Der Diner ist von fettigen Ausdünstungen erfüllt. Es ist erst sechs Uhr morgens, aber fast alle Plätze sind belegt, überwiegend von Lastwagenfahrern. Während ich auf unser Essen warte, sehe ich zu, wie diese Männer große Portionen herzhaftes und saftiges Frühstücksfleisch – Würstchen, Schinken, Hackbraten – in sich hineinschaufeln. Als mein Essen schließlich kommt, kann ich mich kaum beherrschen. Drei Pfannkuchen, vier Streifen Schinken, einen ganzen Kartoffelpuffer und einen großen Orangensaft.
Als ich fertig bin, gebe ich einen ordentlichen Rülpser von mir. Katarina ist zu müde, um mich deswegen auszuschelten.
»Meinst du, dass …?«, frage ich.
Katarina lacht und ahnt meine Frage voraus. »Wie ist das bloß möglich?«
Ich zucke mit den Schultern. Sie nickt und ruft die Kellnerin herbei. Mit schuldbewusstem Lächeln bestelle ich eine weitere Portion Pfannkuchen.
»Tja«, sagt die Kellnerin und stößt ein trockenes Husten aus, »Ihre Kleine kann es bestimmt vertragen.« Sie ist eine ältere Frau, deren Gesicht dermaßen zerfurcht und ausgezehrt wirkt, dass man es für ein Männergesicht halten könnte.
»Ja, Ma’am«, antworte ich. Die Kellnerin verschwindet wieder. »Dein Appetit erstaunt mich immer wieder«, sagt Katarina.
Allerdings weiß sie, dass es einen Grund dafür gibt. Ich trainiere ununterbrochen. Obwohl ich erst dreizehn bin, habe ich den festen, muskulösen Körper einer Turnerin. Ich brauche eine Menge Treibstoff und schäme mich meines Appetits nicht im |25|Geringsten.
Ein weiterer Gast betritt das gut gefüllte Lokal.
Mir fällt auf, dass ihm die anderen Männer misstrauische Blicke zuwerfen, während er sich den Weg zu einem freien Platz im hinteren Teil des Diners bahnt. Als Katarina und ich vorhin hereinkamen, haben sie uns mit demselben Misstrauen beäugt. Ich dachte, dieser Ort sei bloß eine von Fremden besuchte Zwischenstation auf der Reise. Aber anscheinend sind einige Fremde irgendwie besonders verdächtig und andere eben nicht. Katarina und ich versuchen in unseren typisch amerikanischen Durchschnittsklamotten – T-Shirt und khakifarbene Shorts – nicht allzu sehr aufzufallen. Aber trotzdem begreife ich, wieso wir es tun. Offenbar gibt es hier in den hintersten Winkeln von West Texas eine andere Definition von ›durchschnittlich‹.
Dieser Neuankömmling ist allerdings schwieriger einzuordnen. Er ist mehr oder weniger passend angezogen und trägt eine von diesen Texas-Krawatten mit schwarzem Lederband. Und wie alle anderen Männer hat er Stiefel an. Dennoch machen seine Klamotten irgendwie einen veralteten Eindruck. Und es gibt etwas seltsam Beunruhigendes an seinem dünnen schwarzen Schnurrbart: auf den ersten Blick sieht er ganz gerade aus, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto schiefer wirkt er auf mich.
»Es ist sehr unhöflich, so zu starren«, rügt mich Katarina.
»Ich starre nicht«, behaupte ich. »Ich sehe mich nur interessiert um.«
Katarina lacht. In den letzten vierundzwanzig Stunden hat sie mehr gelacht als in all den Monaten zuvor. An diese neue Katarina muss ich mich erst langsam gewöhnen.
Nicht, dass ich etwas dagegen hätte.
Ich strecke mich genüsslich auf dem Motelbett aus, während Katarina im Badezimmer eine Dusche nimmt. Die Bettlaken sind billig, Polyester oder Kunstseide, aber ich bin so müde, dass sie sich für mich durchaus wie echte Seide anfühlen.
Als Katarina vorhin die Bettdecke zurückgeschlagen hat, |26|tauchte unter dem Kopfkissen ein Ohrenkneifer hervor, der sie ziemlich ekelte, mich aber kalt ließ.
»Mach ihn tot!«, rief sie und schlug die Hände vors Gesicht.
Ich weigerte mich. »Es ist doch bloß ein Insekt.«
»Töte es!«, bettelte sie wieder.
Stattdessen wischte ich das Tier nur vom Bett hinunter und hüpfte zwischen die kühlen Laken. »Kommt nicht infrage«, sagte ich dickköpfig.
»Na, meinetwegen«, gab sie zurück und ging ins Bad. Dann drehte sie den Wasserhahn auf, kam aber einen Augenblick später wieder aus dem Badezimmer heraus. »Ich mache mir Sorgen …«, setzte sie an.
»Worüber?«
»Ich mache mir Sorgen, dass ich dich nicht gut genug trainiert habe.«
Ich verdrehte die Augen. »Weil ich keinen Käfer umbringen will?!«
»Ja. Nein, ich meine nur, es hat mich nachdenklich gemacht. Du musst lernen, ohne Nachdenken zu töten. Ich habe dir noch nicht einmal beigebracht, irgendwelche Nagetiere zu jagen, geschweige denn Mogadori … Du hast noch nie irgendetwas getötet.«
Während das Wasser hinter ihr weiterplätscherte, schien Katarina zu überlegen.
Ich konnte sehen, dass sie müde war und ihren Gedanken nachhing. So wird sie manchmal, wenn wir zu viel trainiert haben. »Kat«, sagte ich. »Geh duschen.«
Sie erwachte aus ihrer Träumerei und sah mich an. Dann kicherte sie und schloss die Tür hinter sich.
Während ich auf sie warte, schalte ich vom Bett aus den Fernseher ein. Der letzte Gast hat den Sender CNN eingestellt. Als Erstes sehe ich nun einen Bericht über das Ereignis in England – aufgenommen aus einem Hubschrauber. Ich schaue nur ein paar Minuten zu und erfahre, dass sowohl die Presse als auch die englischen Behörden keine Ahnung haben, was sich da gestern |27|tatsächlich zugetragen hat. Ich bin viel zu müde, um darüber nachzudenken, und werde die Einzelheiten sicher auch später noch erfahren. Also schalte ich den Fernseher aus und lehne mich zurück. Ich hoffe, dass der Schlaf mich bald überwältigt.
Einen Augenblick später kommt Katarina aus dem Badezimmer. Sie trägt einen Bademantel und bürstet ihr Haar. Ich beobachte sie durch halb geschlossene Lider.
Plötzlich klopft es an der Tür.
Katarina lässt ihre Bürste auf den Frisiertisch fallen. »Wer ist da?«, fragt sie.
»Der Manager, Miss. Ich bringe Ihnen frische Handtücher.«
Ich bin von dieser Störung so genervt – ich will schlafen und es ist ziemlich offensichtlich, dass wir keine frischen Handtücher brauchen, da wir unser Zimmer eben erst bezogen haben –, dass ich mich aus dem Bett schäle und dabei überhaupt nicht richtig nachdenke. »Wir brauchen keine«, sage ich und reiße im selben Moment die Tür auf.
Gerade höre ich noch, wie Katarina »Nicht …« sagt, doch schon steht er vor mir.
Der Mann mit dem schiefen Schnauzbart.
Der Schrei bleibt mir im Hals stecken, als er ins Zimmer kommt und die Tür hinter sich schließt.