Es hat zwei Tage gedauert, aber mittlerweile habe ich gelernt, mein erstes Erbe richtig anzuwenden. Allerdings kann ich es noch nicht vollständig kontrollieren. Manchmal verschwindet die Unsichtbarkeit, ich werde panisch und will sie unbedingt wiederherstellen. Sie ein- und auszuschalten funktioniert anders als bei einem Lichtschalter. Ich brauche ein bestimmtes Maß an Konzentration.
Katarinas Atemübungen haben mir dabei sehr geholfen. Wenn ich mich zu sehr anstrenge, um die Unsichtbarkeit zu kontrollieren, konzentriere ich mich erst auf meine Atmung – ein, aus – und danach wieder auf meine Fähigkeit. Nachdem ich einmal gelernt habe, meine Hand nach Belieben unsichtbar zu machen, trainiere ich die anderen Körperteile. Es ist fast so, als bewege man einen neuen, bisher unbekannten Muskel. Zunächst fühlt es sich seltsam an, aber nach einer Weile ist es ganz natürlich. Als nächsten Schritt lasse ich meinen ganzen Körper verschwinden. Das ist nicht schwieriger, als die Hand unsichtbar zu machen; im Grunde genommen bedarf es hierbei sogar viel weniger Präzision.
Ich bin fertig.
Ich werde komplett unsichtbar und warte darauf, dass das Essen ausgeteilt wird. Die Unsichtbarkeit aufrechtzuerhalten kostet einen Teil meiner Energie. Eine Energie, die ich gern aufsparen würde. Aber ich habe nur diesen einen Moment des Tages, an dem meine Falle zuschnappen kann. Ich darf es nicht riskieren, dass sie meine Transformation bemerken.
Endlich erscheint ein Mogadori. Die Essensluke öffnet sich, |71|das Tablett wird hereingeschoben. Dann schließt sie sich wieder.
Ich befürchte, dass mein Trick nicht funktioniert hat. Vielleicht machen sich die Mogs gar nicht mehr die Mühe, nach mir zu sehen oder auf mich zu achten? Was bedeuten würde, dass meine Fähigkeit völlig nutzlos ist …
Die Luke öffnet sich erneut. Zwei wache Augen blicken angestrengt in die Zelle.
Ein, aus. Manchmal kann es passieren, dass mich große Aufregung wieder sichtbar werden lässt. Aber ich darf diesen Augenblick nicht ruinieren. Ein, aus. Die größte Katastrophe wäre, wenn sie meine Fähigkeit entdecken, bevor ich sie erneut anwenden kann. Ich versuche, ihre Aufmerksamkeit auf meine Abwesenheit zu lenken – ziemlich merkwürdige Sache.
Die Luke schließt sich wieder. Ich höre, wie der Mog weggeht. Mein Herz pocht. Wo ist er hin? Hat er nicht bemerkt, dass ich nicht mehr da bin?
Plötzlich wird die Tür aufgerissen. In kürzester Zeit drängen vier mogadorische Wachleute in die Zelle. Ich drücke mich in den hintersten Winkel, versuche, mich zu verstecken. Sie stehen dicht beisammen und beratschlagen über mein offensichtliches Verschwinden. Kein Weg nach draußen.
Einer geht raus und läuft den Gang entlang. Jetzt ist etwas mehr Platz in der Zelle und das Risiko, dass mich jemand berührt, ist kleiner geworden. Ich kann etwas leichter atmen.
Einer der drei macht in seiner Frustration plötzlich eine ausladende Bewegung mit dem Arm, sodass ich mich ganz schnell, aber leise ducken muss. Das war knapp.
Leise wie eine Katze schleiche ich mich in die Ecke neben der Tür. Zwei der Mogs stehen etwas abseits, aber einer von ihnen blockiert die Tür.
Beweg dich, denke ich. Weg da.
Aus der Ferne höre ich Schritte, die sich der Zelle nähern. Weitere Mogadori. Mir ist klar, dass mich nur einer berühren oder meinen Atem spüren muss, und mein Erbe ist entdeckt. Die Schritte kommen näher. Der Mog neben der Tür geht einen |72|Schritt beiseite, um den Neuankömmlingen Platz zu machen.
In diesem Moment schlüpfe ich aus der Zelle. Beinahe rutsche ich auf dem Boden aus, kann mich aber im letzten Moment fangen. Ich höre, wie mein Körper an der Wand entlangschrammt und weiß, dass sie mich da drinnen bestimmt entdeckt hätten.
Eine weitere Horde kommt von der linken Seite auf die Zelle zugelaufen. Ich kann nur nach rechts ausweichen. Behutsam springe ich zur Seite. Geschmeidig wie eine Katze.
Es ist ein langer Gang. Ich versuche, mich so ruhig wie möglich zu verhalten. Meine nackten Füße machen nur sehr leise Geräusche, während ich laufe und immer weiter laufe. Zu Beginn habe ich Angst, aber dann kann ich es spüren: Freiheit. Nur ein Stück weiter geradeaus.
Ich laufe schneller und setze nur mit den Fußballen auf, um die Geräusche noch weiter zu dämpfen. Mein Herz macht einen Satz, als ich aus dem Gang hinauskomme und mich im Zentrum des mogadorischen Hauptquartiers wiederfinde. Eine riesige Höhle, von der zahlreiche andere, ähnliche Gänge abgehen. Überall sind Überwachungskameras angebracht. Als ich sie entdecke, zieht sich mein Herz ängstlich zusammen. Aber dann erinnere ich mich daran, dass ich unsichtbar bin – sowohl für Mogs als auch für Kameras.
Allerdings weiß ich nicht, wie lange.
Eine Sirene ertönt. Das hätte ich mir eigentlich denken können. An jeder Ecke zucken blinkende Lichter, während sich das Alarmgeräusch weiter fortsetzt. Die hohen Wände der Höhle verstärken es um ein Vielfaches.
Wahllos biege ich in einen anderen Tunnel ab.
Ich komme an einer Anzahl weiterer Zellen vorbei, hinter deren Türen sich wahrscheinlich noch mehr Gefangene befinden.
Ich wünschte, ich hätte die Zeit, ihnen zu helfen. Aber solange meine Unsichtbarkeit anhält, kann ich im Augenblick nur rennen und immer weiter rennen.
Als ich aus dem Tunnel herauskomme und nach links laufe, sehe ich zu meiner Rechten einen großen, verglasten Raum. Er |73|ist von einem schimmernden, fluoreszierenden Licht erfüllt, das von Hunderten und Aberhunderten summender Computer ausgeht. In langen Reihen stehen sie auf Tischen und sind zweifellos damit beschäftigt, Spuren der anderen Mitglieder der Garde auszumachen. Ich laufe weiter.
Dann komme ich an einem weiteren verglasten Labor vorbei, diesmal auf der linken Seite. Darin befinden sich ein paar Mogadori mit weißen Plastikanzügen und Schutzbrillen. Wissenschaftler? Chemiker, die Bomben basteln? Ich verzichte darauf, näher hinzusehen, und renne weiter. Mit Sicherheit arbeiten sie an irgendeiner Teufelei.
Mein Hirn ist von dem schrillenden Alarmgeräusch sehr abgelenkt, gern würde ich mir die Ohren zuhalten. Aber ich brauche meine Hände, um beim Laufen das Gleichgewicht zu halten und meine Füße vorsichtig und lautlos aufzusetzen. Plötzlich fällt mir auf, dass es mir trotz meines eher groben Auftretens, meiner Jungenhaftigkeit und meines ständigen Kampftrainings erstaunlicherweise gelingt, sehr feminine Züge in mir wachzurufen – ich bewege mich leichtfüßig wie eine Ballerina.
Der Tunnel endet in einer weiteren Höhle, die noch größer als die erste ist. Ich hatte angenommen, die erste Höhle sei das Herz des mogadorischen Komplexes, aber tatsächlich scheint es diese hier zu sein: eine riesige, gähnende Halle, die einen halben Kilometer breit und dabei so düster ist, dass ich das entgegengesetzte Ende kaum erkennen kann.
Ich bin schweißnass und außer Atem. Es ist sehr warm hier drinnen. Wände und Decke sind mit riesigen Trägern und Holzkonstruktionen versehen, die die Höhle vor dem Einsturz bewahren sollen. Schmale, aus dem Fels herausgehauene Vorsprünge verknüpfen die zahlreichen Tunnel, die überall und in verschiedenen Höhen von der großen Halle abgehen. Über mir befinden sich ein paar aus Fels geformte, bogenförmige Übergänge, welche die verschiedenen Seiten der Halle miteinander verbinden.
Ich hole tief Luft und wische mir den Schweiß von der Stirn.
|74|Es gibt so viele Tunnel, doch keiner von ihnen weist in eine bestimmte Richtung. Mein Herz pocht. Ich könnte tagelang durch diesen riesigen Komplex irren, ohne den Weg nach draußen zu finden. Ich komme mir vor wie eine Laborratte, die sich vergeblich durch ein Labyrinth bewegt.
Aber dann sehe ich es: ein winziger Strahl natürlichen Lichts, hoch über mir. Es muss einen Weg dorthin geben. Ich muss mich irgendwie an diesen steilen Wänden hocharbeiten. Das wird schon gehen.
Gerade, als ich mich an einem der großen Holzgitter in die Höhe zu hieven beginne, höre ich eine Stimme.
»Wir werden sie finden.«
Er ist es. Katarinas Henker.
Er steht auf einem der Felsbögen über mir und spricht mit ein paar mogadorischen Wachleuten. Als die Wächter verschwinden und er sich umdreht, um wieder in einem der Tunnel zu verschwinden, stehe ich vor der Wahl. Entkommen oder Rache. Das Licht über mir zieht mich an wie ein Wasserloch in der Wüste. Ich überlege, wie lange ich eigentlich kein Sonnenlicht mehr gesehen habe.
Aber ich kehre um.
Ich wähle die Rache.