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Auf Zehenspitzen folge ich ihm durch verschiedene Tunnel und konzentriere mich dabei auf die Beibehaltung meiner Unsichtbarkeit. Mittlerweile habe ich viel über mein Erbe gelernt und weiß, dass ich durch jede Überraschung oder unverhoffte Ablenkung wieder sichtbar werden kann.

Ich beobachte, wie er eine Zelle betritt, und schleiche mich hinter ihm hinein.

Da er von meiner Anwesenheit nichts ahnt, geht er gedankenverloren in eine Ecke und beginnt aufzuräumen.

Ich schaue nach unten. Auf dem Boden ist Blut, seine Waffen liegen offen herum. Er hat einen weiteren Gefangenen gefoltert und sterben lassen.

Ich habe noch nie zuvor einen Mogadori getötet. Diejenigen, die bei dem Versuch, mich zu töten, selbst ums Leben gekommen sind, zähle ich nicht mit. Bis jetzt habe ich nur einen Hasen getötet – und eine Schimäre. Zu meinem Schrecken stelle ich fest, dass ich nach einem Mord förmlich dürste.

Ich nehme eine scharfe Klinge vom Tisch und nähere mich dem Mogadori. Die Waffe fühlt sich in meiner Hand sehr gut an. Genau richtig.

Ich werde ihm keine Chance geben, mich anzubetteln oder mich von meinem Vorhaben abzubringen.

Ich packe ihn mir von hinten und schlitze ihm mit einem sauberen Schnitt die Kehle auf. Er würgt und spuckt Blut auf den Fußboden und meine Hände. Dann sinkt er in die Knie und zerfällt zu Asche.

Ich fühle mich lebendiger als je zuvor. Ich öffne den Mund. |76|Das ist für Katarina, will ich sagen. Doch ich bleibe stumm.

Ich sage nichts, weil es eine Lüge ist.

Es war nicht für Katarina.

Das war für mich.

 

Eine Stunde später kann ich dem mogadorischen Komplex endlich entkommen. Ich bin völlig erschöpft und versuche so gut es geht unsichtbar zu bleiben, als ich aus der Höhle ins Freie klettere und von dort zu einem anderen Berg hinüberlaufe. Unterwegs muss ich ein paar Mal anhalten, um mich an die gleißende Mittagssonne zu gewöhnen. Meine milchig-weiße Haut brennt unter ihrer Helligkeit.

Ich schaue auf den Eingang der Höhle zurück, der aus dieser Distanz schon kaum mehr wahrzunehmen ist. Da ich meinem Erinnerungsvermögen nicht traue, versuche ich mir die Form und Lage des Mogadori-Felsens genau einzuprägen.

Ich bin sicher, dass die Mogadori bereits ein paar Leute nach draußen geschickt haben, um hier nach mir suchen zu lassen. Bestimmt durchforsten sie in diesem Moment die Umgegend.

Lass sie nur suchen.

Sie werden mich niemals finden.

 

Ich laufe ein paar Kilometer weiter, bis ich zu einer Straße in einem kleinen Bergarbeiterdorf komme. Ich bin barfuß, die Straße setzt meinen Füßen hart zu und ruiniert meine Gelenke. Aber es ist mir egal. Früher oder später werde ich mir schon ein paar Turnschuhe beschaffen können.

Ich stoße auf einen Lastwagen, der vor der einzigen Ampel des Orts angehalten hat. Leichtfüßig springe ich auf die Ladefläche des Pick-ups. Weiter und weiter lasse ich mich von der mogadorischen Höhle wegbefördern.

Als der Fahrer ein paar Stunden später anhält, um zu tanken, schleiche ich mich – immer noch unsichtbar – in das Wageninnere und krame in seinen Sachen herum. Ich nehme mir eine Hand-voll Vierteldollarmünzen, einen Kugelschreiber, ein paar |77|Blätter Papier und eine ungeöffnete Tüte Barbecue-Chips.

Dann laufe ich hinter die Tankstelle und setze mich in den Schatten. Dort zeichne ich, soweit es meine Erinnerung zulässt, eine Karte, die den Weg zum Eingang der Höhle beschreibt, dazu ein Diagramm der Tunnel im Inneren. Es wird zwar lange dauern, bevor ich sie wieder benutzen werde, aber meine Erinnerung an das mogadorische Versteck ist mein wertvollster Besitz und darf nicht verloren gehen.

Als ich alles fertig gezeichnet habe, lege ich den Kopf in den Nacken. Die Sonne geht bereits unter, doch noch spüre ich ihre Wärme auf der Haut. Ich öffne die Chipstüte und stopfe alles in drei Bissen in mich hinein. Die salzig-süßen Chips schmecken köstlich. Einfach fantastisch.

 

Endlich bin ich in einem Motelzimmer. Einen ganzen Tag lang bin ich herumgelaufen, angetrieben von dem Bedürfnis nach Schutz und Ruhe. Ich konnte mir kein Zimmer leisten und hatte in meiner Verzweiflung schon überlegt, irgendwo Geld zu stehlen. In irgendeine Tasche zu greifen und mir das zu nehmen, was ich brauche. Wenn ich mein Erbe angewendet hätte, wäre das eine Kleinigkeit gewesen.

Aber dann wurde mir klar, dass ich gar nicht stehlen musste, noch nicht jedenfalls. Stattdessen betrat ich den Empfang eines kleinen Motels, machte mich unsichtbar und schlich in das Büro des Managers. Dort nahm ich den Schlüssel für Zimmer 21 vom Haken. Ich wusste nicht genau, wie ich den schwebenden Schlüssel durch den geschäftigen Eingangsbereich bekommen sollte, und blieb für einen Moment wie angewurzelt im Büro stehen. Doch sobald ich den Schlüssel in der Hand hatte, wurde auch er unsichtbar.

Bisher hatte ich noch keinen Gegenstand unsichtbar gemacht, nur mich selbst und meine Kleidung. Das hier war ein guter Hinweis auf die sonstigen möglichen Anwendungsbereiche meines Erbes.

Ich bin jetzt seit ein paar Stunden in dem kühlen Motelzimmer. |78|Ich schlafe auf dem zugedeckten Bett und habe so zumindest eher das Gefühl, nichts gestohlen zu haben.

Plötzlich wird mir etwas bewusst. Ich bin während der ganzen Zeit in diesem Zimmer unsichtbar geblieben und bin mittlerweile von der Anstrengung ganz verspannt. Ein Gefühl, als ob ich ständig den Atem anhalten muss.

Ich stehe auf, gehe zum Spiegel und entspanne mich. Meine Gestalt wird im Spiegel sichtbar. Zum ersten Mal seit sieben Monaten sehe ich mein Gesicht.

Ich schnappe nach Luft.

Das Mädchen, das mich da aus dem Spiegel anstarrt, ist kaum wiederzuerkennen. Ich bin auch kein Mädchen mehr.

Eine ganze Weile stehe ich da, völlig allein, betrachte mich im Spiegel und sehne mich nach Katarina. Sehne mich nach etwas, womit ich ihren Verlust ausgleichen kann.

Aber es ist alles im Spiegel. In der neuen Härte und dem definierten Ausdruck meines Gesichts, in der muskulösen Wölbung meiner Arme.

Ich bin jetzt eine Frau und ich bin eine Kriegerin. Katarinas Liebe und auch ihr Verlust sind für immer in die Züge meines energischen Mundes geschrieben.

Ich bin zu dem geworden, was man als Tribut an Katarina bezeichnen könnte. Mein Überleben ist das Geschenk an sie.

Zufrieden kehre ich zum Bett zurück und schlafe für einige Tage.