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Heute

 

 
 

  Ich gehe zu Jager, und die Menschen stoßen in dem Versuch, mir nicht in die Quere zu kommen, aneinander. Ich lache, als sie eilig die Bar verlassen.

  »Auch hier, um die Show zu sehen?« frage ich ihn.

  »Ich habe dir gesagt, daß du stärker als Aubrey bist«, meint er. »Der Feigling. Ich hätte nicht gedacht, daß er dir all das anbietet, nur um weiterzuleben. Du bist jetzt wahrscheinlich eine der Stärksten von uns – vielleicht sogar ebenso stark wie ich. Es wäre interessant, das herauszufinden.«

  »Ein andermal, Jager«, antworte ich. Das Adrenalin und die Energie von dem Kampf wirbeln immer noch durch meinen Körper, und ein Teil von mir möchte gegen jemanden kämpfen, der stärker ist. Aber mein Verstand sagt mir eindeutig, daß ich viel zu aufgedreht bin, um vernünftig zu kämpfen.

  »Natürlich, Risika«, stimmt er mir zu. Jager kämpft nur der Herausforderung wegen, nicht um irgendeinen Preis, und wenn es nicht nötig ist, kämpft er nie mit jemandem, von dem er nicht annimmt, daß er eine echte Chance hat. Im Moment bin ich von Aubreys Blut betrunken, und ich würde verlieren. »Deine Augen sind immer noch golden von der Verwandlung in den Tiger«, bemerkt er.

  »Es gefällt mir so.« Ich lache und blicke in den zersprungenen Spiegel. Mein vorher noch verschwommenes Bild ist jetzt völlig verschwunden, aber ich kann mich in Gedanken sehen. Meine Haare sind immer noch gestreift wie bei einem Tiger, und meine Augen sind so golden wie mein seidenes T-Shirt – die Farbe, die sie hatten, als ich noch lebte, bevor sie sich wegen meines Vampirdaseins schwarz gefärbt haben. Ich fahre mit der Zunge über meine Zähne und leckte den letzten Rest von Aubreys Blut ab.

  Jager verschwindet, und ich bemerke, daß inzwischen fast alle Gäste gegangen sind. Als ich eine schwarze Strähne aus dem Gesicht schüttele, registriere ich zum ersten Mal eine vertraute Aura im Hintergrund des Raumes. Ich kenne sie von dem Brief, dem tränenverschmierten Brief.

  »Also ist mein Verfolger persönlich hier«, sage ich zu seinem Rücken. In diesem Licht sieht das blonde Haar genauso aus wie meines früher. Ich erkunde ihn mit meinem Geist, und obwohl ich ihn nicht lesen kann, erkenne ich, wer er ist. Ich erinnere mich an den Triste-Hexer aus dem Café Sangra, der seinem Vampiropfer eine Nachricht für Rachel mitgegeben hatte.

  Ich habe mir damals nichts dabei gedacht, aber jetzt wünschte ich, daß ich mich näher damit beschäftigt hätte. Ich fluche, als ich plötzlich die Wahrheit erkenne, die ich schon viel früher hätte begreifen sollen.

  »Ich hatte gehofft, dich davon abhalten zu können, diesen Kreaturen zu folgen ... aber ich schätze, dafür ist es jetzt zu spät, nicht wahr?«

  Ich erinnere mich an meine Verwirrung, weil ich nie gehört hatte, wie er den Boden erreichte, als er fiel.

  »Rachel...«, fängt er an.

  »Alexander, sag jetzt nichts.« Er hat dreihundert Jahre gewartet, bevor er mir sagt, daß er lebt? Ich habe mich vor vielen Jahren verdammt. Ich hatte – oder zumindest dachte ich das – nichts mehr zu verlieren. All die Jahre in Einsamkeit. All den Schmerz, den er mir hätte ersparen können...

  Welchen Schmerz hat er wohl gefühlt? Ich bin nie zu meinem Vater zurückgekehrt, weil er nicht wissen sollte, was aus mir geworden war. Hätte ich gewußt, daß mein Zwillingsbruder lebte, als ich unsterblich war, hätte ich dann die Zeit mit ihm verbracht? Und hätte er sie mit mir verbracht, nachdem er wußte, was für ein Monster aus mir geworden war?

  Er dreht sich um, und einen Moment lang sehe ich die goldenen Augen, die ein exaktes Spiegelbild meiner eigenen sind. Aber dann blickt er an mir vorbei auf die Stelle, wo Aubrey und ich gekämpft haben. Ich sehe, wie sein Blick auf dem Blut verweilt, das aus Aubreys Schulterwunde auf den Boden geflossen ist.

  »Warum?« fragt er schließlich mit sanfter Stimme. »Es muß doch einen anderen Weg gegeben haben, damit umzugehen.«

  Ich sehe wieder in Alexanders Augen, in denen sein Urteil deutlich abzulesen ist. Es spielt keine Rolle, daß ich seine Schwester bin. Er findet wirklich, daß ich ein   Monster bin.

  Ich lache. Alexander zuckt zusammen, weil es ein so bitterer Laut ist.

  »Wäre es dir lieber gewesen, wenn Aubrey damit durchgekommen wäre?« frage ich. »Weißt du, ich bin immer davon ausgegangen, daß er dich getötet hat. Wolltest du etwa, daß ich das vergesse? Oder findest du, daß ich die andere Wange hinhalten und den Mord ignorieren sollte?« Alexander blickt einen Moment zur Seite, während in seinem Gesicht der Schmerz darüber zu lesen ist, daß ich die Worte der Bibel verspotte, die er als Kind so heilig gehalten hat.

  »Ich dachte, du würdest mich hassen für das, was ich getan habe«, sagt er.

  »Und was genau hast du getan?«

  Er schweigt einen Augenblick und schüttelt den Kopf, dann sieht er mich widerstrebend an. »Nachdem Lynette sich verbrannt hatte, hätte ich alles getan, um sie zu beschützen. Ich betete, daß ich lernen würde, meine Kräfte zu beherrschen, und...«

  Er atmet tief ein, um sich zu sammeln. »Eine Frau hörte mich beten. Eine Triste. Sie lehrte mich mehr, als ich je über Vampire und andere Monster dieser Welt hören wollte. Ich hörte ihr zu, weil sie mich außerdem lehrte, meine Gabe zu kontrollieren.«

  Vom Fluch zu einer Gabe, denke ich. Ob er immer noch glaubt, daß er verdammt ist?

  »Ein paar Nächte, bevor Ather... dich verwandelte ... erwischte ich sie, wie sie versuchte, von Lynette zu trinken. Ich hielt sie auf, aber...«

  Ich kann mir den Rest der Geschichte denken. Ather ist zu stolz, um sich ihre Beute wegnehmen zu lassen, ohne sich dafür zu rächen. Sie hat mich verwandelt, um Alexander zu verletzen, denn es würde meinem gläubigen Bruder das Herz brechen, wenn seine Schwester verdammt wäre.

  Alexander reißt seinen Blick los, und diesmal fällt er auf Aubreys Blut an meinen Händen. »Rachel, wie konntest du das nur tun? Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal Blut an dir sehen würde, daß du bereit wärst, jemanden zu töten. Du bewegst dich zwischen ihnen, als gehörtest du zu ihnen.«

  Ich könnte jetzt mit ihm streiten – schließlich habe ich Aubrey nicht umgebracht –, aber ich tue es nicht.

  Ich habe Alexander vor langer Zeit geliebt, und vermutlich liebe ich ihn immer noch. Aber in dreihundert Jahren haben die Dinge sich verändert. Ich zumindest habe mich verändert. Alexander versteht das nicht.

  Einst hat er versucht, mich zu beschützen. Er hat versucht, mich von der Dunkelheit und dem Tod fernzuhalten, weil er nicht wollte, daß Ather mich in das verwandelt, was ich heute bin. Er hat es versucht, aber er ist gescheitert, und es ist nicht möglich, den Schaden wiedergutzumachen, der seitdem passiert ist. Ich bin seit langer Zeit ein Monster, und was immer ich auch für Alexander empfinde, so kann ich doch nicht aus meiner Haut.

  Mein goldener Bruder gehört nicht in diese dunkle Welt. Seine Schwester ist seit langer Zeit tot, und ich kann sie nicht zurückholen, um ihm den Schmerz zu ersparen, den mein Anblick ihm bereitet.

  Ich kann nur eines für ihn tun: ihn niemals wissen lassen, wie leicht mir das Töten inzwischen fällt.

  »Alexander, hör mir jetzt genau zu. Rachel ist tot«, sage ich und mache meine Stimme so kalt, daß er mir nicht widersprechen wird. Mein Ton ist ruhig, und ich hämmere die Worte in sein Hirn. »Ich bin eine von ihnen.«

  Während ich die Worte ausspreche, denke ich darüber nach. Es ist wahr – ich bin eine von ihnen. Aber niemand – nicht Aubrey, nicht Ather, weder mein Vater noch mein Bruder – beherrscht mich jetzt.

  Ich hätte Aubrey töten können. Ich hätte meine Stärke benutzen können, um so zu sein wie er. Aber ich vergesse meine Menschlichkeit nicht.

  Ich bin eine von ihnen. Aber ich bin auch Rachel.

  Und ich bin Risika.