Das Streben nach Vergnügen

Mrs. Dorothy Van Dorn reichte in Detroit die Scheidung ein, weil ihr Mann 1) ihr gesamtes Essen in die Tiefkühltruhe legte, 2) die Tiefkühltruhe abschloss, 3) sie für das Essen, das sie aß, bezahlen ließ und ihr dabei 4) die in Michigan übliche Umsatzsteuer von drei Prozent abknöpfte. Time, 10. Dezember 1951

Time, 10. Dezember 1951

Spaßhaben war in den 1950er Jahren etwas ganz anderes als heute, hauptsächlich, weil man nicht so oft Gelegenheit dazu bekam. Was, möchte ich behaupten, nicht per se schlecht ist. Toll vielleicht auch nicht, aber auch nicht schlecht. Man lernte, auf sein Vergnügen zu warten, und wusste es zu schätzen, wenn man es bekam.

Meine vergnüglichste Erfahrung dieser Jahre fiel auf einen heißen Tag im August 1959, kurz nachdem mir meine Mutter mitgeteilt hatte, dass sie eine Einladung für mich angenommen habe, mit Milton Milton und seiner Familie einen Tagesausflug zum Ahquabisee zu machen. Über diese voreilige Zusage freute ich mich nun keineswegs, glauben Sie mir, denn Milton Milton war die nervigste, widerwärtigste, dämlichste Flasche, die die Welt je hervorgebracht hatte, und seine Eltern und seine Schwester waren sogar noch schlimmer. Sie waren laut, stritten sich die ganze Zeit wie die Besenbinder, erzählten blöde Witze und aßen mit so weit offenen Mündern, dasss man bis zu ihren Zäpfchen und noch ein ganzes Stück weiter sehen konnte. Mr. Milton hatte einen Sektkorken großen Adamsapfel und sah der Disneyfigur Goofy gespenstisch ähnlich. Seine Frau war genauso wie er, nur haariger.

Ihre Vorstellung von Luxus war es, einen Teller mit Fig Newtons herumzureichen, den einzig wahrhaft grauslichen Keksen, die je gebacken wurden. Und wenn Sie dabei hässlich lachten, rissen sie den Mund weit auf und nutzten die Gelegenheit, einem zu zeigen, wie ein gut durchgekauter Fig Newton in seinen letzten Momenten vor dem ewigen Dunkel aussah (schwarz, pampig, grässlich). Eine Stunde mit den Miltons zu verbringen war wie ein Besuch im zweiten Kreis der Hölle. Natürlich setzte ich sie wiederholt mit ThunderVision in Brand, doch sie waren eigenartig unausrottbar.

Ich hatte ihre Gastfreundschaft bis dato erst einmal genossen, und zwar bei einer Pyjamaparty, bei der ich der einzige Gast war, das heißt, wahrscheinlich der einzige der Eingeladenen, der auch kam. Und da zwang mich – ich wiederhole: zwang mich – Mrs. Milton, Rindfleischbröckchen auf Toast zu essen, ein Gericht, das sich eng an die Vorlage Erbrochenes hielt, und schickte uns um halb neun ins Bett, nachdem Milton, der ungefähr 16 Stunden so getan hatte, als sei er ein Löffelbagger, bei der Hälfte von I’ve Got a Secret eingeschlafen war.

Als mir meine Mutter also mitteilte, dass sie mich in einem Anfall liebenswürdigen Wahnsinns erneut zu mehreren Stunden in der Gesellschaft der Miltons verdammt hatte, war mein Entsetzen praktisch grenzenlos.

»Sag mir, dass das nicht wahr ist«, stöhnte ich und begann in kleinen, verstörten Kreisen auf dem Teppich herumzutigern. »Sag mir, dass das alles nur ein böser Traum ist.«

»Ich dachte, du magst Milton«, sagte meine Mutter. »Du bist doch auch bei seiner Pyjamaparty gewesen.«

»Mom, das war die schlimmste Nacht meines Lebens. Weißt du das denn nicht mehr? Mrs. Milton hat mich gezwungen, überbackenes Erbrochenes zu essen. Und dann hat sie mich gezwungen, Miltons Zahnbürste zu benutzen, weil du vergessen hattest, meine einzupacken.«

»Wirklich?«, sagte meine Mutter.

Ich nickte mit gequältem Stoizismus. Sie hatte mir aus Versehen den Kulturbeutel meiner Schwester mitgegeben. Darin waren zwei in Papier eingewickelte Tampons und eine Duschkappe, aber weder meine Zahnbürste noch die geheime Mitternachtsleckerei, die sie mir hoch und heilig verprochen hatte.

Den Rest des Abends trommelte ich mit den Tampons auf dem Kopf des im Koma liegenden Milton herum.

»Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so gelangweilt. Das habe ich dir doch alles erzählt.«

»Wirklich? Ich kann mich gar nicht erinnern.«

»Mom, ich musste Milton Miltons Zahnbürste benutzen, nachdem er Fig Newtons gegessen hatte.«

Jetzt zuckte sie wenigstens mitfühlend zusammen.

»Bitte, zwing mich nicht, mit ihnen zum Ahquabisee zu fahren.«

Sie überlegte kurz. »Na, gut«, sagte sie. »Aber dann musst du leider mit uns kommen Schwester Gonzaga besuchen.«

Schwester Gonzaga war eine Großtante mit eindrucksvollem Gebaren und noch eine der vielen Nonnen im mütterlichen Zweig meiner Familie. Sie war 1,80 Meter groß und wahrhaft Furcht erregend. Seit langem hegte man in der Familie den Verdacht, dass sie eigentlich ein Mann sei. Man hatte immer den Eindruck, dass unter all dem steifen Leinen reichlich Brustbehaarung war. Im Sommer 1959 lag Schwester Gonzaga in einem Des Moineser Krankenhaus im Sterben, beeilte sich aber, wenn Sie mich fragen, beileibe nicht damit. Ein Nachmittag in Schwester Gonzagas Zimmer im Heim für sterbende Nonnen (ob das der Name war, weiß ich natürlich nicht mehr genau) war wahrscheinlich das Einzige, das schlimmer war als ein Tagesausflug mit den Miltons.

Eingequetscht in die uralte Sardinenbüchse der Miltons, ein Auto der Marke Nash mit dem Komfort, der Eleganz und Geschmeidigkeit einer Gefriertruhe, fuhr ich also in einer Stimmung düsterer Ergebenheit mit zum Ahquabisee, erwartete das Schlimmste und wurde nicht enttäuscht. Eine Stunde verirrten wir uns zunächst einmal unter heftigen Wortwechseln in unmittelbarer Nähe des Capitol von Iowa – einer normalen Familie wäre das in Des Moines nie gelungen –, und als wir den See dann endlich erreichten, verbrachten wir weitere eineinhalb Stunden damit, unter viel zusätzlichem Disputieren das Auto auszuladen und auf dem schattigen Rasen neben dem schmalen künstlichen Strand ein Basislager zu errichten. Mrs. Milton verteilte Sandwiches, die mit einer rosafarbenen Paste bestrichen waren, die aussah wie das Zeug, mit dem meine Großmutter ihr Gebiss am Gaumen befestigte, und es vielleicht sogar auch war. Ich ging mit meinem Sandwich jedenfalls ein wenig spazieren und überließ es einem Hund, der aber nichts davon wissen wollte. Selbst eine Ameisenkolonne, sah ich später, hielt einen Meter Abstand.

Nach dem Essen mussten wir 45 Minuten lang stillsitzen, bevor wir schwimmen durften, denn wir hätten ja Krämpfe kriegen und in dem 15 Zentimeter tiefen Wasser eines grauslichen Todes sterben können. Weiter wagten sich junge männliche Wesen ohnehin nicht hinein, denn die Gerüchte wollten nie verstummen, dass in den kaffeefarbenen Tiefen des Ahquabisees bösartige Schnappschildkröten hausten, die die Schniepel kleiner Jungs mit leckerem Futter verwechselten. Mrs. Milton maß die Ruhepause mit einer Eieruhr und regte uns an, die Augen zu schließen und ein Nickerchen zu machen, bis wir schwimmen konnten.

Weit draußen im See war eine große Holzplattform vertäut, auf der ein unglaublich hohes Sprungbrett stand – eine Art hölzerner Eiffelturm. Ich bin sicher, es war die höchste Holzkonstruktion in Iowa, wenn nicht im Mittleren Westen. Da sie aber so weit vom Ufer entfernt war, verirrte sich kaum jemand dorthin. Ganz selten einmal schwammen ein paar tollkühne Teenager dort hinaus und schauten sich um. Manchmal kletterten sie die vielen Leitern zu dem hohen Sprungbrett hinauf und krochen sogar vorsichtig bis zu dessen Spitze, doch sie zogen sich stets wieder zurück, wenn sie sahen, wie selbstmörderisch tief das Wasser unter ihnen lag. Niemand wusste, ob überhaupt einmal ein menschliches Wesen von dort hinuntergesprungen war.

Deshalb war es eine veritable Überraschung, als die Eieruhr unsere Befreiung einläutete und Mr. Milton aufsprang, anfing, den Kopf hin und her zu drehen und Streckübungen mit den Armen zu machen, und verkündete, er werde einen Sprung vom Sprungturm wagen. Er war nämlich ein kleinerer Kunstsprungstar an der Lincoln Highschool gewesen und versäumte nie, jeden, der länger als drei Minuten in seiner Gesellschaft verbrachte, darauf hinzuweisen. Aber auf einem Dreimeterbrett in einer Schwimmhalle! Der Sprungturm am Ahquabisee war eine andere Größenklasse. Er hatte offensichtlich den Verstand verloren, aber Mrs. Milton blieb bemerkenswert ungerührt. »Okay, Schatz«, erwiderte sie cool von unter einem grotesken Hut hervor. »Du kriegst auch ein Fig Newton von mir, wenn du zurückkommst.«

Die Neuigkeit von der irrsinnigen Absicht des Mannes, der wie Goofy aussah, hatte sich schon am Ufer entlang verbreitet, als Mr. Milton im leichten Laufschritt zum Wasser eilte und mit gleichmäßigen Zügen zur Plattform hinausschwamm. Als er dort ankam, war er bloß ein winziges, weit entferntes Strichmännchen, doch selbst aus einer solchen Distanz schien das Sprungbrett Hunderte Meter über ihm zu dräuen – ja, es sah aus, als kratze es an den Wolken. Mr. Milton brauchte mindestens 20 Minuten, um die Zickzackleitern bis oben hochzuklettern. Auf dem Gipfel angekommen, schritt er auf dem Sprungbrett auf und ab, das wahnsinnig lang war – musste es auch sein, damit es über den Rand der Plattform reichte –, sprang zur Probe zwei-, dreimal in die Höhe, atmete ein paarmal tief durch und stellte sich schließlich am festen Ende, die Arme seitlich am Körper, in Positur. Von seiner Haltung und startbereiten Pose war klar, er wagte es.

Mittlerweile hatten alle Leute am Ufer und im Wasser – insgesamt mehrere Hundert – in ihrem Tun innegehalten und schauten schweigend zu. Mr. Milton stand geraume Zeit still, hob dann mit einem hübschen Hauch Dramatik die Arme, rannte wie von der Tarantel gestochen über das lange Sprungbrett – denken Sie an einen Kunstturner, der bei Olympischen Spielen mit voller Geschwindigkeit zu einem in einiger Entfernung stehenden Absprungbrett rast, und Sie haben eine ungefähre Vorstellung –, sprang einmal gewaltig hoch und warf sich dann in einem perfekten Schwalbensprung weit und hoch hinaus. Ich muss sagen, es war ein herrlicher Anblick. Er fiel mit makelloser Eleganz – scheinbar minutenlang. So schön waren der Moment und das atemlose Schweigen der zuschauenden Menschenmassen, dass man über den ganzen See nur das schwache Pfeifen seines Körpers hören konnte, der durch die Luft aufs weit, weit unter ihm liegende Wasser zuraste. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet, doch nach einer Weile schien er rot zu werden wie ein herabfallender Meteor. Aber er bewegte sich wirklich.

Ich weiß nicht, was passiert ist – ob er die Nerven verlor oder begriff, dass er mit mörderischem Tempo aufs Wasser zuschoss, oder sonst irgendwas –, er besann sich jedenfalls nach drei Vierteln des Weges hinunter in der ganzen Angelegenheit noch mal und fing an um sich zu schlagen, als habe er einen Alptraum und sich dabei im Bettzeug verfangen oder als sei sein Fallschirm nicht aufgegangen. Vielleicht zehn Meter über dem Wasser hörte er auf, um sich zu schlagen, und versuchte eine neue Taktik. Er breitete Arme und Beine weit in X-Form aus und hoffte augenscheinlich, dass es seinen Fall verlangsamen würde, wenn er ein Höchstmaß an Oberfläche bot.

Dem war nicht so.

Er schlug – »prallte« ist das richtige Wort – mit mehr als 900 Stundenkilometern auf dem Wasser auf, und der Knall war so laut, dass selbst fünf Kilometer weiter Vögel noch aus den Bäumen aufflogen. Bei der Aufschlaggeschwindigkeit wird Wasser praktisch zum Festkörper. Ich glaube auch, Mr. Milton tauchte gar nicht ein, sondern wurde, mit plötzlich erschlafften Armen und Beinen, etwa fünf Meter wieder hochkatapultiert, fiel zurück, blieb dann auf der Oberfläche reglos liegen und drehte sich langsam wie ein Herbstblatt. Zwei vorbeikommende Angler in einem Ruderboot schleppten ihn ans Ufer, ein Dutzend Zuschauer trug ihn zu einem Rasenstück und bettete ihn dort vorsichtig auf eine alte Decke, wo er, auf dem Rücken liegend und Arme und Beine leicht angewinkelt und hochgestellt, den restlichen Nachmittag verbrachte. Jeder Zentimeter seiner Körperoberfläche, von seiner beginnenden Glatze bis zu seinen Zehennägeln sah roh und wie abgeschliffen aus, als habe er einen unglaublichen Unfall mit einer Bandschleifmaschine erlitten. Gelegentlich nahm er einen kleinen Schluck Wasser zu sich, zum Sprechen war er zu traumatisiert.

Später an dem Nachmittag schnitt sich Milton junior mit einem Beil, das er auf keinen Fall, hatte man ihm gesagt, anrühren durfte, und hatte alles auf einen Schlag: Riesenschmerzen und natürlich Riesenärger. Es war der schönste Tag meines Lebens.


Das heißt natürlich nicht viel, wenn man bedenkt, dass bisher der schönste Tag meines Lebens der gewesen war, an dem Mr. Sipkowicz, ein Lehrer, den wir nicht sehr mochten, an einem Lincoln Log leckte.

Lincoln Logs waren Holzklötze zum Spielen, mit denen man, wie den fantasievollen Bebilderungen der zylindrischen Schachteln zu entnehmen war, Forts, Ranches, Palisaden, Arbeiterbaracken, Korrale und viele andere Bauwerke errichten konnte, die für Cowboys interessant und nützlich waren. Doch die zur Verfügung gestellten Materialien reichten kaum aus, eine kleine rechteckige Hütte mit einer Tür und einem Fenster zu bauen (obwohl man das Fenster, je nach Wunsch, rechts oder links von der Tür anbringen konnte).

Buddy Doberman und ich entdeckten nun, dass man Lincoln Bauklötze weiß bleichen konnte, wenn man auf sie pieselte. Und es gelang uns nach mehrwöchigen Bemühungen die erste Albino-Lincoln-Blockhütte zu erschaffen, die wir als Teil eines Projekts über Abraham Lincolns Kindheit und Jugend mit in die Schule nahmen. Da wir selbstverständlich darauf verzichteten, Auskunft zu erteilen, wie wir die Bauklötze weiß gemacht hatten, untersuchten Mitschüler wie Lehrer sie prompt gründlich nach Hinweisen.

»Ich wette, ihr habt es mit Zitronensaft gemacht«, sagte Mr. Sipkowicz, der jugendlich forsch und widerwärtig war, eine unselige Vorliebe für protzige Schlipse und ein ganzes Schulhalbjahr die Ehre hatte, der einzige männliche Kollege an der Greenwood School zu sein. Bevor wir ihn davon abhalten konnten – nicht, dasss wir die Absicht oder den Wunsch gehabt hätten –, ließ er eine lange Reptilienzunge herausschnellen und fuhr probeweise zart, genüsslich, mit den Augendeckeln klimpernd, über den längsten Baustein in der Rückwand, den wir zufällig erst an dem Morgen präpariert hatten und der noch ein Ideechen feucht war.

»Also, bitte, da schmecke ich doch Zitrone«, sagte er mit selbstzufriedenem Kennerblick.

»Fast!!!«, riefen wir, und er probierte noch einmal.

»Nein, es ist Zitrone«, behauptete er. »Ich schmecke die Säure.« Noch einmal schleckte er darüber und genoss den Geschmack mit solch innigem, konzentriertem, erregtem Nachdruck, dass wir einen Moment lang dachten, er stehe unter Schock und werde gleich umkippen, doch es war nur seine Art, den Moment auszukosten. »Definitiv Zitrone«, sagte er wieder entspannter und gab uns das Haus zur allseitigen Zufriedenheit zurück.

Natürlich machte uns Mr. Sipkowicz’ unverhofftes Lecken Freude, doch das wahrhaft Erfreuliche an der ganzen Angelegenheit bestand in dem Wissen, dass wir die ersten Jungs in der Geschichte waren, die mit Lincoln-Bauklötzen richtigen Spaß gehabt hatten, denn eigentlich waren sie unabänderlich sinnlos und langweilig und teilten diese Eigenschaft mit fast allem anderen Spielzeug der damaligen Zeit.

Schwer zu sagen, welche die dümmsten oder enttäuschendsten Spielsachen der 1950er Jahre waren, denn die meisten waren das eine oder das andere und viele sogar beides. Was mir immer als das unbestreitbar Unbefriedigendste in den Kopf kommt, war Silly Putty, eine klebrige, knetbare rosa Plastikmasse, die, wenn man sie warf, ein Dutzend Mal oder so unberechenbar in der Gegend herumsprang, und dann in einem Abflussrohr verschwand. (Eigentlich war das das Beste daran, sie war eh zu nichts zu gebrauchen.) Manch anderer entscheidet sich vielleicht für den haushoch unamüsanten Mr. Potato Head, eine Schachtel mit Plastikteilen, anhand derer Kinder die fundamentale Wahrheit entdecken konnten, dass auch eine leblose Knolle mit Ohren, Armen, Beinen und debilem Lächeln eine leblose Knolle bleibt.

Bekannt für das Gegenteil von freudiger Extase war Slinky, eine Metallspirale, die man koppheister eine Treppe hinunterrasseln lassen konnte, die aber sonst nichts tat. Ein wenig versöhnlich stimmte allerdings, dass man das eine Ende jemandem in die Hand geben – Lumpy Kowalski war dafür immer sehr gut geeignet – und das andere bis weit über die Straße und halb einen gegenüberliegenden Hang hinaufziehen konnte. Wenn man losließ, traf es den anderen wie eine Kanonenkugel. In weitgehend gleicher Weise gewannen Hula-Hoop-Reifen einen gewissen Unterhaltungswert, wenn man sie als überdimensionale Wurfringe benutzte, um vorbeikommende Krabbelkinder einzufangen und zu Fall zu bringen.

Vielleicht sagt nichts mehr über das bescheidene Spektrum der Vergnügungen von damals aus, als dass die beliebtesten Bonbons in meiner Kindheit aus Wachs waren. Man konnte wählen zwischen Wachszähnen, Wachslimonadenflaschen, Wachsfässchen und Wachsschädeln, alle mit einer kleinen Menge einer bunten Flüssigkeit gefüllt, die wie Hustensaft schmeckte. Die schluckte man interessiert, wenn auch unbefriedigt und kaute die nächsten zehn, elf Stunden auf dem verbliebenen Wachs herum. Sie denken jetzt vielleicht, dass man eine falsche Vorstellung von Lust hat, wenn man bares Geld für farbloses Wachs hinblättert, und Sie haben natürlich völlig Recht. Doch wir haben es getan und es genossen, weil wir nichts Besseres kannten. Und irgendwie hatte es auch etwas Gutes, etwas gesund Asketisches, etwas zu essen, das weder Geschmack noch Nährwert besaß.

Man bekam auch kleine unechte Eishörnchen aus einem krümeligen, kreideähnlichen Material, Strohhalme mit grobkörnigem Zucker, der so wahnsinnig sauer war, dass einem das ganze Gesicht in den Mund gesaugt wurde wie Sand, der in einem Loch verrieselt, Kräuterlimonadefässchen, scharfe Zimtdragees, Lakritzschnecken und -schlangen, schmierige Gummiwürmer, gummiartige sowie zähe Bonbons aus gelatineähnlichem Material, die nach unbekannten (und ungenießbaren) Früchten schmeckten, aber ihr Geld wert waren, weil es über drei Stunden dauerte, eins zu lutschen (und weitere drei, die klebrigen Überreste, manchmal mit anhängenden Füllungen, aus den Backenzähnen zu pulen). Und schließlich gab es noch Kieferbrecher von der Größe und Kompaktheit einer Billardkugel, die ihr Geld am allermeisten wert waren, denn an ihnen lutschte man bis zu drei Monaten, und sie hatten verschiedenfarbige Schichten, die der Zunge interessante neue Farbtönungen verliehen, wenn man beharrlich eine schuppige Schicht nach der anderen ablöste.

Bei Bishop’s, wo es an der Kasse eine große und allseits geschätzte Auswahl an Penny-Bonbons gab, konnte man auch relativ köstliche Lakritzen bekommen, die mit nicht zu überbietender Sensibilität Nigger Babies genannt wurden, obgleich außer meiner Großmutter niemand mehr diesen Namen benutzte. Wenn sie aus ihrer Heimatstadt Winfield zu Besuch kam und wir manchmal bei Bishop’s essen gingen, steckte sie mir einen Vierteldollar zu und sagte, ich solle ein paar Bonbons holen, die wir beide später lutschen könnten.

»Und vergiss nicht, ein paar NIGGER BABIES mitzubringen!« , schrie sie dann zu meinem peinlichen Verdruss durch das ein Quadratkilometer große, vollbesetzte Speiserestaurant, und 100 Gäste schauten auf.

Wenn ich fünf Minuten später, in dem vergeblichen Versuch, der Entdeckung zu entgehen, verstohlen an die Außenwände gedrückt, mit dem Kauf zurückkam, schrie sie, kaum dass sie mich erspähte: »Ah, da bist du ja, Billy. Hast du daran gedacht, ein paar NIGGER BABIES mitzubringen? Ich ess sie nun mal zu gern, die … NIGGER BABIES

»Grandma«, flüsterte ich dann wütend, »das darfst du nicht sagen.«

»Was nicht sagen – NIGGER BABIES

»Ja. Sie heißen Lakritzbabys.«

»Nigger Baby klingt beleidigend«, erklärte ihr meine Mutter.

»Oh, tut mir leid«, sagte meine Großmutter und wunderte sich, wie etepetete die Stadtmenschen waren. Bei unserem nächsten Besuch bei Bishop’s hieß es dann: »Billy, hier ist ein Quarter. Geh und hol uns ein paar – wie nennt ihr die? – LAKRITZNIGGERS


Penny-Bonbons bekam man auch bei Grund’s, einem kleinen Lebensmittelladen auf der Ingersoll Avenue. Grund’s war in der Stadt eines der letzten Geschäfte in Familienbesitz, auf jeden Fall das letzte in unserem Viertel. Betrieben wurde es von einem bezaubernd winzigen und unermesslich steinalten, tattrigen Paar namens Mr. und Mrs. Grund. Seit 1929 war aus dem Lagerbestand nichts ersetzt, oder recht bedacht, verkauft worden. Es gab dort Dinge, die man seit der Stummfilmzeit in der großen, weiten Welt des Einzelhandels nicht mehr gesichtet hatte – Othine-Bleichcreme, Fels Naptha-Seife, Kisten mit Wild-Root-Haarwasser mit einem Foto von Joe E. Brown aus den 1920ern vorne drauf. Alles, einschließlich Mrs. Grund, war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Ich glaube, Mrs. Grund war schon ein paar Jahre tot. Mr. Grund dagegen war sehr lebendig und entzückt, wenn das Klingeln der Glocke über seiner Tür das Eintreten neuer Kunden verkündete, selbst wenn es immer nur Kinder waren, und selbst wenn sie nur aus einem einzigen ruchlosen Grund kamen: etwas von seinem riesigen Vorrat an alten Penny-Bonbons zu stehlen.

Es ist womöglich die beschämendste Geschichte aus meiner Kindheit, aber über 12 000 Kinder von damals hängen mit mir drin. Alle wussten, man konnte bei den Grunds etwas mitgehen lassen und wurde nie erwischt. Samstags kamen Kinder aus dem ganzen Mittleren Westen, manche in Charterbussen, wenn ich mich recht erinnere, um sich fürs Wochenende einzudecken. Mr. Grund war heiter blind gegenüber solcherlei Frevel. Man konnte ihm die Brille abnehmen, die Fliege aufbinden, ihn behutsam von seinen Hosen befreien, und er schöpfte immer noch keinen Verdacht. Manchmal kauften wir sogar eine Kleinigkeit, aber nur, damit er sich umdrehte und seine alte Registrierkasse in Bewegung versetzte und hundert Hände herausschießen, in seine übergroßen Gläser tauchen und sich noch einmal bedienen konnten. Ein paar größere Kinder nahmen einfach die Gläser. Trotzdem muss man sagen, verschönten wir ihm die Tage, bis er schließlich das Geschäft aufgeben musste.

Wenigstens waren Bonbons ein echtes Vergnügen. Die meisten Dinge, von denen es hieß, sie machten Spaß, waren nämlich in Wirklichkeit überhaupt nicht lustig. Zum Beispiel Modellbauen. Modellbauen, das ja angeblich riesigen Spaß machte, war in Wirklichkeit nur ein unerklärliches Martyrium, das man als Junge von Zeit zu Zeit durchmachen musste. Klar, die Modellbausätze sahen immer aus, als hätte man seinen Spaß damit. Die Illustrationen auf den Schachteln zeigten Kampfflugzeuge in wunderbaren Einzelheiten; sie spuckten rote und gelbe Flammen aus ihren Bordgeschützen und waren in lebhafte Luftkämpfe verwickelt. Im Hintergrund trudelte eine getroffene Messerschmitt zur Erde, in deren Cockpit ein betrübter Deutscher saß und bittere Flüche durch die Windschutzscheibe ausstieß. Man konnte es gar nicht abwarten, solche dynamischen Szenen dreidimensional zu erschaffen.

Doch wenn man mit dem Bastelsatz nach Hause kam und die Schachtel öffnete, war der Inhalt immer gleichförmig bleigrau oder olivgrün und bestand aus etwa 60 000 Teilen, von denen einige nicht größer als ein Proton, alle aber in irgendeiner organischen, untrennbaren Weise an Plastikstielen befestigt waren, die wie Sektquirle aussahen. Die Klebstofftuben waren im Gegensatz dazu so groß wie riesige Teigspritzen. Einerlei wie behutsam man daraufdrückte, sie sprotzten einen guten halben Liter einer klaren zähen Schmiere aus, die sich instinktiv an alles heftete, was nicht zu dem Modell gehörte – menschliche Finger, die Wohnzimmergardinen, das Fell eines vorbeilaufenden Tieres –, und dann zog sich das Ganze auch noch zu einem unendlich langen Faden.

Jeder Versuch, den Faden zu zerreißen, endete damit, dass man noch mehr Fäden erschuf und binnen Sekunden an Hunderten hängender Fäden klebte, die alle mit etwas verbunden waren, das nichts mit Modellflugzeugen oder dem Zweiten Weltkrieg zu tun hatte. Das Einzige, an dem der Kleber nicht haften blieb, waren interessanterweise die Plastikmodellteile. Dann verwandelte er sich nämlich in ein glibbriges Gleitmittel, mittels dessen zwei Teile endlos lange aufeinander herumglitschten, und das nie trocknete. Letzten Endes lief es darauf hinaus, dass nach etwa 40 Minuten intensiver, aber chaotischer Bemühungen man selbst und die unmittelbare Umgebung in ein Spinnennetz aus glänzenden Klebefäden gehüllt waren, in dessen Mitte sich ein grauer Flugzeugrumpf mit einem verkehrt herum zusammengeklebten Flügel und einem Piloten befand, der versehentlich, doch unwiderruflich, mit der Fliegerkappe an der Cockpitdecke klebte. Zu diesem Zeitpunkt war man aber glücklicherweise von dem Klebstoff so high, dass einem Pilot, Modell und alles andere vollkommen egal waren.

Das eigentlich Interessante an diesen Freizeitenttäuschungen in den Fünfzigern war indes, dass man nie damit rechnete. Weil die Anzeigen so toll waren! So gewieft wie damals waren die Werbeleute nie wieder. Sie konnten jedes mistige kleine trügerische Stück fantastisch klingen lassen. Nie vorher oder nachher klang Werbegesülz so seidenweich, verhieß einem so geschickt orgiastische Glückszustände mit ein paar simplen Materialien. Selbst jetzt noch sehe ich vor meinem geistigen Auge die Anzeigen in Boys’ Life. Die A.C. Gilbert Company aus New Haven, Connecticut, versprach einem rundum Freude an ihren genialen Chemiekästen, Mikroskopen mit Zubehör und weltberühmten Erector-Bausätzen. Bei Letzteren handelte es sich um Spielzeug zum Zusammenschrauben; aus kleinen Stahlträgern und anderen, das maskuline Herz erfreuenden Bestandteilen konnte man alle möglichen Wunderwerke der Technik fabrizieren – Brücken, Hebekräne, Karussels, motorisierte Roboter, also nichts, das man auf Tischplatten zusammenbaute und in einer Schublade verstaute, wenn man nicht damit spielen wollte. Es waren Dinge, die ein solides Fundament und jede Menge Platz brauchten. Ich bin beinahe sicher, dass man auf einer der Anzeigen sah, wie ein Junge auf einer Sechsmeterleiter Richtfest für ein Riesenrad feierte, auf dem sein jüngerer Bruder schon eine Probefahrt machte.

Was die Anzeigen nicht sagten, war, dass nur sechs Menschen auf dem Planeten – wahrscheinlich A.C. Gilberts Enkel – ausreichend begütert waren und ausreichend geräumige Villen besaßen, um mit den Baukästen so viel Freude zu haben, wie auf den Bildern verheißen. Ich weiß noch, wie mein Vater einmal vor Weihnachten einen Blick auf das Preisschild einer riesigen, in der Spielwarenabteilung bei Younkers ausgestellten Konstruktion warf und schrie: »Also, dafür kriegt man ja praktisch einen Buick!« Dann hielt er willkürlich andere männliche Vorübergehende an und hatte bald einen kleinen Club erstaunter Gleichgesinnter beisammen. Ich wusste also schon von frühester Kindheit an, dass ich nie ein Erector Set bekommen würde.

Stattdessen machte ich Lobbyarbeit für einen Chemiekasten, den ich in einer ansprechenden, zweifarbigen Doppelseite in Boys’Life gesehen hatte. Laut dieser Anzeige konnte ich mit dem famosen, sich auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand befindlichen Kasten aufregende Atomenergieexperimente veranstalten, die Erwachsenenwelt mit unsichtbarer Schrift verblüffen, Meister im FBI-Fingerabdrückevergleichen werden und hochbefriedigende, enorme Gestänker erzeugen (die eigentlich nicht versprochen wurden, sich aber beim Kauf eines jeden Chemiekastens von selbst verstanden).

Der Kasten, den ich am Weihnachtsmorgen öffnete, besaß die Ausmaße einer Zigarrenkiste – während der in der Zeitschrift Abgebildete die eines Überseekoffers gehabt hatte –, doch ich muss sagen, er war genial mit verheißungsvollen Dingen bestückt: Reagenzgläsern und einem praktischen Gestell, in das man sie stellen konnte, Trichter, Pinzette, Korken, etwa zwanzig kleinen Glasgefäßen mit bunten Chemikalien, von denen mehrere vielversprechend übel rochen, und einem kompakten kleinen Anleitungsbüchlein. Selbstredend stürzte ich mich sofort auf die Atomenergieseite und rechnete schon damit, dass bis zum Abendbrot eine kleine, private Pilzwolke über meiner Werkbank aufsteigen würde. Doch das Handbuch wies mich, wenn ich mich recht erinnere, darauf hin, dass alle Stoffe aus Atomen bestehen und dass alle Atome Energie haben, deshalb also alles Atomenergie hat. Man gieße zwei x-beliebige Dinge in ein Becherglas – wirklich egal, was –, schüttele sie einmal kräftig durch und simsalabim! hat man eine Atomreaktion.

Von der Art waren mehr oder weniger alle Experimente. Das einzige, bei dem auch nur halbwegs was passierte, hatte ich selbst ersonnen. Dazu vermischte ich alle Chemikalien aus dem Kasten mit Babbo-Scheuerpulver, Terpentin, ein wenig Backpulver, zwei Löffeln weißem Pfeffer, einem Klecks gut abgelagertem Meerrettich und einem großzügigen Spritzer Rasierwasser. Sobald diese Ingredienzen zusammenkamen, vergrößerte sich das Volumen um das Tausendfache, quoll über den Rand des Becherglases und auf unsere pfuschneue Arbeitsplatte in der Küche, wo es sofort zu zischen und sprutzeln und qualmen begann und dort, wo die Resopalplatten verfugt waren, ein rosaroter Striemen entstand, der hinfort ein ewiger Quell von Kummer und Verwunderung für meinen Vater war. »Ich versteh es einfach nicht«, sagte er immer wieder und beäugte den Rand der Arbeitsplatte. »Ich muss den Kleber falsch gemischt haben.«

Das schlechteste Spielzeug des Jahrzehnts, vermutlich das schlechteste, das je kreiert wurde, hieß elektrischer Football. Irgendwann in den 1950er Jahren mussten es einmal alle Jungs als Weihnachtsgeschenk entgegennehmen. Es bestand aus einer Schachtel mit den üblichen aufregenden und vollkommen irreführenden Illustrationen, in der sich eine Blechplatte von etwa der Größe eines Frühstückstabletts befand, die wie ein American-Football-Spielfeld bemalt war. Wenn man sie einschaltete, vibrierte sie heftig und 22 Männchen bewegten sich merkwürdig steif und hektisch. Es dauerte eine Ewigkeit, bis man ein Spiel aufgebaut hatte, weil die Männchen furchtbar schwer zu handhaben waren und sowieso immer umfielen und weil man sich in einem fort mit dem Gegner darüber stritt, welche Aufstellungen erlaubt waren und wer als Letzter seinen letzten Mann aufstellen durfte. Denn es war ein klarer Vorteil, wenn man bis zum letztmöglichen Moment warten und dann urplötzlich seinen Angriffsspieler an die Seitenlinie laufen lassen konnte, wo ihm keine Verteidiger in die Quere kamen. Immer endete das Ganze in bitteren Auseinandersetzungen, die sich zuspitzten, wenn man auslangte und – sogar mehrfach – die Lieblingsspieler des Gegners mit dem Finger umschnipste.

Dabei war es im Prinzip unerheblich, wie die Spieler beim Electric Football aufgestellt waren, denn sie liefen eh nie in die Richtung, in die sie laufen sollten. Überhaupt fiel die Hälfte von ihnen sofort um und blieb heftig zuckend liegen, als litte sie an üblen Magenkrämpfen, während die andere in so viele verschiedene Richtungen losschoss, wie Spieler auf den Beinen waren, und sich schließlich in einer Ecke zusammendrängte. Dort warfen sich die restlichen Männchen dann gegen die starren Seitenwände, als wollten sie sich aus einem brennenden Nachtclub retten, dessen Ausgang verriegelt war. Nur der Runningback verharrte zitternd fünf, sechs Minuten lang an Ort und Stelle, drehte sich dann langsam um und glitt ungehindert auf die falsche Endzone zu, bis er an der Twoyardline von seinem verzweifelten Trainer mit dem Finger umgehauen wurde, was weiteren Streit zur Folge hatte.

An diesem Punkt stellte man den Strom ab, richtete alle gefallenen Männchen wieder auf und wiederholte mit penibler Sorgfalt die Aufstellerei. Nach dreien solcher Spiele sagte aber immer einer der Beteiligten: »He, woll’n wir rausgehen und Lumpy Kowalski mit dem Slinky eins überziehen?« Und dann schubste man das Spiel unters Bett, wo es nie wieder angerührt wurde.

Echte Aufregung war nur in Comics zu finden. Es war wirklich das goldene Zeitalter der Comics. Mitte des Jahrzehnts wurden monatlich fast 100 Millionen produziert. Man kann sich kaum noch vorstellen, was für eine zentrale Rolle sie im Leben der Jugend der Nation spielten – ja, und auch im Leben nicht weniger, die ihre Jugend schon hinter sich hatten. Eine Umfrage enthüllte, dass sage und schreibe zwölf Prozent der Lehrer im Land begeisterte Comicleser waren. (Und das waren natürlich nur die, die es zugaben.)

Als Thunderbolt Kid las ich Comics so, wie Ärzte das New England Journal of Medicine lesen, ich wollte fachlich auf dem Laufenden bleiben. Aber ich war ohnehin ein treuer Leser und hätte sie auch verschlungen, wenn ich daraus keinen praktischen Nutzen für mich hätte ziehen können.

Doch gerade als wir so richtige Comicfanatiker wurden, trat eine Krise ein. Steigende Produktionskosten und die Konkurrenz des Fernsehens ließen die Verkäufe stocken. Recht viele Kinder und Jugendliche schauten sich nun lieber Superman und Zorro im Fernsehen an und sahen nicht mehr ein, warum sie die Anstrengung auf sich nehmen sollten, Worte auf einer Seite zu lesen. Wir im Kiddie Corral hatten, ehrlich gesagt, nichts dagegen, wenn solch wankelmütige Fans abfielen, doch für die Branche war es ein fast tödlicher Schlag. In zwei Jahren fiel die Zahl der Comic-Titel von 650 auf gerade mal 250.

Die Hersteller von Comics unternahmen ein paar verzweifelte Schritte, um das Interesse wieder anzufachen. Heldinnen wurden auf einmal ungeniert sexy. Ich erinnere mich, dass ich eine unerwartete, doch überaus angenehme hormonelle Erwärmung verspürte, als ich erstmals Asbestos Lady erblickte, deren Kanonenkugelbrüste und mächtige Lenden in den Satinfetzchen, mit denen ein zeichnerisches Genie sie ausgestattet hatte, kaum Platz fanden.

Für Gefühlsduselei war in diesem neuen Zeitalter kein Platz. Captain Americas halbwüchsiger Gefährte Bucky wurde in einem Heft mit einer Schusswunde ins Krankenhaus eingeliefert, und man hörte nie wieder was von ihm. Ob er starb oder als Krüppel genas und die ihm verbleibenden Jahre im Rollstuhl verbrachte, wussten wir nicht, und es interessierte uns auch nicht. Captain America aber erhielt ein langbeiniges, gertenschlankes weibliches Wesen namens Golden Girl zur Assistentin und mit Sun Girl, Lady Lotus, der Phantom Lady mit dem rabenschwarzen Haar kamen auch schon bald noch andere Damen in der Blüte ihrer Reize hinzu.

Doch alles Gute hat einmal ein Ende. Dr. Frederic Wertham, ein in Deutschland gebürtiger Psychiater aus New York, begann eine entschlossene Kampagne, um die Welt vom verderblichen Einfluss der Comics zu befreien. In einem extrem beliebten, bestürzend wirkungsvollen Buch mit dem Titel Seduction of the Innocent behauptete er, Comics förderten Gewalt, Folter, Kriminalität, Drogenmissbrauch und ungebremste Masturbation, wenn auch vermutlich nicht alles auf einmal. Grimmig erzählte er, ein von ihm befragter Junge habe gestanden, dass er nach Lektüre eines Comics geradezu „lust- und sexbesessen war«, und übersah die Tatsache geflissentlich, dass die Worte »Lust«, »Sex« und »besessen« für die meisten Jungs zusammengehörten – ob mit oder ohne Comics.

Wertham sah buchstäblich Sex in allen Schattierungen. Er wies darauf hin, dass auf einem Bild eines Actioncomics der Schatten auf der Schulter eines Mannes genauso aussah wie die Genitalien einer Frau; man müsse es nur schief halten, die Augen zusammenkneifen und seine Fantasie spielen lassen. (Das stimmte. Wo er Recht hatte, hatte er Recht.) Er behauptete auch, was die meisten von uns in unserem tiefsten Inneren wussten, aber nicht gern zugeben wollten – dass viele der Superhelden keine echten Männer der Spezies waren, die heißblütig Mädchen küssten. Vor allem Batman und Robin griff er als »Wunschtraum vom Zusammenleben zweier Homosexueller« heraus. Was sollte man dagegen sagen? Ein Blick auf ihre Strumpfhosen genügte.

Wertham festigte seinen Ruhm und seinen Einfluss mit Aussagen vor einem Senatsausschuss, der die Geißel der Jugendkriminalität untersuchte. Just in dem Jahr hatte Robert Linder, ein Psychologe aus Baltimore, die These aufgestellt, dass moderne Teenager an »einer Form kollektiver Geisteskrankheit« litten, weil sie Rock ’n’ Roll hörten und tanzten. Jetzt gab Wertham Comics die Schuld an ihren bedauerlichen pubertären Verirrungen.

James T. Patterson behauptet in seinem Buch Grand Expectations, dass »1955 13 Staaten Gesetze verabschiedeten, die die Veröffentlichung, den Vertrieb und den Verkauf von Comics einschränkten«. Alarmiert und weitere restriktive Maßnahmen befürchtend, ließ die Comic-Industrie von ihrer Vernarrtheit in kurvenreiche Bienen, Blutbäder, Schatten, die ein zweites Hinschauen von schräg unten lohnten, und allem ab, das nur irgendwie aufregend war. Es war ein herber Schlag.

Zur Bestürzung der Puristen füllte sich der Kiddie Corral mit lahmen Comics über Archie und Jughead oder Disneyfiguren wie Donald Duck und seine Neffen Tick, Trick und Track, die Hemden und Kappen, aber unter der Gürtellinie absolut nichts trugen, was doch eigentlich auch ein wenig ungehörig, aber schon gar nicht gesund war. Allmählich zog der Kiddie Corral kleine Mädchen an, die dort saßen und über die letzten Hefte von Little Lulu und Casper, den kleinen Geist, plauderten, als seien sie bei einer Teegesellschaft. Ein vollkommener Idiot legte sogar Classic Comic Books hinein, die berühmte literarische Werke in Comics verwursteten. Sie wurden natürlich gleich wieder hinausgeworfen.

Selbstverständlich vaporisierte ich Wertham, doch es war zu spät. Das Kind war in den Brunnen gefallen. Spaß war immer schwerer zu finden, und der, den wir am allernötigsten brauchten, am schwersten. Ich meine natürlich die Sinneslust. Doch das ist eine andere Geschichte und ein anderes Kapitel.

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
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