows, dass sie »sechzehnmal mit neun verschiedenen Männern verheiratet« und eine ihrer Ehen nach gerade mal 16 Stunden beendet gewesen sei. Da war sie nämlich aufgewacht und hatte gesehen, wie ihr frisch gebackener Gatte ihre Handtasche durchwühlte und den Schlüssel zu ihrem Safe suchte. Die Angewohnheit, ihren Busen als Tablett zu benutzen, kann eigentlich in einem Zeitalter, in dem Post mit einer Rakete befördert wurde, kein so dolles Kunststück gewesen sein. Aber sie wurde landesweit berühmt damit. Ein paar Berge in Korea wurden ihr zu Ehren die »Ruthies« genannt und der Hollywood-Regisseur Cecil B. De Mille besuchte Ruthie’s Lounge zweimal, um die Dame in Aktion zu sehen.

Die Geschichte hat ein Happyend. Richter Harry Grund wies die Anklage auf unzüchtige Handlungen ab, und Ruthie ehelichte schließlich einen netten Mann namens Frank Bisignano und lebte forthin ruhig und zufrieden als Hausfrau. Letzten Gerüchten zufolge ist sie seit dreißig Jahren glücklich verheiratet. Ich fände es schön, wenn sie ihm allabendlich Ketchup, Senf und andere Soßen auf ihrem Busen servierte, weiß es aber natürlich nicht.8

Für diejenigen von uns, die ein Interesse hatten, nackte Frauen zu sehen, gab es die Bilder im Playboy und anderen Männerperiodika von geringerem Ruf, doch die legal zu erwerben war fast unmöglich, selbst wenn man zu einem der trostloseren Lebensmittelbuden gleich im Osten der Stadt radelte, seine Stimme um zwei Oktaven herunterschraubte und dem lethargischen Verkäufer bei Gott schwor, man sei 1939 auf die Welt gekommen.

Wenn mein Vater im Drugstore mal mit dem Apotheker beschäftigt war (das einzige Mal, dass ich für die Demonstration der komplizierten isometrischen Übungen aufrichtig dankbar war), konnte ich hastig die Seiten durchblättern, doch es war ein nervenzerreißendes Unterfangen, weil der Illustriertenständer aus vielen Ecken des Ladens zu sehen war. Ja, mehr noch, er befand sich direkt neben dem Eingang und war durch ein großes Schaufenster von der Straße aus sichtbar, man stand also da mit offenen Flanken. Eine Freundin der Mutter mochte vorübergehen, einen sehen und Alarm schlagen – direkt vor dem Laden war eine Polizeinotrufbox auf einem Pfosten und wahrscheinlich nur zu dem Zweck dorthin gestellt worden. Oder ein pickliger Ladenschwengel konnte einen von hinten an der Schulter packen und mit lauter Stimme auszanken oder Dad selbst auf einmal hinter einem auftauchen, während man noch hektisch dabei war, die Seiten zu finden, auf denen Kim Novak sich auf einem flauschigen Teppich räkelte und Luft zufächelte. Auch hier war praktisch kein Vergnügen und sehr wenig Aufklärung drin. Doch vergessen Sie nicht, es war das Zeitalter, in dem man verhaftet werden konnte, weil man Bier auf seinem Busen transportierte oder ein nicht näher spezifiziertes Verbrechen wider die Natur beging, und die Konsequenzen, wenn man in einem Familiendrugstore mit Fotos nackter Frauen in der Hand erwischt wurde, waren gar nicht auszudenken. Ganz bestimmt aber würden Blitzlichtlämpchen knallen, der WHO-TV-Ü-Wagen für Verbrechensschauplätze zur Stelle sein, Balkenüberschriften in der Zeitung und viele tausend Stunden gemeinnütziger Arbeit folgen.

Im Großen und Ganzen musste man deshalb mit Unterwäschedoppelseiten in Versandhauskatalogen oder Anzeigen in Hochglanzpostillen vorliebnehmen, was zwar nach Verzweiflung roch, aber zumindest nicht gesetzwidrig war. Maidenform, ein Büstenhalterhersteller, brachte in den 1950er Jahren eine bekannte Zeitungsanzeigenserie, in denen sich Frauen vorstellten, dass sie an öffentlichen Orten nur halb bekleidet waren. »Ich habe geträumt, ich sei in meinem Maidenform-BH in einem Juweliergeschäft gewesen«, lautete die Überschrift einer Anzeige, begleitet vom Foto einer Frau, die mit Hut, Rock, Schuhen, Schmuck und einem Maidenform-BH – kurzum, allem, nur keiner Bluse – vor einer Glasvitrine bei Tiffany’s oder etwas Ähnlichem stand. Die Bilder hatten etwas zutiefst – und ich nehme an, ungesund – Erotisches. Bedauerlicherweise brachte Maidenform mit unfehlbarem Instinkt immer Mannequins in fortgeschrittenem Alter, die von vornherein schon nicht übermäßig attraktiv gewesen sein mochten. Und die BHs der Jahre sahen wie Stützapparate aus dem Sanitätshaus aus, so dass sie eher nicht zum wilden Fantasieren einluden. Es war schon eine Schande, wie da ein vielversprechendes erotisches Konzept in den Sand gesetzt wurde.

Trotz seiner Mängel wurde der Ansatz allenthalben kopiert. Sarong, ein Hersteller von Korsetts, die so robust waren, dass sie schusssicher aussahen, ging ähnlich vor mit einer Serie von Anzeigen, auf denen Frauen von überraschenden Windböen erwischt wurden und ihre Korsetts zu ihrem äußersten Bestürzen wie zum entzückten Grinsen aller männlichen Wesen in einem Umkreis von 50 Metern in situ zeigten. Ich habe eine Anzeige aus dem Jahr 1956 vor mir, auf der einem Northwest-Airlines-Flugzeug eine Frau entsteigt, deren Pelzmantel zur Unzeit aufgeflogen ist (offenbar wegen eines lokal extrem begrenzten Schirokkos, der irgendwo direkt unter und zwischen ihren Beinen tobt), und enthüllt, dass sie einen Strumpfbandgürtel Modell 124 aus besticktem Nylon-Marquisette-Stoff der Marke Sarong trägt (zum Preis von 13,95 Dollar in allen guten Fachgeschäften erhältlich). Doch – und das hat mich seit 1956 nicht mehr losgelassen – die Frau trägt eindeutig keinen Rock oder sonst etwas zwischen ihrem Strumpfbandgürtel und Mantel, wobei sich sofort die brisante Frage stellt, was sie denn anhatte, als sie an Bord des Flugzeugs stieg. Ist sie den ganzen Weg von (sagen wir mal) Tulsa nach Minneapolis ohne Rock geflogen, oder hat sie ihn unterwegs ausgezogen – und wenn ja, warum?

Sarong-Anzeigen erfreuten sich in meinen Kreisen einer gewissen Anhängerschaft – mein Freund Doug Willoughby war ein großer Fan –, doch ich fand sie immer merkwürdig, unlogisch und einen Hauch pervers. »Die Frau kann doch nicht ohne Rock durchs halbe Land gereist sein«, bemerkte ich wiederholt, sogar ein wenig erhitzt. Willoughby gab das auch widerspruchslos zu, bestand aber darauf, dass genau das die Sarong-Anzeigen so ansprechend mache. Trotzdem, Sie werden mir zustimmen, es ist ein trauriges Zeitalter, wenn man nichts Pikanteres findet als das Foto einer entsetzten Frau mit einem teilweise enthüllten Hüfthalter in einer Illustrierten der eigenen Mutter.

Doch wie es der Zufall so wollte, hatten wir in Des Moines die erotischste Statue der Nation. Sie gehört zu dem großen Bürgerkriegsdenkmal des Staates Iowa auf dem Gelände des Capitol, heißt »Iowa« und ist eine sitzende Frau, die ihre nackten Brüste in Händen hält, ja, sie überraschend provokativ von unten umfasst. Die Pose soll symbolisch das Anbieten von Nahrung darstellen, doch in Wirklichkeit bringt sie jeden vorbeikommenden Mann auf ganz andere Gedanken. Manchmal fuhren wir an Samstagen mit dem Fahrrad dorthin und betrachteten die Statue von unten. »Sie steht an dieser Stelle seit dem Jahre 1890«, hieß es auf einem Schild. »Und bringt so manches andere zum Stehen«, witzelten wir immer. Aber man musste ganz schön lange radeln, nur um ein Paar Kupfertitten zu sehen.

Darüber hinaus blieb uns nur die Möglichkeit, Leute zu beobachten. Ein Junge namens Rocky Koppell, dessen Familie aus Columbus nach Des Moines gezogen war, wohnte eine Zeit lang in einem Apartment im Souterrain des Commodore Hotels und entdeckte ein Loch in der Wand hinter seinem Zimmerschrank, durch das er beobachten konnte, wie sich das Zimmermädchen nebenan aus- und anzog und sich gelegentlich einem ernsthaften Austausch von Körperflüssigkeiten mit einem der Hauswarte hingab. Koppell knöpfte einem 25 Cents für einen Blick durch das Loch ab, verlor aber die meisten seiner Kunden, als sich die Nachricht verbreitete, dass das Mädchen wie Adlai Stevenson, einer der Kandidaten um die Präsidentschaft, aussah, nur weniger Haare hatte.

Wo man niemals nacktes weibliches Fleisch zu sehen bekam, war im Kino. Das wusste man. Natürlich zogen sich Frauen in Filmen von Zeit zu Zeit aus, doch sie traten dazu immer hinter einen Wandschirm oder schlenderten in ein anderes Zimmer, nachdem sie ihre Ohrringe abgenommen und gedankenzerstreut den obersten Knopf ihrer Bluse geöffnet hatten. Selbst wenn die Kamera bei der Frau blieb, machte sie stets im entscheidenden Moment einen Schwenk nach unten, so dass man nur einen Morgenmantel sah, der um Knöchel fiel, oder einen Fuß, der ins Badewasser stieg. Man kann es nicht einmal als enttäuschend beschreiben, denn man hatte ja keine Erwartungen, die enttäuscht werden konnten. Nacktheit kam einfach nicht vor.

Wer von uns einen älteren Bruder hatte, wusste von einem Film mit dem Titel Mau Mau, der 1955 anlief. In seiner ersten Version war es ein solider Dokumentarfilm über den Aufstand der Mau-Mau in Kenia, von dem Fernsehnachrichtenmann Chet Huntley vollkommen sachlich geschildert. Doch die Vertriebsgesellschaft, das heißt, ein Mann namens Dan Sonney, befand, der Film sei nicht kommerziell genug. Er heuerte eine einheimische Mannschaft von Schauspielern und Kameraleuten an und ließ in einem Orangenhain in Südkalifornien zusätzliche Szenen drehen, in denen »eingeborene« Frauen oben ohne vor Männern mit Macheten flohen. Die Extraszenen wurden mehr oder weniger willkürlich in den existierenden Film montiert, um das Ganze ein wenig aufzupeppen. Heraus kam ein sensationeller Kassenerfolg, besonders bei Jungs zwischen zwölf und 15. 1955 war ich leider erst vier und verpasste so das einzige nackte Gewackel auf Zelloloid des gesamten Jahrzehnts.

Als ich ungefähr neun war, bauten wir einmal ein Baumhaus im Wäldchen – ein richtig gutes Baumhaus, denn wir benutzten ein paar erstklassige Materialien, die wir auf einer Baustelle im River Oaks Drive beschlagnahmt hatten –, und dieses Baumhaus diente uns selbstverständlich als Ort, an dem wir uns voreinander auszogen. Das war nicht weiter aufregend, da die Gruppe aus ungefähr 84 kleinen Jungs und nur einem Mädchen bestand, Patty Hefferman, die schon im Alter von sieben Jahren mehr wog als ein großes Erdräumgerät (sie sollte schließlich als Patty »Reines Rindfleisch« bekannt werden) und beim besten Willen niemandes Vorstellung von Erotik entsprach. Sie war aber für ein paar Oreo-Kekse bereit, sich von allen Seiten und so lange, wie jemand Interesse hatte, untersuchen zu lassen, was zumindest in anthropologischer Hinsicht von Nutzen für uns war.

Das einzige Mädchen aus unserem Viertel, das wir wirklich gern nackt gesehen hätten, war Mary O’Leary. Sie war das hübscheste Kind in Abermillionen Galaxien, doch ihre Kleider zog sie nicht aus. Sie spielte wunderbar mit uns im Baumhaus, wenn es lustig und harmlos zuging, doch in dem Moment, in dem die Angelegenheit schlüpfrig wurde, kletterte sie die Leiter hinunter, blieb unten stehen und schimpfte zornbebend und den Tränen nahe, wir seien widerwärtig und abscheulich. Weswegen ich sie sehr bewunderte, ja wirklich sehr, und oft auch hinunterging (denn ehrlich gesagt, konnte ich Patty Hefferman immer nur in gewissen Mengen genießen, wenn ich das von meiner Mutter gekochte Essen hinterher noch verzehren wollte) und Mary nach Hause begleitete, nicht ohne sie überschwänglich für ihre Tugend und Sittsamkeit zu loben.

»Die Jungs sind wirklich fies«, sagte ich, geflissentlich die Tatsache übergehend, dass ich für gewöhnlich dazugehörte.

Ihre Weigerung mitzumachen war eigenartigerweise das Allerprickelndste an der ganzen Übung. Ich liebte Mary O’Leary inniglich und betete sie an. Wenn ich neben ihr auf ihrem Sofa saß und wir fernsahen, betrachtete ich heimlich ihr Gesicht. Es war das Perfekteste, was ich je gesehen hatte – so weich, so sauber, so bereit zu lächeln, so voller rosigen Lichts. In der ganzen Schöpfung gab es nichts derartig Vollkommenes und Herrliches wie ihr Gesicht in dem Sekundenbruchteil, bevor sie lachte.

Im Juli jenes Jahres fuhr ich mit meiner Familie am Unabhängigkeitstag zu meinen Großeltern, wo ich die übliche niederdrückende Erfahrung machte, zuzugucken, wie Onkel Dee normales Essen in fliegende Gipsbröckchen verwandelte. Noch schlimmer, der Fernseher meiner Großeltern war kaputt, und das betreffende Ersatzteil nicht erhältlich. Denn der fröhlich debile, ortsansässige Fernsehtechniker sah sich außer Stande zu der Einsicht, dass es vielleicht nicht verkehrt war, einen Vorrat an Ersatzbildröhren bereitzuhalten – ein Versäumnis, für das er selbstverständlich mit einer Dosis ThunderVision karbonisiert wurde. Ich war jedenfalls gezwungen, das lange Wochenende in der bescheidenen Bibliothek meines Großvaters zu verbringen, die in der Hauptsache aus den gekürzten Büchern von Reader’s Digest, ein paar seichten Romanen von Warwick Deeping und einem großen Pappkarton mit Ladies’ Home Journals bis zurück ins Jahr 1942 bestand. Es war ein anstrengendes Wochenende.

Als ich zurückkam, warteten Buddy Doberman und Arthur Bergen vor unserem Haus. Sie grüßten meine Eltern nur flüchtig und nahmen mich gleich zur Seite. Atemlos erzählten sie mir, dass Mary O’Leary während meiner Abwesenheit ins Baumhaus gekommen sei und sich ausgezogen habe – splitterfasernackt. Sie habe es freiwillig getan, ja sogar in regelrecht träumerischer Selbstverlorenheit.

»Sie war wie in Trance«, sagte Bergen liebevoll.

»Einer glücklichen Trance«, fügte Buddy hinzu.

»Es war wirklich schön«, sagte Bergen, in Erinnerungen schwelgend.

Natürlich weigerte ich mich, auch nur ein Wort davon zu glauben. Sie mussten ein Dutzend Mal bei Gott und auf einem Stoß Bibeln beim Leben ihrer Mütter und einigem anderem ähnlich Ernsthaftem schwören, bevor mein berechtigter Unglauben auch nur ein wenig schwand. Vor allem mussten sie mir jeden einzelnen Moment des Ereignisses schildern, doch dazu war Bergen mit bemerkenswerter Klarheit in der Lage. (Er hatte, wie er in späteren Jahren prahlte, ein pornografisches Gedächtnis.)

»Na, gut«, sagte ich so eifrig, wie Sie sich denken können, »holen wir sie und versuchen es noch mal.«

»O nein«, erklärte Buddy. »Sie hat gesagt, sie würde es nicht noch mal machen. Wir mussten schwören, wir würden sie nie mehr fragen. Das war die Bedingung.«

»Aber«, stotterte ich entsetzt, »das ist ungerecht.«

»Das Komische ist«, fuhr Bergen fort, »dass sie gesagt hat, sie hätte es sich schon länger überlegt, aber lieber gewartet, bis du mal nicht da wärst, weil sie dich nicht traurig machen wollte.«

»Mich traurig machen? Traurig? Ist das euer Ernst? Meint ihr das ernst?«

Die Delle auf dem Bürgersteig, gegen den ich die nächsten 14 Stunden den Kopf schlug, ist immer noch zu sehen. Und Mary O’Leary hielt Wort. Sie kam nicht einmal mehr in die Nähe des Baumhauses.

In einem Moment der Erleuchtung zog ich kurz danach alle Schubladen aus der Geheimkommode meines Vaters, um zu sehen, ob und was darin versteckt war. Zweimal im Jahr, im Frühling und Herbst, wenn er zum Frühjahrstraining und zur World Series fuhr, nahm ich ohnehin sein Zimmer auseinander und suchte verloren geglaubte Zigaretten, herrenloses Kleingeld und Beweise, dass ich wirklich vom Planeten Electro stammte – vielleicht einen Brief von King Volton oder dem Kongress von Electro, in dem eine fette Belohnung versprochen wurde, wenn man mich heil großzog und sicherstellte, dass alle meine Wünsche erfüllt wurden.

Da ich diesmal mehr Zeit als sonst hatte, zog ich die Schubladen ganz heraus, um zu sehen, ob etwas dahinter oder darunter war und fand meines Vaters bescheidenen Vorrat an Pornoheften, der aus zwei Explaren bestand; das eine hieß Dude, das andere Nugget. Sie waren extrem geschmacklos. Die Frauen darin sahen aus wie Pat Nixon oder Mamie Eisenhower – Frauen, bei denen man eher zahlen würde, wenn man sie nicht nackt sehen musste. Ich war entsetzt und erstaunt, nicht, weil mein Vater Männermagazine besaß – das war natürlich eine sehr willkommene Entwicklung, die man auch mit allen verfügbaren Mitteln fördern sollte –, sondern weil er eine so klägliche Auswahl getroffen hatte. Es schien auf tragische Weise typisch für ihn, dass sich sein krankhafter Geiz sogar hier bemerkbar machte.

Trotzdem waren sie besser als nichts und zeigten auf jeden Fall unbekleidete Frauen. Ich nahm sie mit ins Baumhaus, wo sie in Abwesenheit von Mary O’Leary sehr geschätzt wurden. Als ich sie, kurz bevor mein Vater etwa zehn Tage später vom Frühjahrstraining zurückkam, wieder an ihren Platz legte, waren sie auffallend abgegriffen. Ja, es war schwer, nicht zu bemerken, dass sich eine größere Leserschaft daran delektiert hatte. Von dem einen fehlte das Titelblatt, und fast alle Bilder trugen nun in den vielfältigsten jungen Handschriften am Rand Kommentare und Sprechblasensprüche, meist freimütigen Charakters. In den folgenden Jahren habe ich mich oft gefragt, was mein Vater sich wohl bei diesen beherzten Nachbesserungen gedacht hat, doch aus irgendeinem Grunde ergab sich nie der rechte Moment zum Fragen.

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
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