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Eine Stunde später sind wir wieder unterwegs. Katarina umklammert krampfhaft das Lenkrad unseres Wagens, während sie über die Wahl unseres bisherigen Verstecks flucht. Die Straßen in dieser Gegend sind so uneben und staubig, dass man höchstens sechzig Stundenkilometer fahren kann, und wir beide wünschen uns eher eine Geschwindigkeit, die auf einem Highway möglich wäre. Hauptsache, wir können uns so schnell und so weit wie möglich von unserem nun verlassenen Häuschen entfernen. Katarina hat alles Mögliche getan, um unsere Spuren zu verwischen. Aber wenn es tatsächlich stimmt, was wir uns gerade ausgemalt haben – dass die Mogadori Nummer Zwei nur wenige Sekunden, nachdem der fatale Blog-Eintrag erschien, getötet haben –, dann haben sie überaus schnell reagiert. Und während ich die Felder und Hügel im Beifahrerfenster vorbeifliegen sehe, wird mir klar, dass sie bereits bei unserem Häuschen sein könnten. Eigentlich könnten sie sogar schon in diesem Moment auf der Straße hinter uns her sein. Ich komme mir vor wie ein Feigling, als ich mich umdrehe und zum Heckfenster hinaus durch den aufgewirbelten Staub spähe, den unser Wagen hinterlässt.

Kein Auto, das uns verfolgt.

Zumindest noch nicht.

Wir haben nur wenig Gepäck mitgenommen. Der Wagen war bereits mit einem Erste-Hilfe-Kasten, leichter Campingausrüstung, Wasserflaschen, Taschenlampen und Wolldecken ausgerüstet. Nachdem ich mich wieder bewegen konnte, musste ich nur noch ein paar Klamotten für unterwegs zusammenpacken und meinen Kasten aus dem Versteck unter der Hütte holen.

|18|Die panische Flucht hat mir nicht erlaubt, über den stechenden Schmerz meiner zweiten Narbe nachzudenken. Doch jetzt kehrt er zurück, intensiv und unnachgiebig.

»Wir hätten nicht antworten dürfen«, sagt Katarina. »Was haben wir uns bloß dabei gedacht?«

Ich suche in Katarinas Gesicht nach Zeichen einer Schuldzuweisung. Schließlich war ich diejenige, die darauf bestanden hat zu antworten. Ich bin erleichtert, keine zu finden. Ich sehe nur ihre Angst und ihre Entschlossenheit, uns so weit wie möglich von hier wegzubringen.

Plötzlich wird mir klar, dass ich angesichts der Hetze und Aufregung gar nicht darauf geachtet habe, ob wir von Puerto Blanco aus nach Norden oder nach Süden gefahren sind.

»USA?«, frage ich.

Katarina nickt, zieht die passenden Reisepässe aus der Tasche ihrer Militärjacke und wirft mir meinen in den Schoß.

Ich klappe ihn auf und schaue mir meinen neuen Namen an. »Maren Elizabeth«, sage ich laut. Katarina verwendet viel Zeit auf ihre Fälschungen, aber normalerweise beschwere ich mich immer über die Namen, die sie für mich auswählt.

Als ich acht Jahre alt war und wir nach Neuschottland zogen, habe ich darum gebettelt, den Namen Starla zu bekommen. Katarina legte ihr Veto gegen meinen Vorschlag ein. Sie fand, der Name sei zu aufsehenerregend, zu exotisch.

Ich muss fast lachen, wenn ich jetzt daran zurückdenke. ›Katarina‹ ist in Mexiko schließlich an Exotik kaum zu übertreffen. Und natürlich behält sie ihn. Sie hat sich an ihren Namen gewöhnt. Manchmal glaube ich, dass sich Cêpan gar nicht so sehr von normalen Eltern unterscheiden.

Maren Elizabeth … das ist zwar nicht Starla, aber es gefällt mir.

Ich greife nach unten und umfasse meine Wade, genau oberhalb der pulsierenden Narbe an meinem Knöchel. Wenn ich die Wade zusammendrücke, kann ich den Schmerz des verbrannten Fleisches ein wenig dämpfen.

|19|Als der Schmerz nachlässt, kommt die Angst zurück. Die Angst angesichts unserer derzeitigen Situation, das Grauen über den Tod von Nummer Zwei.

Ich löse meine Finger von der Wade und überlasse mich dem Schmerz.

 

Katarina hält nur für Pinkelpausen oder zum Tanken an. Es ist eine lange Reise, aber wir wissen uns die Zeit zu vertreiben. Die meiste Zeit spielen wir Schatten, ein Spiel, das Katarina auf einer unserer früheren Reisen erfunden hat. Ein Spiel, das es uns erlaubt, selbst dann zu trainieren, wenn wir keine körperlichen Übungen machen können.

»Ein mogadorischer Scout kommt von zwei Uhr auf dich zugestürzt. Er hält eine fünfzig Zentimeter lange Klinge in der linken Hand. Jetzt holt er damit aus.«

»Ich ducke mich«, sage ich. »Weiche nach links aus.«

»Er wirbelt herum und hebt die Klinge über deinen Kopf.«

»Ich trete ihm von unten in den Bauch. Dann ziehe ich die Beine unter ihm weg, von rechts nach links.«

»Er liegt auf dem Rücken, packt aber deinen Arm.«

»Ich lasse ihn machen, benutze aber die Hebelkraft seines Griffs, um meine Beine nach oben zu schwingen. Dann zurück und direkt in sein Gesicht. Trete drauf und befreie meine Hand.«

Es ist ein komisches Spiel. Es zwingt mich, das Physische von der Realität zu trennen und mit meinem Gehirn statt meinem Körper zu kämpfen. Früher habe ich gemault, wenn wir Schatten gespielt haben, habe mich beklagt, dass alles erfunden ist. Kämpfen bedeutete für mich den Einsatz von Kopf, Händen, Füßen. Ohne Abstraktion. Ohne Worte.

Aber je mehr wir das Spiel spielten, desto beweglicher wurde ich beim Training, insbesondere wenn Katarina und ich direkt aufeinander losgingen. Ich konnte nicht leugnen, dass das Spiel eine gute Übung war. Es machte mich zu einer besseren Kämpferin. Mittlerweile gefällt es mir sehr.

»Ich laufe weg«, sage ich.

|20|»Zu spät«, sagt sie. Ich weiß, was jetzt kommt und will mich schon beklagen. »Du hast das Schwert vergessen«, fügt sie hinzu. »Er hat es schon wieder hochgerissen und deine Flanke gestreift.«

»Nein, hat er nicht«, erwidere ich. »Ich habe sein Schwert eingefroren und es wie Glas zerbrochen.«

»Ach, hast du das?« Katarina ist müde, ihre Augen sind von zehn Stunden am Steuer blutunterlaufen. Dennoch scheine ich sie zu belustigen. »Das muss ich wohl gerade verpasst haben.«

»Genau.« Ich grinse in mich hinein.

»Und wie hast du das hinbekommen?«

»Mein Erbe. Es ist eben eingetreten. Und wie sich zeigt, kann ich Dinge einfrieren.«

Das ist natürlich alles nur Einbildung. Ich habe mein Erbe noch nicht entwickelt und auch nicht die geringste Ahnung, woraus es bestehen und wann es auftreten wird.

»Coole Sache«, sagt Katarina.