14
Heute
Meine Vergangenheit und die Gegenwart haben sich vereint, um mich zu verspotten. Zitternd vor Wut und Trauer kehre ich ins Ambrosia zurück. Ich lasse auf der Suche nach Aubrey meinen Blick durch den Raum schweifen. Ich entdecke ihn nicht.
Ich bin hierhergekommen, um mich abzulenken. Rachels Geist kann mir hierhin nicht folgen.
Ich sehe mein Spiegelbild in einem Glas, das jemand auf der Theke vergessen hat. Das Bild zeigt ein verschwommenes Gespenst, aber ich kann Toras Strähnen in meinem Haar sehen und lache. Das kann Aubrey mir niemals wegnehmen.
In diesem Moment fühle ich mich genau wie das, was ich bin: ein wildes Kind der Dunkelheit. Ein gefährlicher Schatten, der in der Stimmung ist, etwas zu zerstören.
Ich lasse meine Blicke wieder durch den Raum schweifen. Dann werfe ich lächelnd meine Tigerhaare zurück und hocke mich auf die Theke. Das Mädchen dahinter, ein junger Schützling, öffnet den Mund, als wolle sie mich bitten herunterzusteigen, aber dann überlegt sie es sich anders.
»Was siehst du, Tigerin?« fragt mich jemand, und ich drehe mich zu ihm um.
»Du schaust durch diesen Raum, als würdest du etwas anderes sehen als wir alle. Was siehst du?«
Ich erkenne ihn, und ich weiß, daß auch er mich erkannt hat. Es ist Jager, Athers Blutsbruder. Man sagt von ihm, daß er das Leben als Spiel betrachtet – als ein grausames und tödliches Spiel, in dem der Gewinner die Regeln bestimmt.
Jager sieht aus wie achtzehn, er hat dunkle Haut und schwarzbraune Haare. Seine Augen sind grün wie Smaragde und reflektieren das schummrige Licht wie die einer Katze. Ich weiß, daß dies ebenso eine Illusion ist wie meine Haare. Alle Vampire haben schwarze Augen, und Jager hatte sogar dunkle Augen, als er noch lebte – er wurde vor fast fünftausend Jahren in Ägypten geboren und hat gesehen, wie die großen Pyramiden gebaut wurden.
»Ich sehe jemanden, der seine wahren Augen nicht zeigt«, bemerke ich. »Und was siehst du?«
»Ich sehe, daß meine Warnungen an Ather und Aubrey gerechtfertigt waren«, antwortet er.
»Hast du Ather davor gewarnt, daß ich stark sein würde?«
»Ich habe ihr gesagt, daß du eines Tages stärker als sie werden würdest.«
Er sitzt neben mir auf dem Tresen. Das Mädchen hinter uns gibt auf und geht zu einem Tisch am anderen Ende des Raums.
»Ather ist schwach«, sage ich. »Das ist einer ihrer Fehler. Sie verwandelt Menschen, die irgendwann stärker als sie sein werden, damit die anderen denken, daß sie mehr Macht hat, als sie tatsächlich besitzt.«
»Sie ist nicht die einzige, die schwächer ist als du, Risika«, antwortet er.
»Aubrey wird nicht oft herausgefordert, weil die Leute wissen, daß er mächtig ist, und sie Angst vor ihm haben. Du hast auch Angst vor ihm, obwohl er nicht viel stärker ist als du, wenn überhaupt.«
»Ach ja?« frage ich. Ich glaube ihm nicht. »Dann müssen wir wohl von verschiedenen Aubreys reden, denn das letzte Mal, als ich mit dem gekämpft habe, den ich meine, habe ich nämlich verloren.«
»Du könntest diese Narbe mit einem Gedanken verstecken«, sagt Jager. »Du hast die Macht dazu.«
»Könnte ich«, gebe ich zu. »Ich tue es aber nicht.«
»Du trägst sie wie eine Warnung – als Zeichen, daß du Rache dafür nehmen wirst.«
»Ich werde mehr als nur diese Narbe rächen, Jager.«
»Wann denn?« drängt er mich. »Willst du warten, bis er die Trommel schlägt, oder willst du sie selbst schlagen?«
»Ich töte lieber schweigend.«
Jager sieht mich an und lächelt. »Eine glückliche Jagd, Risika.« Einen Augenblick später ist er verschwunden.
Ich lege mich auf die Theke, denke über seine Worte nach, und dann bin auch ich verschwunden. Wir sind Phantome der Nacht, wir kommen und gehen in der dunklen Stadt wie Schatten im Kerzenlicht.
Ich kehre in unbekümmerter Stimmung in mein Haus zurück und vergesse für den Moment die Vielschichtigkeit von Rache. Ich blicke aus dem Fenster und beobachte die wenigen, die ebenfalls mit der aufgehenden Sonne ins Bett gehen.
Einer von Concords anderen Schatten betritt sein Haus – ein Hexer, allerdings hatte er seine Gabe nur geerbt und nicht erlernt. Er stellt keine Bedrohung für mich dar.
Außerdem sehe ich Jessica, Concords junge Schriftstellerin, die aus ihrem Fenster schaut. Jessica schreibt über Vampire, und ihre Bücher sind wahr, wenn auch niemand ahnt, woher sie weiß, was sie schreibt. Ich überlege, ob ich ihr meine Geschichte erzählen soll – vielleicht könnte sie sie für mich aufschreiben. Vielleicht schreibt sie auch gerade an meiner Geschichte.
Ich gehe nach oben und falle in einen tiefen Vampirschlaf.
Meine Träume sind meine Erinnerungen an die Vergangenheit. Ich träume von den Jahren der Unschuld, als ich mein Dasein als Vampir noch bekämpfte.