Meine Heimatstadt

Springfield, Ill. (AP) – Der Senat von Illinois löste gestern seinen Rationalisierungs- und Einsparungsausschuss auf – »aus Gründen der Rationalisierung und Einsparung«.

Des Moines Tribune, 6. Februar 1955

Ende der 1950er Jahre gab die Königlich Kanadische Luftwaffe eine Broschüre über Isometrik heraus, eine Sparte der Leibesertüchtigung, die sich bei meinem Vater kurzer, aber äußerster Beliebtheit erfreute. Bei isometrischen Übungen benutzte man ein beliebiges hartes Hilfsmittel wie einen Baum oder eine Wand und stemmte sich in verschiedenen Stellungen dagegen, um die einzelnen Muskelgruppen zu stärken und fit zu halten. Da jedermann Zugang zu Bäumen und Wänden hat, musste man nicht viel in eine kostspielige Ausrüstung investieren, was für meinen Vater wahrscheinlich den Reiz an der Sache ausmachte.

Weniger glücklich war allerdings, dass er sein isometrisches Muskeltraining normalerweise in Flugzeugen absolvierte. Irgendwann während eines Fluges schlenderte er nach hinten in Richtung Bordküche oder in den Bereich vor dem Notausgang, stellte sich in Positur, als wolle er schweres Gerät bewegen, und drückte sich mit dem Rücken oder der Schulter gegen die Wand des Flugzeugs. Ab und zu gönnte er sich eine Pause, atmete tief durch und machte sich dann mit leisem, entschlossenem Grunzen wieder ans Werk.

Da es beängstigend so aussah, als wolle er ein Loch in die Flugzeugwand drücken, erregte es natürlich Aufmerksamkeit. Geschäftsleute auf den Plätzen in der Nähe lugten über den Rand ihrer Brillen. Eine Stewardess streckte den Kopf aus der Bordküche und lugte ebenfalls, doch mit einer gewissen erhöhten Wachsamkeit, als erinnere sie sich an einen Teil ihrer Ausbildung, den sie bisher noch nicht in der Praxis hatte anwenden müssen.

Wenn mein Vater sah, dass er Zuschauer hatte, warf er sich in die Brust, lächelte verbindlich und begann in kurzen Zügen die faszinierenden Grundsätze der Isometrik darzulegen. Anschließend gab er einem sich freilich rasch abwendenden Publikum eine Vorführung. Er war merkwürdig unfähig, solche Situationen peinlich zu finden, doch das machte nichts, denn mir waren sie für uns beide peinlich – ja, peinlich für uns beide nebst allen Fluggästen, der Fluggesellschaft und ihren Angestellten sowie dem gesamten Bundesstaat, über den wir gerade flogen.

Aus zweierlei Gründen fand ich mich mit derlei Aktivitäten aber ab. Erstens war mein Vater, wenn er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, meist nicht halb so närrisch, zweitens war Ziel der Flüge immer eine große Stadt wie Detroit oder St. Louis, wo wir in einem großen Hotel übernachten und Baseballspiele besuchen würden. Und dafür nahm ich vieles in Kauf – na, eigentlich alles. Mein Vater war Sportreporter für den Des Moines Register, damals eine der besten Zeitungen des Landes, und oft durfte ich ihn auf Reisen im Mittleren Westen begleiten. Manchmal fuhren wir nur mit dem Auto in kleinere Orte wie Sioux City oder Burlington, doch mindestens einmal im Sommer bestiegen wir ein silberglänzendes Flugzeug – damals eine Riesensache – und rumpelten durch die Schäfchenwolken hoch oben an einem sommerlichen Firmament zu einer richtigen Metropole, um Major-League-Baseballspielen beizuwohnen, Topereignissen in dem Sport.

Wie alles damals war Baseball Teil einer simpleren Welt und vor den Spielen durfte ich mit ihm in die Umkleidekabinen, zu den überdachten Spielerbänken und aufs Spielfeld. Stan Musial hat mir durchs Haar gewuschelt. Ich habe Willie Mays einen Ball zurückgegeben, den er nicht gefangen hatte. Ich habe Harvey Kuenn (vielleicht war es auch Billy Hoeft) mein Fernglas geliehen, damit er eine vollbusige Blondine auf den oberen Rängen ins Visier nehmen konnte. Und einmal saß ich an einem heißen Julinachmittag in den fast luftlosen Clubräumen unterhalb der Tribüne am linken Spielfeld von Wrigley Field in Chicago neben Ernie Banks, dem großartigen Shortstop der Cubs, als er kistenweise neue weiße Basebälle signierte (die übrigens den köstlichsten Duft der Erde verströmen und in deren Nähe Zeit zu verbringen sich immer lohnt). Unaufgefordert übernahm ich es, neben Ernie Banks Platz zu nehmen und ihm die Bälle zuzureichen. Was den Ablauf erheblich entschleunigte. Doch er schenkte mir jedes Mal ein kleines Lächeln und sagte Danke schön, als täte ich ihm einen Riesengefallen. Er war das netteste menschliche Wesen, das mir je begegnet ist. Es war, als wäre man mit Gott befreundet.


Ich kann mir keine erfreulichere Zeit und keinen glücklicheren Ort zum Leben vorstellen als die Vereinigten Staaten von Amerika in den 1950er Jahren. Noch nie hatte in einem Land ein solcher Wohlstand geherrscht. Als der Krieg zu Ende war, gab es in den USA Fabriken im Wert von 26 Milliarden Dollar, die vor dem Krieg noch nicht existiert hatten, 140 Milliarden Dollar in Ersparnissen und Kriegsanleihen, die nur darauf warteten, ausgegeben zu werden, keine Bombenschäden und praktisch keine Konkurrenz. Die amerikanischen Unternehmen mussten nur aufhören, Panzer und Schlachtschiffe zu bauen, und stattdessen Buicks und Frigidaires produzieren. Und Mann, oh Mann, das taten sie!

1951, als ich auf die Welt gesegelt kam, besaßen fast 90 Prozent der US-amerikanischen Familien einen Kühlschrank und fast 75 Prozent Waschmaschine, Telefon, Staubsauger und Gas- oder Elektroküchenherd – Dinge, von denen der Rest der Welt immer noch nur träumen konnte. Die US-Bürger nannten 80 Prozent der Elektrogeräte auf Erden ihr Eigen, verfügten über zwei Drittel der Produktionskapazitäten, erzeugten 40 Prozent des elektrischen Stroms, 60 Prozent des Öls und 66 Prozent des Stahls. Die fünf Prozent der Menschheit, die US-Amerikaner waren, waren reicher als die restlichen 95 Prozent zusammen.

Ich wüsste nicht, was Hülle und Fülle dieser Jahre besser illustriert als das Foto, das zwei Monate vor meiner Geburt in der Life abgedruckt war. Es zeigt die Familie Czekalinski aus Cleveland, Ohio – Steve, Stephanie und die beiden Söhne Stephen und Henry –, inmitten der zweieinhalb Tonnen Nahrung, die eine typische Arbeiterfamilie damals in einem Jahr vertilgte. Zu den Dingen, mit denen sie fotografiert wurden, gehörten 400 Pfund Mehl, 65 Pfund Backfett, 50 Pfund Butter, 31 Hähnchen, 270 Pfund Rindfleisch, fast 25 Pfund Karpfen, 130 Pfund gekochter Schinken, 35 Pfund Kaffee, 620 Pfund Kartoffeln, 663 Liter Milch, 131 Dutzend Eier, 180 Brotlaibe und 32 Liter Speiseeis, alles mit einem wöchentlichen Budget von 25 Dollar erstanden. (Mr. Czekalinski arbeitete im Versand einer Fabrik von Du Pont und verdiente 1,96 Dollar die Stunde.) 1951 aß der durchschnittliche US-Bürger 50 Prozent mehr als der Europäer.

Kein Wunder, dass die Leute zufrieden waren. Plötzlich bekamen sie Dinge, von denen sie nicht einmal geträumt hatten, und konnten ihr Glück kaum fassen. Wunderbar auch, wie bescheiden die Wünsche waren. Zum letzten Mal sollten Menschen schier aus dem Häuschen geraten, wenn sie in den Besitz eines Toasters oder Waffeleisens kamen. Schafften sie ein größeres Gerät an, luden sie die Nachbarn zum Anschauen ein. Als ich ungefähr vier war, kauften meine Eltern einen Amana-Stor-Mor-Kühlschrank und mindestens sechs Monate lang war der wie ein Ehrengast in unserer Küche. Wenn er nicht so schwer gewesen wäre, hätten sie ihn beim Essen bestimmt an den Tisch gezogen. Kam unerwartet Besuch, sagte mein Vater zu meiner Mutter: »Ach, Mary, haben wir wohl Eistee im Amana?« und bedeutungsvoll zu den Gästen: »Haben wir eigentlich jetzt immer. Es ist ein Stor-Mor.« »Ah, ein Stor-Mor«, sagte dann der männliche Gast und hob die Brauen wie jemand, der was von Qualitätskühlung versteht. »Wir haben auch überlegt, ob wir uns einen Stor-Mor anschaffen, uns am Ende aber für einen Philco Shur-Kool entschieden. Alice fand, dass das Easy-Glide-Gemüsefach wirklich leicht herauszuziehen ist, und man kriegt eine Familienpackung Eiskrem ins Gefrierfach. Und wie Sie sich sicher vorstellen können, war das für Wendell Junior das Verkaufsargument!«

Worauf alle herzlich lachten, sich hinsetzten, Eistee tranken und eine Stunde oder so über Haushaltsgeräte parlierten. Nie waren Menschen glücklicher gewesen.

Auch auf die Zukunft freuten sich die Leute in einer Weise, wie es nie wieder der Fall sein sollte. Bald, so stand es ja in jeder Illustrierten, würden wir Unterwasserstädte vor allen Küsten haben, Weltraumkolonien in riesigen Glasballons, atomgetriebene Züge und Verkehrsflugzeuge, jeder seinen eigenen Raketenrucksack, Gyrokopter in allen Hauseinfahrten, Autos, die sich in Boote oder sogar U-Boote verwandelten, bewegliche Bürgersteige, die uns – witsch! – in Schulen und Büros beförderten, Automobile mit Kuppeldächern, die sich selbst über glatte Superautobahnen fuhren, so dass Mom, Dad und die beiden Jungs (Chip und Bud oder Skip und Scooter) sich Brettspielen widmen, einem Nachbarn in einem vorbeifliegenden Gyrokopter zuwinken oder sich einfach zurücklehnen und darin schwelgen konnten, einige der wunderhübschen Worte aus den Fünfzigern zu sagen, die man jetzt nicht mehr hört: Vervielfältigungsapparat, Grillrestaurant, Stenograf, Eisschrank, Rübstielchen, Strumpfbandgürtel, Nylonstrümpfe, Sputnik, Beatnik, Cinerama, Moose Lodge, Pinökel, Daddy-o.

Wer nicht auf die Unterwasserstädte und die selbsttätig fahrenden Autos warten wollte, konnte sich schon jetzt Tausende kleiner Dinge besorgen, die das Leben bereicherten. Wenn man zum Beispiel von all dem Gebrauch gemacht hätte, was in den Annoncen einer einzigen Ausgabe der Illustrierten Popular Science vom Dezember 1956 feilgeboten wurde, hätte man unter anderem Folgendes tun können: sich Bauchreden oder Tranchieren beibringen (Letzteres mittels eines Fernstudiums an der National School of Meat Cutting in Toledo, Ohio), eine lukrative Karriere einschlagen (indem man von Tür zu Tür ging und anbot, Schlittschuhe zu schleifen), von zu Hause aus Feuerlöscher verkaufen, ein für alle Mal Leistenbrüchen vorbeugen, Radios bauen, Radios reparieren, im Radio auftreten, im Radio zu Menschen in verschiedenen Ländern und möglicherweise sogar auf verschiedenen Planeten sprechen, seine Persönlichkeit vervollkommnen, eine Persönlichkeit erlangen, eine männliche Figur erwerben, tanzen lernen, individuelles Geschäftspapier entwerfen oder in seiner Freizeit »Hunderte von Dollars verdienen« (indem man zu Hause Gartenfiguren oder andere hochmoderne Nippesfiguren bastelte).

Mein Bruder, normalerweise ein recht intelligenter Mensch, investierte einmal in eine Broschüre, die ihm bauchrednerische Künste beizubringen versprach. Er presste die Lippen zusammen und äußerte etwas Unverständliches, trat dann schnell zur Seite und sagte: »Das klang, als käme es von dort drüben, stimmt’s?« Auf eine Anzeige in der Mechanics Illustrated hin, die ihm für 65 Cent plus Porto Farbfernsehen zu Hause verhieß, bestellte und bekam er binnen vier Wochen per Post ein buntes, durchsichtiges Blatt aus Plastik, das er laut beiliegender Anleitung über den Bildschirm seines Fernsehgeräts kleben und dann das Bild dadurch betrachten sollte.

Da mein Bruder das Geld ausgegeben hatte, weigerte er sich zuzugeben, dass das Ganze ein wenig enttäuschend war. Wenn sich ein menschliches Gesicht in den rötlichen Teil des Bildschirms schob und ein Stück Rasen zufällig kurz mit dem grünen übereinstimmte, sprang er triumphierend auf und rief: »Seht ihr! Seht ihr! So sieht es im Farbfernsehen mal aus. Vorläufig ist das ja noch alles im Experimentierstadium.«

In unser Viertel kam das Farbfernsehen übrigens erst am Ende des Jahrzehnts, als Mr. Kiessler auf der St John’s Road für viel Geld einen enormen RCA Victor Consolette kaufte, das Prunkstück der RCA-Produktpalette. Mindestens zwei Jahre lang war Mr. Kiesslers Farbfernseher, soweit bekannt, der einzige, der sich in Privatbesitz befand, und eine fantastische Neuheit. Samstagsabends stahlen sich die Kinder aus der weiteren und näheren Umgebung auf seinen Hof und stellten sich in seine Blumenbeete, um durch das Doppelfenster hinter seinem Sofa eine Sendung zu sehen, die My Living Doll hieß. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Mr. Kiessler nicht ahnte, dass zwei Dutzend Kinder aller Altersstufen und Größen zusammen mit ihm fernsahen. Sonst hätte er nämlich nicht jedes Mal, wenn Julie Newmar auf der Bildfläche erschien, derart begeistert an sich herumgerubbelt. Ich hielt es für isometrisches Muskeltraining.


Bald vierzig Jahre lang, von 1945 bis zu seiner Pensionierung, ging mein Vater jedes Jahr für den Register zu den Spielen der Baseball World Series. Mit unermesslich weitem Abstand war das der Höhepunkt seines Arbeitsjahres. Er durfte sich nicht nur zwei Wochen lang in den kosmopolitischsten, aufregendsten Städten auf Spesen einen tollen Lenz machen – und von Des Moines aus betrachtet, waren alle Städte kosmopolitisch und aufregend –, sondern er sah auch mit eigenen Augen viele der denkwürdigsten Augenblicke in der Geschichte des Baseballs. Al Gionfriddos einhändigen Wundercatch eines Linedrives von Joe DiMaggio, Don Larsens Glanzleistungen im Jahre 1956, Bill Mazeroskis Homerun, der 1960 zum Sieg in der Series führte. Ich weiß, Ihnen bedeutet das gar nichts – wahrscheinlich bedeutet es heute den meisten Menschen nichts –, doch es waren geradezu ekstatische Momente, und eine ganze Nation erlebte sie gemeinsam.

Damals wurden die World-Series-Spiele tagsüber ausgetragen. Wenn man also eins sehen wollte, musste man die Schule schwänzen oder sich eine praktische Bronchitis zulegen. (»Oje, Mum, der Lehrer hat gesagt, die TB ist wieder auf dem Vormarsch.«) Überall, wo ein Radio an war oder ein Fernseher lief, sammelten sich Menschentrauben. Irgendwas von einem World-Series-Spiel zu sehen oder zu hören, und sei es nur ein halbes Inning in der Mittagspause, wurde zum verbotenen Nervenkitzel. Und war man dabei, wenn etwas historisch Bedeutsames passierte, vergaß man das seiner Lebtage nicht. Mein Vater hatte ein unheimliches Talent, in solchen Momenten dabei zu sein – und ganz besonders in dem (in so mancher Hinsicht) epochemachenden Jahr 1951, als unsere Geschichte beginnt.

In der National League (einer der beiden Hauptligen im Profibaseball; die andere war die American League) steuerten die Brooklyn Dodgers auf den mühelosen Gewinn der Meisterschaft zu, da regten sich Mitte August ihre Rivalen von der anderen Seite der Stadt, die New York Giants, und setzten zu einer höchst unwahrscheinlichen Aufholjagd an. Plötzlich gelang ihnen alles. Sie gewannen 37 der 44 noch ausstehenden Spiele, und der einst unanfechtbare Vorsprung der Dodgers schmolz scheinbar schicksalhaft dahin. Mitte September redeten die Leute über nichts anderes mehr als über die Frage, ob die Dodgers sich oben halten würden. Manch einer fiel vor Hitze und Aufregung tot um. Die beiden Teams beendeten die Saison in absolutem Gleichstand. In aller Eile wurde eine Playoff-Serie von drei Spielen angesetzt, um denjenigen zu ermitteln, der gegen den Meister der American League in der World Series spielen sollte. Der Register, wie fast alle vom Geschehen weit entfernten Zeitungen, schickte keinen Reporter zu den kurzfristig angesetzten Playoff-Spielen, sondern verließ sich für seine Berichterstattung bis zum Beginn der World Series auf die Nachrichtendienste.

Die Playoffs bescherten der Nation zusätzliche drei Tage exquisiter Folter. Beide Mannschaften gewannen jeweils ein Spiel, also war das dritte entscheidend. Und die Dodgers schienen endlich ihre vorherige Form und Unbesiegbarkeit wiederzugewinnen. Beim letzten Inning führten sie komfortabel 4:1 und brauchten nur drei Outs, um zu gewinnen. Doch die Giants schlugen zurück, machten einen Punkt und stellten noch zwei Runner auf die Base, als Bobby Thomson aufs Homeplate trat (meine Leser in Schottland erfüllt es vielleicht mit Stolz, dass er in Glasgow geboren wurde). Und was Thomson in der dichter werdenden Dämmerung dieses Herbstnachmittags schaffte, wurde schon viele Male zum größten Moment in der Geschichte des Baseballs erkoren.

»Ralph Branca, dem Auswechselspieler der Dodgers, gelang gestern ein Wurf, der Geschichte machte«, schrieb einer, der dabei war. »Das heißt, Geschichte machte jemand anderer. Bobby Thomson, der ›Flying Scotsman‹, schlug Brancas zweiten Ball über die Begrenzung des linken Feldes und erzielte einen spielentscheidenden Homerun, der so folgenschwer, so spektakulär war, dass einen Augenblick verblüffte Stille herrschte. Doch als man begriff, was da für ein Wunder geschehen war, wackelten die weiten Ränge der Polo Grounds in ihren vierzig Jahre alten Grundfesten. Die Giants hatten den Siegeswimpel errungen und damit eine der unglaublichsten Aufholjagden beendet, die es je im Baseball gegeben hat.«

Verfasser dieser Sätze war mein Vater – der ganz plötzlich, vollkommen überraschend bei Thomsons größtem Moment anwesend war. Weiß der Himmel, wie er die für ihre Knauserigkeit berüchtigten Chefs des Register dazu überredet hatte, ihn die 1132 Meilen von Des Moines nach New York zu dem alles entscheidenden Spiel zu schicken – ein Akt spontaner Spendabilität, so gar nicht in Einklang mit der sparsamen Spesenpolitik, die sie jahrzehntelang betrieben hatten –, oder wie es ihm gelungen war, so spät noch die Akkreditierung und einen Platz auf der Pressetribüne zu ergattern.

Aber er musste einfach dabei sein. Es war vom Schicksal bestimmt. Und wenn ich auch nicht behaupte, dass Bobby Thomson den Homerun erzielt hat, weil mein Vater da war, oder dass er ihn nicht erzielt hätte, wenn mein Vater nicht da gewesen wäre, so muss man eines einfach festhalten: Mein Vater war da, und Bobby Thomson war da, und der Homerun wurde erzielt, und alles fügte sich damals auf das Trefflichste.

Mein Vater blieb für die World Series da, in denen die Yankees die Giants in sechs Spielen relativ mühelos schlugen – wahrscheinlich konnte die Welt in einem Herbst nur ein gewisses Maß an Aufregung verkraften –, und kehrte dann zu seinem normalerweise ruhigen Leben in Des Moines zurück. Nur einen Monat später, an einem kalten, verschneiten Tag Anfang Dezember ging seine Frau ins Mercy Hospital und brachte ohne viel Aufhebens einen kleinen Jungen zur Welt, ihr drittes Kind, den zweiten Sohn, den ersten Superhelden. Sie nannten ihn William, nach seinem Vater, und riefen ihn Billy, bis er alt genug war, es sich zu verbitten.


Außer dem großartigsten Homerun in der Geschichte des Baseballs und der Geburt des Thunderbolt Kid ereignete sich im Jahre 1951 nichts Weltbewegendes in den Vereinigten Staaten. Harry Truman war Präsident, sollte aber bald Dwight D. Eisenhower Platz machen. Der Krieg in Korea war voll im Gange und lief nicht gut. Julius und Ethel Rosenberg waren unrühmlicherweise gerade wegen Spionage für die Sowjetunion verurteilt worden, saßen aber noch zwei Jahre im Gefängnis, bevor sie auf den elektrischen Stuhl kamen. In Topeka, Kansas, strengte Oliver Brown einen Prozess gegen die städtische Schulbehörde an, weil die von seiner Tochter verlangte, 21 Straßen weit zu einer Schule nur für Schwarze zu fahren, obwohl die nächste, nur für Weiße, lediglich sieben Straßen weiter lag. Der Fall, als »Brown gegen die Schulbehörde« unsterblich geworden, sollte einer der folgenreichsten in der modernen US-amerikanischen Geschichte, aber außerhalb Juristenkreisen erst drei Jahre später bekannt werden, als er vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt wurde.

1951 besaßen die Vereinigten Staaten von Amerika eine Einwohnerzahl von 150 Millionen, ein wenig mehr als halb so viel wie heute und nur etwa ein Viertel der Autos. Männer trugen fast überall, wo sie hingingen, Hüte und Schlipse. Frauen bereiteten jede Mahlzeit mehr oder weniger selbst zu. Die Milch kam in Flaschen. Der Briefträger zu Fuß. Die gesamten Staatsausgaben beliefen sich auf 50 Milliarden Dollar pro Jahr, heute sind es 2500 Milliarden.

Im Fernsehen gab es die erste Folge von Typisch Lucy am 15. Oktober; Roy Rogers, der singende Cowboy, trat im Dezember zum ersten Mal auf. Im Herbst nahm die Polizei in Oak Ridge, Tennessee, einen Jugendlichen unter dem Verdacht des Drogenbesitzes fest, weil er ein merkwürdiges braunes Pulver bei sich trug. Er wurde freigelassen, als sich herausstellte, dass es ein neues Produkt war, das Pulverkaffee hieß. Auch neu oder noch nicht ganz erfunden waren Kugelschreiber, Fastfood, Fertiggerichte (vorzugsweise vor dem Fernseher zu verzehren), elektrische Dosenöffner, überdachte Einkaufszentren, Freeways, Supermärkte, vorstädtische Zersiedelung, Klimaanlagen in Privathäusern, Servolenkung, Automatikgetriebe, Kontaktlinsen, Kreditkarten, Tonbandgeräte, Müllschlucker, Geschirrspüler, Langspielplatten, tragbare Plattenspieler, Major-League-Baseballteams westlich von St. Louis und die Wasserstoffbombe. Mikrowellenherde gab es schon; sie wogen aber über 300 Kilo, und bis es Flugreisen in Düsenflugzeugen, Klettverschlüsse, Transistorradios und Computer gab, die kleiner als ein kleines Haus waren, sollten noch ein paar Jahre ins Land gehen.

Was den Leuten ständig im Kopf herumspukte, war der Atomkrieg. Am Mittwoch, dem 5. Dezember, waren die Straßen in New York sieben Minuten lang gespenstisch leer, denn da führte die Stadt, wie die Illustrierte Life berichtete, »die größte Luftschutzübung des Atomzeitalters« durch. Tausende Sirenen heulten, und die Leute hasteten (na ja, eigentlich schlenderten sie gutgelaunt daher und blieben auf Anfrage sogar stehen, um für Fotos zu posieren) in ausgewiesene Luftschutzräume, mit anderen Worten: ins Innere jedes einigermaßen massiven Gebäudes. Auf Life – Fotos sah man auch, wie Sankt Nikolaus fröhlich eine Kinderschar aus Macy’s hinausgeleitete, halb eingeseifte Männer und ihre Barbiere im Gänsemarsch aus den Friseursalons marschierten, kurvenreiche Mannequins von einem Bademoden-Fotoshooting zitternd und gutmütig Bestürzung heuchelnd aus Studios auftauchten, wohlwissend, dass ein Bild in der Life ihrer Karriere keineswegs schaden würde. Nur Restaurantgäste brauchten nicht an der Übung teilzunehmen, denn New Yorker, die ohne einen Dollar zu bezahlen aus einem Restaurant geschickt wurden, sah man dort wahrscheinlich nie wieder.

Bei uns zu Hause verhaftete die Polizei bei der größten Razzia, die je in Des Moines stattgefunden hatte, im alten Cargill Hotel an der Ecke Seventh/Grand im Stadtzentrum neun Frauen wegen Prostitution. Eine wahrhaft großangelegte Operation! Achtzig Beamte stürmten kurz nach Mitternacht das Gebäude, doch die Damen mit Wohnsitz im Hotel waren nirgendwo zu finden. Erst nach sechs Stunden Suche und anstrengenden Messungen entdeckten die Polizisten eine Höhlung hinter einer Wand in einem oberen Stockwerk. Dort fanden sie neun meist nackte Frauen mit viel Gänsehaut. Alle wurden wegen Prostitution festgenommen und zu einer Geldstrafe von 1000 Dollar verurteilt. Ich frage mich allerdings, ob die Beamten genauso gewissenhaft gesucht hätten, wenn sie nackten Männern auf der Spur gewesen wären.

Der 8. Dezember 1951 war der zehnte Jahrestag des Eintritts der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg und ein Tag nach dem zehnten Jahrestag des japanischen Angriffs auf Pearl Harbour. In der Mitte Iowas herrschten leichter Schneefall und vergleichsweise milde Temperaturen von — 2 °C, doch von Westen her näherten sich die dicken Wolken eines Blizzards. Des Moines, eine Stadt mit 200 000 Einwohnern, bekam an dem Tag zehn neue Bürger – sieben Jungen und drei Mädchen –, zwei Einwohner starben.

Weihnachten lag in der Luft, und der Wohlstand zeigte sich nun auch überall in der Weihnachtsreklame. Zigarettenstangen mit Stechpalmenzweiglein und sonstiger weihnachtlicher Deko waren sehr beliebt, ebenso Elektrowaren aller Art. Technischer Firlefanz war sehr in Mode. Mein Vater kaufte meiner Mutter einen von Hand zu bedienenden Eiszerstoßer, mit dem man Eis für Cocktails bereiten konnte; er verwandelte einwandfreie Eiswürfel nach zwanzig Minuten beherzten Kurbelns in eine kleine Menge kühlen Wassers. Nach Silvester 1951 wurde er nie wieder benutzt, doch bis weit in die siebziger Jahre zierte er eine Ecke der Arbeitsplatte in der Küche.

Verborgen in den freundlichen Anzeigen und fröhlichen Artikeln waren allerdings tiefsitzende Ängste. Im Herbst hatte Reader’s Digest nämlich gefragt: »Wem gehört der Kopf Ihres Kindes?« (Offenbar Lehrern mit Sympathien für die Kommunisten.) Kinderlähmung war so verbreitet, dass selbst die Zeitschrift House Beautiful in einem Artikel beschrieb, wie man die Risiken für seine Kinder klein halten konnte. Ihre (durch die Bank nutzlosen) Ratschläge lauteten dahingehend, dass man kein Essen offen herumstehen lassen, nicht in kaltem Wasser oder nasser Badekleidung sitzen, viel ausruhen und vor allem, mit aller gebotenen Vorsicht »neue Menschen in den Kreis der Familie aufnehmen« sollte.


Was das Ökonomische betraf, schlug Harper’s im Dezember mit einem Artikel von Nancy B. Mavity einen düsteren Ton an. Es ging um ein beunruhigendes neues Phänomen, die Familie mit zwei Einkommen, in der beide, Mann und Frau, arbeiten gingen, um einen anspruchsvolleren Lebensstil finanzieren zu können. Mavitys Sorge galt nicht der Frage, wie Frauen mit den Anforderungen der Berufstätigkeit zusätzlich zu Kindererziehung und Hausarbeit fertig wurden, sondern was das alles für die traditionelle Rolle des Mannes als Ernährer bedeutete. »Ich würde mich schämen, meine Frau arbeiten zu lassen«, erzählte ein Mann Mavity pikiert und dem Tonfall ihres Artikels war zu entnehmen, dass sie davon ausging, dass ihr die meisten Leser zustimmen würden. Bis zum Krieg, sollte man an dieser Stelle vielleicht bemerken, konnten viele Frauen in den Vereinigten Staaten – ob sie wollten oder nicht – gar nicht arbeiten gehen. Bis Pearl Harbor hatte die Hälfte der 48 Staaten Gesetze, nach denen es verboten war, eine verheiratete Frau zu beschäftigen.

In dieser Hinsicht war mein Vater jedoch vorbildlich – ja, mit Begeisterung – liberal, denn dass meine Mutter Geld verdiente, war ganz in seinem Sinne, ja ließ ihm das Herz im Leibe hüpfen. Auch sie arbeitete beim Des Moines Register, als Redakteurin in der Frau-und-Familien-Redaktion, und in dieser Eigenschaft redete sie zwei Generationen Hausfrauen beruhigend zu, die verzweifelt wissen wollten, ob die Zeit für Paisleymuster im Schlafzimmer gekommen sei, ob sie rechteckige oder runde Sofakissen nehmen sollten, ja, ob das Haus selbst modischen Standards entsprach. »Den Bungalow wird es immer geben«, versicherte meine Mutter ihren Leserinnen und Lesern, bevor sie verschwand, um mich zu kriegen, und in den westlichen Vororten schrie man vermutlich vor Erleichterung auf.

Weil meine Eltern beide berufstätig waren, ging es uns besser als den meisten Leuten unserer sozioökonomischen Herkunft (was hieß: den meisten Leuten überhaupt in den Fünfzigern in Des Moines). Wir, das heißt, meine Eltern, mein Bruder Michael, meine Schwester Mary Elizabeth (Betty) und ich, hatten ein größeres Haus auf einem größeren Grundstück als die meisten Kollegen meiner Eltern. Es war ein weißes Schindelhaus mit schwarzen Fensterläden und einer großen überdachten Veranda auf einem schattigen Hügel im besten Viertel der Stadt.

Meine Schwester und mein Bruder waren beträchtlich älter als ich – meine Schwester sechs Jahre, mein Bruder neun –, aus meiner Sicht also praktisch Erwachsene. Ja, sie waren so alt, dass sie den Großteil meiner Kindheit kaum noch zu Hause waren. In meinen ersten Lebensjahren teilte ich mir mit meinem Bruder ein Schlafzimmer. Wir verstanden uns gut. Mein Bruder war dauernd erkältet und hatte Allergien und besaß wenigstens 400 Stofftaschentücher, die er hingebungsvoll mit lautem Tröten vollschnaufte und dann in alle erreichbaren Lagerstätten schob – unter die Matratze, zwischen Sofakissen, hinter die Gardinen. Als ich neun war, ging er fort aufs College und lebte danach als Journalist in New York City, kam also nur noch zu Besuch zurück, und ich hatte das Zimmer für mich. Aber selbst als ich schon in der Highschool war, fand ich immer noch Taschentücher von ihm.

Nachteilig an der Tatsache, dass meine Mutter arbeiten ging, war einzig und allein, dass sie, was Haushaltsführung und besonders die abendliche Verköstigung betraf, ständig unter Druck stand. Ehrlich gesagt, war das Ganze ohnehin nicht ihre starke Seite. Meine Mutter kam immer zu spät und war obendrein noch sehr vergesslich. Man lernte früh, sich ab zehn vor sechs abends im Hintergrund zu halten, denn dann kam sie durch die Gartentür gerannt, warf etwas in den Ofen, verschwand dann in einem anderen Teil des Hauses und beschäftigte sich mit tausend anderen Dingen, die jeden Abend im Haushalt auf sie warteten. Dadurch vergaß sie natürlich fast immer das Abendessen, bis es einen Tick zu spät war. In der Regel wusste man, dass Essenszeit war, wenn man Kartoffeln im Ofen explodieren hörte.

Wir nannten die Küche in unserem Haus auch nicht Küche, sondern Brandopfer-Station.

»Es ist ein bisschen angebrannt«, sagte meine Mutter nämlich entschuldigend bei jedem Mahl und bot uns ein Stück Fleisch an, das wie etwas – vielleicht ein heißgeliebtes Haustier – aussah, das aus einem tragischen Hausbrand geborgen worden war. »Aber ich glaube, ich habe das meiste Verbrannte abgekratzt«, fügte sie immer hinzu und übersah dabei, dass das alles einschloss, was einmal Fleisch gewesen war.

Zum Glück war das meinem Vater gerade recht. Da sein Gaumen ohnehin nur auf zwei Geschmäcker reagierte – angebrannt und Eiskrem –, fand er alles wunderbar, solange es ausreichend dunkel und nicht zu verblüffend wohlschmeckend war. Die Ehe meiner Eltern war wirklich im Himmel geschlossen worden, denn niemand konnte Essen anbrennen lassen wie meine Mutter und niemand es verspeisen wie mein Vater.

Aus beruflichen Gründen musste meine Mutter stapelweise Schöner-Wohnen-Magazine kaufen. House Beautiful, House and Garden, Better Homes and Gardens, Good Housekeeping las ich also mit einer gewissen Gier, teils, weil sie immer herumlagen und in unserem Haus alle freien Momente mit Lesen verbracht wurden, teils, weil darin Lebensstile beschrieben wurden, die sich faszinierend von unserem unterschieden. Die Hausfrauen in den Zeitschriften meiner Mutter waren stets die Ruhe selbst, hervorragend organisiert, hatten die Dinge lässig im Griff, und ihr Essen war perfekt – ihr Leben war perfekt. Sie machten sich fein, um das Essen aus dem Ofen zu nehmen! An der Decke über ihren Herden waren keine schwarzen Kreise, über die Ränder ihrer vergessenen Töpfe kroch keine mutierende klebrige Masse. Sie mussten ihre Kinder nicht jedes Mal, wenn sie den Ofen öffneten, anweisen zurückzutreten. Und das Essen – Omelette surprise, Hummer Newburg, Hähnchen cacciatore – na, von solchen Gerichten träumten wir in Iowa nicht einmal, geschweige denn, begegneten wir ihnen.

Wie die meisten Menschen in Iowa in den 1950ern waren wir in unserem Haus eher vorsichtige Esser.1 Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen man uns Speisen vorsetzte, die uns nicht ganz geheuer oder vertraut waren – in Flugzeugen oder Zügen oder wenn wir zu einem Essen eingeladen waren, das jemand gekocht hatte, der nicht aus Iowa kam –, hoben wir das Angebotene mit dem Messer behutsam an und untersuchten es von allen Seiten, als gelte es herauszufinden, ob es nicht doch entschärft werden müsse. Als mein Vater einmal zu Besuch in San Francisco war, gingen Freunde mit ihm in ein Chinarestaurant, und er schilderte es uns später in den ernstesten Tönen wie jemand, der von einer Nahtoderfahrung berichtet.

»Und wisst ihr, sie essen mit Stäbchen«, fügte er sachkundig hinzu.

»Ach, du liebe Güte!«, sagte meine Mutter.

»Ich hätte lieber Gasbrand, als das noch einmal durchmachen zu müssen«, fügte mein Vater bitter hinzu.

In unserem Hause aßen wir nicht:

  • Pasta, Reis, Doppelrahmfrischkäse, saure Sahne, Knoblauch, Majonäse, Zwiebeln, Corned Beef, Pastrami, Salami, überhaupt ausländische Nahrungsmittel, egal, welche – außer armen Rittern, obwohl sie französischer Toast heißen;
  • Brot, das nicht weiß war und zumindest zu 65 Prozent aus Luft bestand;
  • Gewürze, außer Salz, Pfeffer und Ahornsirup;
  • Fisch, der eine andere als rechteckige Form besaß und nicht leuchtend orangerot paniert war (und wenn nicht Freitag war oder meine Mutter daran gedacht hatte, dass Freitag war, was selten geschah);
  • Suppen, die nicht den heiligen Namen Campbell’s trugen (und auch von denen viele nicht);
  • Dinge mit dubiosen regionalen Namen wie »pone« (das war Maisbrot) oder »gumbo« (Okra) oder etwas, das irgendwann einmal durchaus geschätztes Grundnahrungsmittel von Sklaven oder Bauern gewesen war.

Alle anderen Arten Essen – Currygerichte, Enchiladas, Tofu, Bagels, Sushi, Couscous, Jogurt, Grünkohl, Ruccula, Parmaschinken, jedwede Käsesorte, die nicht kräftig leuchtend gelb war und so glänzte, dass man sich darin spiegeln konnte – waren entweder noch nicht erfunden oder uns noch nicht bekannt. Wir waren wirklich Essenskulturbanausen. Ich weiß noch, wie überrascht ich war, als ich in schon fortgeschrittenem Alter erfuhr, dass ein Krabbencocktail nicht, wie ich immer gedacht hatte, ein vor dem Essen zu konsumierendes alkoholisches Getränk mit einer Krabbe darin war.

Unsere Mahlzeiten bestanden immer aus Resten. Meine Mutter besaß einen schier unerschöpflichen Vorrat an Nahrungsmitteln, die schon einmal, manchmal sogar mehrmals, auf dem Tisch gewesen waren. Außer ein paar wenigen leicht verderblichen Milchprodukten war alles im Kühlschrank älter als ich, bisweilen um viele Jahre. (Ihr allerältester Essensbesitz war, das versteht sich fast von selbst, ein Früchtebrot aus der Kolonialzeit, das in einer Blechdose aufbewahrt wurde.) Ich vermute allerdings, dass meine Mutter die gesamte Kocherei in den vierziger Jahren erledigte, damit sie sich den Rest ihres Lebens mit dem überraschen konnte, was sie gut verpackt in den hinteren Regionen des Kühlschranks fand. Ich habe nie erlebt, dass sie Essen weggeworfen hat. Als Daumenregel galt offenbar, dass alles, bei dem man nicht zusammenzuckte und mindestens einen Schritt zurücktaumelte, wenn man den Deckel hob, für den Verzehr geeignet war.

Meine beiden Eltern waren in der Weltwirtschaftskrise aufgewachsen und warfen nichts weg, wenn sie es nur irgend vermeiden konnten. Meine Mutter spülte auch stets die Pappteller, trocknete sie ab und strich benutzte Aluminiumfolie zur nochmaligen Verwendung glatt. Ließ man eine Erbse auf dem Teller, wurde die Bestandteil eines zukünftigen Mahls. Unser gesamter Vorrat an Zucker befand sich in kleinen Tütchen, die wir in tiefen Manteltaschen aus Restaurants schmuggelten, ebenso übrigens wie Marmelade, Kräcker (Oyster und Saltine), Remouladensoße, einiges von unserem Ketchup und unserer Butter, alle unsere Servietten und ganz gelegentlich einmal einen Aschenbecher; im Prinzip alles, was einen Restauranttisch zierte. Einer der glücklichsten Momente im Leben meiner Eltern war, als man auch Ahornsirup in kleinen Wegwerfpäckchen zu servieren begann und sie diese unseren Haushaltsvorräten hinzufügen konnten.

Unter dem Spülbecken bewahrte meine Mutter eine enorme Kollektion von Gläsern auf, einschließlich einem, das unter dem Namen Pieselglas lief. »Pieseln« nannten wir in unserem Haus Pipi machen, und während meiner gesamten ersten Lebensjahre wurde das Pieselglas immer dann in Dienst genommen, wenn die Notwendigkeit, das Haus zu verlassen, mit der Notwendigkeit kollidierte, dass jemand noch schnell mal musste – und wenn ich »jemand« sage, dann meine ich natürlich das jüngste Kind, mich.

»Ja, dann musst du aber ins Pieselglas machen«, sagte meine Mutter in diesen Fällen immer ein wenig gereizt und mit besorgtem Blick zur Küchenuhr. Es dauerte geraume Zeit, bis ich merkte, dass das Pieselglas nicht immer dasselbe Glas war. Insofern ich überhaupt darüber nachdachte, nahm ich wahrscheinlich an, dass das Pieselglas regelmäßig weggeworfen und durch ein frisches ersetzt wurde – schließlich hatten wir Hunderte von Gläsern.

Sie können sich also meine Bestürzung, gefolgt von verschiedenen Stadien puren Entsetzens, vorstellen, als ich eines Abends zum Kühlschrank ging, um mir noch eine Portion Pfirsichhälften zu holen, und sah, dass wir alle aus einem Glas aßen, in dem noch vor ein paar Tagen mein Urin gewesen war. Ich erkannte das Glas sofort, denn an ihm klebte ein Z-förmiges Etikett, das mich unheimlich an das Zeichen von Zorro erinnerte – wozu ich ja auch noch eine fröhliche Bemerkung gemacht hatte, als ich das Glas mit meinem kostbaren Körpersaft füllte. Nicht, dass jemand zugehört hatte – natürlich nicht. Doch da war es nun und enthielt unsere Nachtischpfirsiche. Ich hätte nicht überraschter sein können, wenn man mir gerade ein Paket mit Fotos gegeben hätte, auf dem meine Mutter in flagranti mit, sagen wir, den Jungs von der Tankstelle zu sehen gewesen wäre.

»Mom«, sagte ich, ging zur Esszimmertür und hielt meinen Fund hoch. »Das ist das Pieselglas.«

»Nein, mein Schatz«, erwiderte sie, ohne zu zögern oder aufzuschauen. »Das Pieselglas ist ein ganz bestimmtes Glas.«

»Was ist das Pieselglas?«, fragte mein Vater belustigt und löffelte sich einen Pfirsich in den Mund.

»Es ist das Glas, in das ich piesele«, erklärte ich. »Und zwar das hier.«

»Billy pieselt in ein Glas?«, fragte mein Vater schon mit einer gewissen Mühe, da er die Pfirsichhälfte, die er sich gerade in den Mund gesteckt hatte, bis zum Erhalt weiterer Informationen betreffs ihres jüngsten Aufenthaltsorts nicht zerkaute und hinunterschluckte, sondern auf der Zunge liegen ließ.

»Nur ganz selten mal«, sagte meine Mutter.

Mein Vater war nun komplett verwirrt, doch sein Mund war so voll mit Pfirsich, dass er sich gar nicht verständlich hätte ausdrücken können. Ich glaube, er fragte, warum ich nicht einfach nach oben zur Toilette ging wie ein normaler Mensch. Unter den Umständen eine berechtigte Frage.

»Manchmal haben wir es sehr eilig«, fuhr meine Mutter fort, aber eine Spur unsicher. »Deshalb bewahre ich immer ein Glas unter dem Spülbecken auf – ein bestimmtes Glas.«

Ich allerdings kam schon mit weiteren Gläsern im Arm vom Kühlschrank zurück – so vielen, wie ich tragen konnte. »Die hier habe ich ganz bestimmt auch alle mal benutzt«, verkündete ich.

»Das kann nicht sein«, sagte meine Mutter, doch am Ende des Satzes hing ein Fragezeichen. Dann fügte sie, ein wenig selbstzerstörerisch vielleicht, hinzu: »Aber auch egal, ich spüle alle Gläser sowieso immer aus, bevor ich sie noch einmal benutze.«

Mein Vater erhob sich, ging in die Küche, bückte sich über den Mülleimer und ließ die Pfirsichhälfte mit ungefähr einem halben Liter Glibber hineinfallen. »Vielleicht ist ein Pieselglas doch keine so gute Einrichtung«, meinte er.


Damit war es also aus mit dem Pieselglas, obwohl noch etwas Gutes dabei herauskam, wie oft bei solchen Sachen. Meine Mutter brauchte nämlich von da an nur zu erwähnen, sie habe etwas Leckeres in einem Glas im Kühlschrank, da verspürte mein Vater schon das dringende Bedürfnis, mit uns zu Bishop’s zu gehen, einer Cafeteria in der Stadtmitte, und etwas Schöneres hätte gar nicht passieren können, denn Bishop’s war das feinste Restaurant, das es je gegeben hat.

Alles daran war himmlisch – das Essen, die dezente Einrichtung, die mütterlichen Kellnerinnen in ihren grauen Uniformen, die einem das Tablett zum Tisch trugen und freudig eine neue Gabel holten, wenn einem der Anblick derjenigen, die dabeilag, nicht gefiel. Jeder Tisch hatte eine kleine Lampe, die man anknipsen konnte, wenn man etwas brauchte; man musste sich also nie den Hals verrenken und vorbeigehende Kellnerinnen anhalten. Man entzündete einfach nur sein privates kleines Fanal, und einen Moment später kam eine Kellnerin und fragte, womit sie einem dienen könne. Ist das nicht wundervoll?

In den stillen Örtchen bei Bishop’s gab es die einzigen atombetriebenen Toiletten der Welt – jedenfalls die einzigen, die ich je gesehen habe. Wenn man die Spülung betätigte, hob sich der Sitz automatisch, schob sich in eine wie ein Sitz geformte Höhlung in der Wand und wurde dort in violettes Licht getaucht, das auf eine warme, hygienische, wissenschaftlich fortgeschrittene Art brummte. Tadellos keimfrei gemacht, hübsch angewärmt und vor atomarer Thermoluminiszenz geradezu pulsierend, kam der Sitz wieder herunter. Weiß der Himmel, wie viele Menschen in Iowa während der fünfziger und sechziger Jahre an unerklärlichem Gesäßkrebs starben, doch es war jede verschmurgelte Pobacke wert. Wir führten Besucher von außerhalb der Stadt in die Toilettenräume bei Bishop’s, um ihnen die atombetriebenen Klos zu zeigen, und alle waren der Meinung, bessere hätten sie nie gesehen.

Doch damals waren die meisten Dinge in Des Moines einfach unschlagbar. Im Toddle House hatten wir die zartesten, wohlmundendsten Banana Cream Pies und das Gleiche, habe ich gehört, konnte man auch von dem Käsekuchen bei Johnny and Kay’s sagen. Aber meinem Vater war viel zu wenig an Qualität gelegen, und er war viel zu vorsichtig mit seinem Geld, als dass er je mit uns in diese Hochburg gepflegten Speisens auf dem Fleur Drive gefahren wäre. Wir hatten die köstlichsten, leuchtend neonfarbenen Eiskrems bei Reed’s, einer Eisdiele von kühler Opulenz in der Nähe des Ashworth Swimming Pools (auch der das schönste, eleganteste öffentliche Schwimmbad der Welt, mit den schlanksten, braungebranntesten Bademeisterinnen) im Greenwood Park (mit den besten Tennisplätzen, dem schmucksten See und den gepflegtesten Fahrwegen). Vom Ashworth Swimming Pool, hübsch nach Chlor duftend, unter einem lebendigen grünen Blätterdach durch den Greenwood Park zu fahren und zu wissen, dass man sich gleich bei Reed’s drei schlürfige Eiskugeln auf der Zunge zergehen lassen würde, ist der Gipfel menschlichen Wohlbehagens.

Wir hatten die leckersten Backwaren in Barbara’s Bake Shoppe, die fleischigsten Rippchen, mit denen man sich am besten das Gesicht beschmieren konnte, und die knusprigsten Brathähnchen in einem Restaurant namens Country Gentleman sowie das beste Junkfood in einem Drive-in-Imbiss namens George the Chilli King. (Und danach die besten Fürze; einen Chilli-Burger von George hatte man in Minuten gefuttert, doch mit dem Furzen, hieß es, hörte man danach nie mehr auf.) Wir hatten unsere Kaufhäuser, Restaurants, Kleidergeschäfte, Supermärkte, Drugstores, Blumenläden, Eisenwarenhandlungen, Kinos, Hamburger-Buden, alles was das Herz begehrte – und alles war unschlagbar gut.

Hm, na ja, woran konnte man das eigentlich erkennen? Um sich Gewissheit zu verschaffen, hätte man Tausende anderer Klein- und Großstädte landauf, landab besuchen und überall das Eis und die Schokoladentorte und so weiter kosten müssen, denn damals waren alle Städte verschieden. Es lebte sich herrlich in einer noch weitgehend von weltumspannenden Ladenketten freien Welt. Jede Gemeinde war etwas Besonderes, und nirgendwo war es wie irgendwo anders. Wenn die Läden in Des Moines also nicht die besten waren, so waren sie zumindest unsere. Zuallermindest hatten sie immer irgendwas, das sie interessant und anders machte. (Und sie waren unschlagbar gut!)

Dahl’s, der Supermarkt in unserem Viertel, hatte zum Beispiel eine hochintelligente, geniale Einrichtung namens Kiddie Corral. Es war ein kuscheliger, im Stil eines Cowboy-Korrals gebauter, eingezäunter Bereich voll mit Comics, in dem die Mütter ihre Kinder parken konnten, während sie einkauften. In den fünfziger Jahren wurden in den Vereinigten Staaten massenhaft Comics produziert – allein 1953 eine Milliarde –, und die meisten landeten irgendwann im Kiddie Corral. Der war voll davon. Wenn man hineinwollte, kletterte man auf die oberste Geländerstange, hechtete hinein und schwamm in die Mitte. Wie lange die Mutter einkaufte, war einem vollkommen egal, denn man hatte einen unerschöpflichen Vorrat an Comics und langweilte sich nicht. Ich glaube, es gab Kinder, die wohnten im Kiddie Corral. Suchte man die letzte Ausgabe von Rubber Man, fand man manchmal ein Kind, das fast einen halben Meter tief unter den Comics begraben lag und entweder schlief oder nur den köstlichen Papiergeruch genoss. Kein Geschäft hat je etwas so Sinnvolles für Kinder getan. Wer sich den Kiddie Corral ausgedacht hat, ist jetzt fraglos im Himmel, doch er hätte vorher den Nobelpreis bekommen müssen.

Dahl’s hatte noch etwas Vielbewundertes. Wenn die Einkäufe in Tüten (in Iowa in »Säcke«) gepackt und bezahlt waren, trug man sie nicht etwa zu seinem Auto wie in profaneren Supermärkten, sondern übergab sie einem freundlichen Mann mit einer weißen Schürze, der einem eine Plastikkarte mit einer Nummer aushändigte und die Einkäufe auf ein schräg nach unten verlaufendes Fließband legte, das sie durch eine Lasche in einen mysteriösen dunklen Tunnel und weiter ins Erdinnere beförderte. In der Zwischenzeit holte man sein Auto und fuhr zu einem kleinen Backsteingebäude am Rand des Parkplatzes, etwa dreißig Meter entfernt, wo die Einkäufe, hübsch durchgeschüttelt und von ihrem unterirdischen Abenteuer durchaus erfrischt, ein, zwei Minuten später wieder auftauchten und von einem anderen hilfreichen Mann mit weißer Schürze, der einem die Plastikkarte abnahm und einen schönen Tag wünschte, ins Auto gestellt wurden. Das System war, ehrlich gesagt, nicht sonderlich effizient – oft bildete sich eine Autoschlange vor dem kleinen Backsteingebäude, und die ruckelige Fahrt durch den Tunnel war auch eigentlich zu nichts anderem gut, als dass alle kohlensäurehaltigen Getränke wenigstens die nächsten zwei Stunden gefährlich übererregt waren –, aber alle liebten es und fanden es trotzdem toll.

So war es damals allenthalben, wo man in Des Moines hinging. Jedes Unternehmen hatte etwas Besonderes, womit es sich empfahl. Im Kaufhaus New Utica in der Innenstadt ragten aus allen Kassen pneumatische Röhren. Das Bargeld, das man zu entrichten hatte, wurde in ein zylindrisches Gefäß gesteckt, das in die Röhren gelegt und – wie ein Torpedo – geräuschvoll zu einer zentralen Sammelstelle katapultiert wurde. So eilig hatte man es, das Geld zu zählen und wieder in den Wirtschaftskreislauf einzufüttern. Ein Besuch im New Utica war wie ein Trip in ein zukünftiges Jahrhundert.

Bei Frankel’s, einem Herrenbekleidungsgeschäft auf der Locust Street im Stadtzentrum, gab es einen hochherrschaftlichen Treppenaufgang, der zu einem Zwischengeschoss führte. Ein Spaziergang durch dieses Zwischengeschoss war ein eigenartig befriedigendes Unterfangen. Es war, als flaniere man über das Deck eines Schiffes, aber insofern interessanter, als man statt leerem Wasser die wuselige Welt des Männereinzelhandels betrachten, Gespräche belauschen und den Leuten auf die Köpfe schauen konnte. Ohne irgendein Risiko genoss man alle Freuden des Spionierens. Da focht es einen nicht an, wenn der Vater ewig brauchte, um sich ein Jackett anpassen zu lassen oder den Verkaufskräften eifrig isometrische Muskelübungen zeigte.

»Kein Problem«, rief man großzügig von seiner erhabenen Position hinab. »Ich dreh noch eine Runde.«

In puncto gehobener Unterhaltung sogar noch besser war das Shops Building in der Walnut Street. In dem hübschen, etwa sieben, acht Etagen hohen, alten, in maurisch angehauchtem Stil erbauten Bürogebäude gab es im Foyer im Erdgeschoss ein beliebtes Café mit einem zentralen Innenhof, der sich bis weit oben zu einer entfernten Decke erhob und um den der Treppenaufgang und die gallerieartigen Korridore des Gebäudes verliefen. Jeder kleine Junge träumte davon, über diesen Treppenaufgang ins oberste Stockwerk zu gelangen.

Doch schon um ihn zu erreichen, bedurfte es eines geschickten, gut getimten Sprints, denn man musste an der Caféchefin vorbei, einer bösartigen, scharfäugigen Tucke mit Namen Mrs. Musgrove, die kleine Jungs hasste (mit gutem Grund, wie wir sehen werden). Wenn man allerdings den rechten Moment abpasste und sie abgelenkt war, konnte man zur Treppe und dann hinauf zu den dunklen unheimlichen Höhen des obersten Stockwerks flitzen, wo man auf die Speisegäste weit unten einen Blick wie durch einen Kanonenlauf hatte. Wenn man darüber hinaus noch irgendein hartes Bonbon bei sich trug – Erdnuss-M&Ms waren wegen ihrer glatten, aerodynamisch günstigen Form besonders beliebt –, konnte man es sieben, acht Stockwerke hinunterfallen lassen. Und eins kann ich Ihnen sagen, ein Erdnuss-M&M, das fast dreißig Meter tief in einen Teller Tomatensuppe fällt, verursacht einen gigantischen Spritzer.

Man hatte nie mehr als einen Versuch, denn auch eine Bombe, die ihr Ziel verfehlte, auf dem Tisch aufprallte – was beinahe immer der Fall war – und zur wunderbaren Verblüffung der am Tisch Sitzenden spektakulär in Tausende zuckerglasierte Scherben zerbarst, rief Mrs. Musgrove zu den Waffen. Sie flog die Treppe nicht minder schnell hinauf, als das M&M hinuntergeflogen war, und ließ uns weniger als fünf Sekunden, aus einem Fenster auf die Feuerleiter zu klettern – und von da in die Freiheit.

Des Moines’ großartigstes Handelsunternehmen war Younker Brothers, das größte Kaufhaus im Stadtzentrum. Younkers war riesig. Es befand sich in zwei Gebäuden, die im Erdgeschoss durch einen öffentlichen Durchgang getrennt waren, und war damit das einzige Kaufhaus, das ich kenne, möglicherweise das einzige, das es je gab, in dem man überfahren werden konnte, wenn man von der Herrenbekleidung zur Kosmetikabteilung ging. Zusätzlich hatte es einen Außenposten auf der anderen Straßenseite, der Store for Homes hieß und in dem sich die Möbelabteilung befand, die man durch einen unterirdischen Gang unter der Eighth Street über die Bettwäscheabteilung erreichte. Ich habe keine Ahnung, warum, aber es war unendlich befriedigend, von der Ostseite der Eighth zu Younkers hineinzugehen und eine kurze Weile später auf der Westseite wieder aufzutauchen – und die Einkäufe hatte man auch erledigt. Es kamen Leute selbst aus anderen Bundesstaaten angereist, nur um durch diesen Gang zu gehen, auf der anderen Straßenseite wieder herauszukommen und zu sagen: »Alle Wetter! Das is’n Ding!«

Younkers war der eleganteste, allermodernste, bestorganisierte, großstädtischste Ort in Iowa. Wunderbar. 1200 Menschen waren dort angestellt. Es gab die ersten Rolltreppen im Bundesstaat – in den Anfangsjahren hießen sie noch »elektrische Treppen« – und die erste Klimaanlage. Alles an Younkers – seine seidenweich flott rotierenden Drehtüren, seine gleitenden Treppen, seine leise surrenden Aufzüge, jeder mit einem Aufzugführer mit weißen Handschuhen – schien erdacht, einen hineinzulocken, auf dass man glücklich und zufrieden bis an sein Lebensende konsumierte. Younkers war so groß und herrlich weitläufig, dass man selten jemanden traf, der es ganz kannte. Die Buchabteilung befand sich auf einer dämmrigen, im Verborgenen liegenden Galerie, zu der man über eine winzige Treppe gelangte. Sie war so gemütlich, dass man sich wie in einem Club fühlte, und nur Liebhabern bekannt. Es war eine Buchhandlung der Sonderklasse, doch es gab Menschen, die in den Fünfzigern in Des Moines aufwuchsen und nie erfuhren, dass Younkers überhaupt eine besaß.

Das Allerheiligste indes war der Tea Room; dort gingen liebende Mütter mit ihren Töchtern hin, um ihrer Einkauferei einen Hauch Eleganz zu verleihen. Mich interessierte der Tea Room nicht im Geringsten, doch dann erzählte meine Schwester einmal beiläufig von einem Ritual dort. Offenbar durften junge Besucher in eine Holzkiste mit kleinen, sämtlich wunderschön in weißes Seidenpapier gewickelten und mit einem Geschenkband versehenen Geschenken langen und sich zum ewigen Andenken an die feierliche Gelegenheit eines aussuchen. Einmal gab mir meine Schwester sogar ein Präsent, das sie bekommen hatte, aus dem sie sich aber nichts machte – eine Pferdekutsche aus Spritzguss. Sie war kaum länger als sechs Zentimeter, aber bis ins kleinste Detail hervorragend ausgeführt. Man konnte die Türen aufmachen, die Räder drehten sich und ein winziger Kutscher hatte dünne Metallzügel in der Hand. Das ganze Ding war offensichtlich von einem emsigen, unterbezahlten Menschen von der besiegten Seite des Pazifischen Ozeans mit der Hand bemalt worden. Etwas so Feines hatte ich noch nie gesehen, geschweige denn, besessen.

Noch Jahre danach flehte ich meine Mutter und meine Schwester immer wieder an, mich mitzunehmen, wenn sie in den Tea Room gingen, aber sie behaupteten immer vage, sie gingen nicht mehr so gern in den Tea Room oder müssten so viel einkaufen, dass sie keine Mittagspause einlegen könnten. (Erst Jahre später entdeckte ich, dass sie natürlich jede Woche hingingen; es gehörte zu den geheimen Frauensachen, die Mütter und Töchter miteinander verband – wie die Periode haben oder BHs anprobieren.) Endlich aber kam ein Tag – ich war vielleicht acht oder neun –, an dem meine Schwester nicht da war und meine Mutter mich mit zum Einkaufen in die Stadt nahm. »Sollen wir in den Tea Room gehen?«, fragte sie mich.

Derart begeistert habe ich wahrscheinlich noch nie eine Einladung angenommen. Wir fuhren mit dem Lift zu einem Stockwerk hinunter, von dem ich nicht einmal wusste, dass es das bei Younkers gab. Der Tea Room war der eleganteste Ort, den ich je gesehen hatte – als sei ein Staatsgemach aus dem Buckingham-Palast auf wundersame Weise in den Mittleren Westen der Vereinigten Staaten verlegt worden. Alles war steifleinern und stilvoll und ruhig. Man hörte gedämpft gehobene Unterhaltungsmusik sowie leises Klirren von Besteck auf Porzellan und behutsam ausgeschenktem Eiswasser. Das Essen war mir natürlich vollkommen egal. Ich wartete nur auf den Moment, in dem ich zu der Spielzeugkiste gehen und mir was aussuchen durfte.

Als es dann so weit war, konnte ich mich ewig lange nicht entscheiden. Jedes kleine weiße Päckchen sah so perfekt und verheißungsvoll aus. Schließlich ergriff ich ein mittelgroßes, mittelschweres und wagte es ganz leicht zu schütteln. Etwas darin rasselte und klang, als könnte es wieder eine Figur aus Eisenguss sein. Ich nahm es mit zu meinem Platz und wickelte es sorgsam aus. Es war eine winzige Puppe – ein Indianerbaby in einem Tragegestell, wunderschön gearbeitet, aber offensichtlich für ein Mädchen. Mit dem Püppchen und dem ramponierten Einwickelpapier ging ich zu dem leicht zurückgeblieben wirkenden Burschen, der die Spielzeugkiste unter seiner Obhut hatte.

»Anscheinend habe ich eine Puppe gekriegt«, sagte ich mit beinahe ironischem Kichern.

Er schaute sie genau an. »Das is aber ’ne Schande, weil du nämlich nur einmal an die Geschenkekiste darfst.«

»Ja, aber es ist eine Puppe«, sagte ich. »Für ein Mädchen.«

»Dann musst du dir eine kleine Freundin anschaffen und sie ihr schenken. Na, wie wär’s?«, erwiderte er und schenkte mir seinerseits ein breites Grinsen und ein unseliges Augenzwinkern.

Es waren leider die letzten Worte, die der arme Mann sprach. Einen Moment später war er nur noch ein kleiner erstickter Schrei und ein schwelender Fleck auf dem Teppich.

Er hatte eine wichtige Lektion zu spät gelernt. Man sollte sich nie mit dem Thunderbolt Kid anlegen.

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
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