Wir halten, tanken und besorgen uns Snacks und neue Telefone. In einem Truck Stop essen wir Hackbraten mit Makkaroni und Käse – eines der wenigen Gerichte, die Henri für besser hält als das, was es auf Lorien gab. Dann macht er auf seinem Laptop Dokumente mit unseren neuen Namen fertig. Er wird sie ausdrucken, sobald wir angekommen sind, und jeder wird glauben, dass wir die Personen sind, deren Namen da stehen.
»Bleibst du bei John Smith?«, fragt Henri.
»Ja.«
»Geboren bist du in Tuscaloosa, Alabama.«
Das finde ich lustig. »Wie bist du denn darauf gekommen?«
Er lacht und deutet auf zwei Frauen, die nicht weit von uns sitzen. Beiden scheint es heiß zu sein. Eine trägt ein T-Shirt, auf dem steht: WE DO IT BETTER IN TUSCALOOSA.
»Und dahin ziehen wir dann danach«, sagt er.
»Auch wenn es verrückt klingt – ich hoffe, wir bleiben lange in Ohio.«
»Aber wirklich. Gefällt dir der Gedanke, in Ohio zu leben?«
»Mir gefällt der Gedanke, ein paar Freunde zu finden, mehr als ein paar Monate in dieselbe Schule zu gehen, vielleicht tatsächlich ein Leben wie alle anderen zu führen. In Florida habe ich damit angefangen. Es war toll, und zum ersten Mal seit wir auf der Erde sind, habe ich mich fast normal gefühlt. Ich möchte irgendwo einen Ort finden und irgendwo bleiben.«
Henri schaut mich nachdenklich an. »Hast du heute schon nach deinen Narben gesehen?«
»Nein, warum?«
|92|»Weil es hier nicht um dich geht. Es geht um das Überleben unserer Rasse, die fast ganz ausgelöscht wurde, und darum, dich am Leben zu halten. Jedes Mal, wenn einer von euch stirbt – einer von der Garde –, verringern sich unsere Chancen. Du bist Nummer Vier, du bist der Nächste. Dich verfolgt eine komplette Rasse heimtückischer Mörder. Beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten gehen wir fort, und darüber werde ich nicht mit dir diskutieren.«
Henri fährt die gesamte Strecke. Bis auf ein paar Pausen, vorwiegend für die Herstellung der neuen Dokumente, sind das etwa dreißig Stunden. Ich schlafe fast die ganze Zeit oder spiele Videospiele. Wegen meiner schnellen Reflexe beherrsche ich die meisten Games rasch. Dabei stelle ich mir vor, ich bin wieder auf Lorien und kämpfe gegen Mogadori, schlage sie nieder, mache Asche aus ihnen. Henri findet das albern und versucht mich davon abzuhalten. Er sagt, wir müssen in der wirklichen Welt leben, wo Krieg und Tod Realität sind, wir sollen nicht so tun, als ob. Nachdem ich mein letztes Spiel beendet habe, blicke ich auf. Ich habe es satt, im Truck zu sitzen. Die Anzeige auf dem Armaturenbrett zeigt sieben Uhr achtundfünfzig.
Ich gähne und reibe mir die Augen. »Ist es noch weit?«
»Wir sind fast da«, antwortet Henri.
Draußen ist es noch dunkel, doch im Westen zeigt sich schon ein heller Schein. Wir fahren an Farmen mit Pferden und Vieh vorbei, dann an kahlen Feldern; dahinter stehen Bäume, so weit das Auge reicht. Das ist genau das, was Henri wollte – ein ruhiger Ort, wo man unauffällig leben kann. Einmal in der Woche recherchiert Henri im Internet sechs, sieben, acht Stunden hintereinander und aktualisiert eine Liste mit leer stehenden Häusern im ganzen Land, die seinen Ansprüchen genügen: abgeschieden, ländlich, sofort zu beziehen. Er hat mir gesagt, dass vier Versuche nötig waren – ein Anruf in South Dakota, einer in New Mexico, einer in Arkansas –, bis er das Haus mieten konnte, in dem wir jetzt wohnen werden.
Ein paar Minuten später sehen wir verstreute Lichter, die auf |93|eine Stadt hinweisen, und fahren an einem Schild vorbei mit der Aufschrift:

»Wahnsinn«, sage ich. »Das Nest ist noch kleiner als das, in dem wir in Montana gewohnt haben.«
Henri grinst. »Und für wen, glaubst du, ist es ein Paradies?«
»Für Kühe vielleicht? Vogelscheuchen?«
Wir fahren an einer alten Tankstelle vorbei, einer Autowaschanlage, einem Friedhof. Dann kommen die Häuser; Holzhäuser, die etwa hundert Meter auseinander stehen. Die meisten Fenster sind für Halloween dekoriert. Ein Fußweg durchschneidet kleine Höfe vor den Haustüren. Im Zentrum des Ortes gibt es einen Kreisverkehr, und in dessen Mitte steht eine Statue, die einen Reiter mit einem Schwert in der Hand darstellt.
Henri hält kurz an. Wir betrachten beide den Reiter, dann müssen wir lachen – allerdings nur, weil wir hoffen, dass sich kein anderes Wesen mit einem Schwert hier blicken lässt. Henri fährt in den Kreisverkehr, dann sagt uns das Navi, dass wir abbiegen müssen. Jetzt fahren wir nach Westen, aus dem Städtchen hinaus.
Nach vier Meilen biegen wir links in einen Kiesweg, dann geht es an gemähten Feldern vorbei, auf denen im Sommer wahrscheinlich Mais oder Korn wächst, danach etwa eine Meile durch einen dichten Wald. Und dann finden wir, hinter überwachsener Vegetation versteckt, einen verrosteten, silbrigen Briefkasten mit schwarzer Schrift auf der Seite: 17 Old Mill Road.
»Das nächste Haus ist zwei Meilen entfernt«, sagt Henri beim |94|Einbiegen. Unkraut wächst in der Kiesauffahrt voller Schlaglöcher, in denen gelbbraunes Wasser steht.
»Wem gehört der Wagen?« Ich deute auf den schwarzen SUV, hinter dem Henri gerade geparkt hat.
»Wahrscheinlich der Immobilienmaklerin.«
Das Haus, umgeben von hohen Bäumen, wirkt im Dunkeln gespenstisch, so als wäre sein letzter Bewohner fortgejagt, vertrieben worden oder weggelaufen. Ich steige aus dem Truck. Der Motor klopft und ich spüre seine Hitze. Ich schnappe mir meine Tasche von hinten.
»Na, was sagst du?«, fragt Henri.
Das Haus ist einstöckig. Holzkonstruktion. Die weiße Farbe ist zum großen Teil abgeblättert, ein Vorderfenster zerbrochen. Die schwarzen Schindeln auf dem Dach sehen verzogen und brüchig aus. Drei Holzstufen führen zu einer kleinen Veranda mit wackligen Stühlen. Der Hof ist langgestreckt und verwahrlost. Seit das Gras zum letzten Mal gemäht wurde, muss sehr viel Zeit vergangen sein.
»Es sieht aus wie ein Paradies«, sage ich.
Als wir zur Tür gehen, wird sie bereits von einer gut gekleideten Blondine in Henris Alter von innen geöffnet. Sie hält ein Clipboard und einen Schnellhefter in der Hand, ein Smartphone ist an ihrem Rockbund befestigt.
Sie lächelt. »Mr. Smith?«
»Ja«, bestätigt Henri.
»Ich bin Annie Hart von Paradise Reality. Wir haben miteinander telefoniert. Ich habe vorhin versucht, Sie zu erreichen, aber Ihr Handy ist offenbar ausgeschaltet.«
»Ja, leider hat der Akku auf der Fahrt hierher versagt.«
»Oh, ich hasse es, wenn mir das passiert.« Sie kommt auf uns zu und schüttelt Henri die Hand. Dann fragt sie mich nach meinem Namen und ich kann mich gerade noch zügeln, einfach nur »Vier« zu sagen. Während Henri den Mietvertrag unterschreibt, erkundigt sie sich nach meinem Alter und erzählt, dass ihre etwa gleichaltrige Tochter auf die örtliche Highschool gehe. Sie ist |95|sehr freundlich und entgegenkommend, offensichtlich plaudert sie gern. Zu dritt gehen wir ins Haus.
Drinnen sind die meisten Möbel mit weißen Laken verhüllt. Auf den unbedeckten liegt zentimeterdick Staub, dazwischen tote Insekten. Die Jalousien in den Fenstern sehen brüchig aus, die Wände sind mit billigem Sperrholz getäfelt. Es gibt zwei Schlafzimmer, eine ziemlich kleine Küche mit lindgrünem Linoleumboden und ein Bad. Das Wohnzimmer ist ein großes Rechteck auf der Vorderseite des Hauses mit einem Kamin in der hintersten Ecke. Ich werfe meine Tasche auf das Bett im kleineren Schlafzimmer, in dem ein riesiges ausgeblichenes Poster von einem Footballspieler hängt; sein Trikot ist in einem grellen Orange. Bernie Kosar, Quarterback, Cleveland Browns steht darunter.
»Komm, verabschiede dich von Mrs. Hart!«, ruft Henri aus dem Wohnzimmer.
Mrs. Hart steht mit ihm an der Tür. Sie sagt, ich solle mich in der Schule nach ihrer Tochter umschauen, vielleicht könnten wir Freunde werden. Ich lächle und antworte: »Ja, das wäre nett.«
Sofort nachdem sie gegangen ist, entladen wir den Truck. Je nachdem, wie schnell wir einen Ort verlassen müssen, reisen wir entweder sehr leicht – also nur mit den Sachen, die wir anhaben, Henris Laptop und dem kunstvoll geschnitzten lorienischen Kasten, den wir überallhin mitnehmen – oder bringen ein paar Dinge mit, meistens Henris andere Computer plus Zubehör; alles, was er für Sicherheitsmaßnahmen und Internetrecherche nach Informationen und Ereignissen, die mit uns zusammenhängen könnten, benötigt. Diesmal haben wir den Kasten dabei, die beiden Hochleistungscomputer, vier Fernsehmonitore und vier Kameras. Auch einiges zum Anziehen ist eingepackt, obwohl nicht viele der Klamotten aus Florida für Ohio geeignet sind. Henri trägt den Kasten in sein Zimmer, danach schleppen wir alle Geräte in den Keller, wo er sie aufstellen wird und kein Besucher sie entdecken kann. Sowie alles im Haus ist, baut er die Kameras auf und schaltet die Monitore ein.
|96|»Vor morgen früh haben wir hier kein Internet. Aber wenn du morgen in die Schule gehen willst, kann ich dir deine neuen Dokumente ausdrucken.«
»Muss ich dir beim Putzen und Einrichten helfen, wenn ich hierbleibe?«
»Ja.«
»Klar, ich gehe in die Schule«, sage ich.
»Dann leg dich lieber rechtzeitig schlafen.«
ENDE DES AUSZUGS