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Ich fühlte, wie ich starb. Ich erinnerte mich, daß ich hoffte, wieder aufzuwachen, daß ich irgendwie weiterleben würde, aber dann begriff ich, was das bedeuten würde.
Ich war tot.
Ich warf mich in die Schatten des Todes und verlor mich darin.
Meine Sinne und mein Gedächtnis kamen nur langsam zurück, als ich erwachte. Ich erinnerte mich an einen Todesfall, und ich erinnerte mich, daß ich die Tote gewesen war, aber ich konnte mich nicht erinnern, wer dieses »Ich« war.
Als ich meine Augen öffnen wollte, sah ich nichts als Schwärze. Ich dachte, ich sei blind, und das entsetzte mich. War dies der Tod? Für immer in der Dunkelheit zu schweben, ohne sich auch nur erinnern zu können, wer man einmal gewesen ist?
Bei diesem Gedanken wurde mir klar, daß ich gar nicht schwebte. Nein – ich spürte einen Holzboden unter den Füßen, und ich lehnte gegen eine Wand, die kalt und glatt wie Glas war. Ich tastete blindlings um mich herum, konnte aber sonst nichts entdecken. Hinter mir war die Glaswand und vor mir nur Schwärze.
Ich zwang mich aufzustehen. Obwohl alle meine Muskeln steif geworden waren, konnte ich schon bald stehen.
Ich suchte nach einem Puls und fand nichts. Ich versuchte zu schreien und stellte fest, daß ich keine Luft dafür in meinen Lungen hatte. Kein Herzschlag. Kein Atem. Ich bekam es wieder mit der Angst zu tun. Ich war tot oder etwa nicht?
Wenn nicht, was war ich dann?
Menschen atmen, solange sie leben, selbst wenn sie schlafen oder sich ihres Atmens nicht bewußt sind. Seit ich aufgewacht war, hatte ich keinen einzigen Atemzug gemacht, und bis eben war es mir auch nicht aufgefallen.
Schließlich versuchte ich, tief Luft zu holen, aber durch meine Lungen schoß ein scharfer Schmerz. Er zwang mich in die Knie, dann ließ er langsam nach. Als es mir wieder besser ging, versuchte ich zu sprechen und fragte mich, ob ich mich wohl hören würde. Heißt es nicht, daß die Toten sowohl taub als auch stumm sind? Ich nahm einen weiteren vorsichtigen Atemzug. Dieses Mal traf mich der Schmerz nicht ganz so hart, und ich nutzte die Luft, um in die Dunkelheit zu fragen: »Kann mich jemand hören?« Ich bekam keine Antwort, und ich wollte nicht noch einmal fragen.
Ich versuchte, meine Angst zu ignorieren, während ich die Steifheit aus meinen Gliedern schüttelte und mich zwang, noch einmal zu atmen. Der Schmerz war fast verschwunden, aber meine Rippen fühlten sich immer noch wund an, so als ob die Brustmuskeln lange nicht benutzt worden wären. Ich hatte kein Bedürfnis auszuatmen, und mir wurde auch nicht schwindelig, als ich es nicht tat. Nachdem ich die überflüssige Luft wieder aus meinen Lungen gelassen hatte, war ich fasziniert davon, daß mein Körper mich nicht zum Einatmen drängte.
Ich konnte also hören und fühlen. Ich konnte sprechen. Ich konnte schmecken, und der Geschmack in meinem Mund war süß und entfernt vertraut. Ich leckte an meinen Lippen; dort war er auch. Eine Erinnerung stieg in meinen Gedanken auf, die Erinnerung an Schmerz und Angst. Ich wollte sie nicht, deshalb stieß ich sie weg.
Ich versuchte herauszufinden, ob ich etwas in der Dunkelheit riechen konnte. In der kühlen, stillen Luft lag ein Geruch wie Honig. Bienenwachs? Vielleicht eine Kerze? Ich nahm außerdem den trockenen Geruch von Holz und, noch schwächer, von Glas wahr. Es fiel mir nicht auf, daß ich eigentlich nicht in der Lage sein sollte, Glas zu riechen – kein Mensch kann das.
Unter diesen Gerüchen lag etwas, das ich nicht erkannte – eigentlich gar kein richtiger Geruch, sondern etwas zwischen Geschmack und einem Duft, wie man es manchmal für einen Augenblick im Wind spürt. Oder vielleicht war es der Wind selbst, eine sanfte Bewegung in der Luft. Ich konzentrierte mich auf dieses Gefühl, und obwohl es nicht deutlicher wurde, spürte ich es ganz unmittelbar.
Später lernte ich, daß dieses Gefühl durch die Aura hervorgerufen wurde. Die Aura des Todes – meines Todes – und die eines Vampirs: Ather, meine dunkle, unsterbliche Mutter, die mir gegen meinen Willen dieses Leben gegeben und dadurch mein sterbliches Ich getötet hatte.
Ich versuchte, ein paar Schritte zu gehen, spähte nach einem Weg aus dem dunklen Raum, in dem ich mich befand, und es gelang mir mit überraschender Leichtigkeit. Mein Körper war nicht mehr steif; ich bewegte mich sehr geschmeidig, fast als würde ich mehr schweben als gehen. Das Holz unter meinen Füßen war kühl und glatt.
Ich folgte der Wand, bis ich auf etwas stieß, das nicht aus Glas war – eine Holztür. Ich öffnete sie langsam und blinzelte in das Licht, das mich umgab. Als ich mein Gesicht zur Seite drehte, sah ich das Zimmer, das ich gerade verlassen hatte. Alle Wände waren verspiegelt, mein Spiegelbild fiel hundertfach auf mich zurück. Erstaunen erfüllte mich. Wer auch immer dieses Haus gebaut hatte, er mußte sehr reich sein, um so viel Glas in einem Zimmer zu haben. Und doch gab es nicht ein einziges Fenster – nichts, was Luft oder Licht hereingelassen hätte.
Bezaubert von meinem eigenen Spiegelbild, das ich kaum erkannte, ging ich zurück in das Zimmer. Ich näherte mich der reflektierenden Oberfläche und streckte zögernd eine Hand nach der Fremden aus, die ich dort sah. Ihre Haare waren immer noch so golden wie meine, und ihre Figur war meiner sehr ähnlich, aber ihre Bewegungen waren voller Anmut. Ihre Augen waren schwarz wie die tiefste Nacht, ihre Haut blaß wie der Tod.
»Sieh es dir genau an, Risika«, sagte eine Stimme hinter mir. »Präge es dir gut ein, denn es wird bald verblassen.«
Ich wirbelte zu der Stimme herum. Alles an der Sprecherin war schwarz, von ihren Haaren über ihre Augen bis zu ihrer Kleidung – bis auf ihre unnatürlich helle Haut. Mein erster Gedanke war: eine Hexe. Er rührte von einer vagen Erinnerung aus meinem früheren Leben her, obwohl ich nicht wußte, was dieses Leben gewesen war.
Mein nächster Gedanke war: Ather. Plötzlich erinnerte ich mich an sie – ich erinnerte mich an die dunkle Korona, die ihre Haare um ihre blasse Haut bildeten, und ich erinnerte mich an ihr eisiges Lachen.
Ein Bild schoß mir durch den Kopf. Ich erinnerte mich auch wieder an meinen Tod, aber diesmal reichte meine Erinnerung weiter zurück – Aubrey, der das Messer in seine Scheide steckte, mit dem er gerade jemandem das Leben genommen hatte. Wessen Leben? Ich wußte es nicht und war mir auch nicht sicher, ob ich es wissen wollte.
»Warum hast du mich hierhergebracht?« verlangte ich zu wissen. »Was hast du mit mir gemacht?«
»Komm schon«, sagte Ather. »Du kannst es dir doch sicher denken. Sieh dir mein Spiegelbild an – sieh es dir genau an. Und dann sag mir, was ich mit dir gemacht habe.«
Ich gehorchte und wandte mich wieder dem Spiegel zu. Ich konnte ihr Spiegelbild kaum erkennen. Ihre Gestalt war in dem Glas so fahl, daß ihr schwarzes Haar nur wenig mehr als blasser Rauch zu sein schien.
»Und jetzt betrachte dein eigenes Ebenbild«, wies sie mich an.
Ich tat es. Wieder sah ich auf die Gestalt im Spiegel und fragte mich, ob das wirklich ich sein konnte. Ich hatte ein bestimmtes Bild von mir vor Augen, das in keinster Weise mit dem übereinstimmte, das ich gerade vor mir sah. Wenn es ihm auch sehr ähnelte, war es trotzdem völlig falsch.
»Wer bin ich?« Ich drehte mich zu ihr herum. Ich wußte es wirklich nicht.
»Erinnerst du dich nicht an dein Leben?«
»Nein.« Ein weiteres Lächeln als Antwort auf meine Worte. Ein kaltes Lächeln – wenn Schlangen lächeln könnten, würde es so aussehen.
»Das dachte ich mir«, erwiderte sie. »Deine Erinnerung wird – leider – wiederkommen, aber im Moment...« Sie beendete den Satz mit einem Schulterzucken, als hätte es keine Bedeutung.
»Wer bin ich?« wiederholte ich mit Nachdruck. »Antworte mir.« Ich war wütend, allerdings nicht nur wegen ihrer Gleichgültigkeit. Seit ich aufgewacht war, wirbelten die Gedanken nur so in meinem Kopf umher. Das Gefühl war am Anfang noch recht undeutlich gewesen, aber jetzt wurden die Ränder meines Sichtfeldes langsam rot.
»Warum?« meinte sie. »Es ist nicht mehr wichtig, wer du einmal gewesen bist. Du bist Risika, aus der Blutlinie von Silver.«
»Und wer ist Risika?« beharrte ich, während ich den schmerzvollen Schauder zu ignorieren versuchte, der durch meinen Körper zuckte.
»Sie ist – du bist – ein Vampir«, sagte Ather. Es dauerte einen Moment, bis die Information meinen Verstand erreichte. Ich kannte zwar Wörter wie Hexe und Teufel, aber dieses war mir fremd. Aus der Ferne, aus einer Erinnerung heraus, die nicht ganz deutlich war, sagte jemand: »Dort draußen gibt es Kreaturen, die dich verdammen würden, wenn sie könnten, einfach nur aus Bosheit.«
Ather zählte bestimmt zu den Kreaturen, die diese Person gemeint hatte. Und Aubrey – an ihn erinnerte ich mich auch. Wieder sah ich, wie er sein Messer einsteckte, aber ich konnte mich immer noch nicht erinnern, warum er es aus der Scheide gezogen hatte.
»Du hast mich in einen...« Ich brach ab.
»Weißt du, daß ich deine Gedanken wie ein Buch lesen kann?« fragte Ather lachend. »Du bist sehr jung und noch immer zu einem Teil menschlich. Du wirst bald lernen, deine Gedanken zu verbergen, vielleicht sogar vor mir. Du bist jetzt schon ungewöhnlich stark. Er hat mich davor gewarnt. Hatte er vielleicht Angst, daß du zu stark werden könntest und ich die Kontrolle über dich verliere?«
Ich sagte nichts, ich verstand kaum, wovon sie redete. Mein Kopf dröhnte, als hätte ich einen Schlag dagegen erhalten, und ich konnte mich nur schwer konzentrieren.
Ather schwieg und sah mich an, dann lächelte sie. Dabei konnte ich ihre blassen Fänge sehen, und ich unterdrückte ein Frösteln. »Komm, mein Kind«, sagte sie.
»Du mußt jagen, bevor dein Körper sich zerstört. «
Jagd. Das Wort versetzte mich in Angst und Schrecken. Ich mußte an Wölfe und Pumas denken, an Tiere, die sich im Wald ihre Beute suchen. Blut, das im Boden versickert. So viel Blut...
Jetzt brauchte ich dieses Blut. Ich konnte den scharlachroten Tod deutlich vor mir sehen. Das Blut würde warm und süß sein...
Was geschah nur mit mir? Diese Gedanken waren doch bestimmt nicht meine?
»Komm, Risika«, schnappte Ather. »Der Schmerz wird schlimmer werden, bis du entweder trinkst oder wahnsinnig wirst.«
»Nein.« Ich sprach das Wort fest aus, ohne Zögern und trotz dessen, was ich fühlte. Ich brannte, durch meine Adern lief Staub. Ich dachte an Blut und sehnte mich danach wie nach Wasser an einem langen, heißen Tag. Ich wußte, was Ather meinte, wenn sie von »jagen« sprach, aber ich würde nicht töten, um meinen eigenen Schmerz zu stillen. Ich war schließlich kein Tier. Ich war ein Mensch... Zumindest hoffte ich, daß ich ein Mensch war. Was hatte Ather mir nur angetan?
»Risika«, erklärte sie mir, »wenn du nicht trinkst, wird das Blut, das ich dir gegeben habe, dich töten.« Sie versuchte nicht, mich zu überreden, sie stellte nur die Fakten dar. »Es wird ein paar Tage dauern, bis du wirklich tot bist, aber morgen bei Sonnenuntergang wirst du schon zu schwach sein, um selbst zu jagen, und ich werde dich nicht füttern. Jagen oder sterben – eine andere Wahl hast du nicht.«
Ich zögerte, während ich mir den Kopf zermarterte. Ich sollte nicht jagen, und dafür gab es einen guten Grund. Jemand, den ich kannte, hätte sich dem entgegengestellt, jemand, den ich liebte, an den ich mich aber nicht erinnern konnte... Es gelang mir einfach nicht. Mir wollte nur ein einziger Grund einfallen, den auch die Prediger mir mein ganzes Leben lang eingetrichtert hatten: weil Töten Sünde war.
Aber aus freiem Willen zu sterben war genauso eine Sünde. Vielleicht war ich bereits verdammt.
»Dummes Kind«, sagte Ather. »Sieh dich im Spiegel an und sage mir, daß deine Kirche dich nicht für das, was du bist, verdammen würde. Willst du etwa das Leben, das ich dir geschenkt habe, aufgeben, nur um die Seele zu retten, die dein Gott verdammt hat?«
»Ich werde meine Seele nicht verkaufen, um mein Leben zu retten«, sagte ich, obwohl ich mir dessen gar nicht so sicher war. Meine Kirche war kalt und streng, aber ich fürchtete das Nichts eines seelenlosen Todes ebensosehr wie die Flammen der Hölle. Und vielleicht hatte sie recht. Vielleicht war es bereits zu spät. »Nein«, wiederholte ich, in dem Bemühen, eher mich zu überzeugen als Ather. »Das werde ich nicht tun.«
»Tapfere Worte«, sagte Ather. »Was, wenn ich dir sage, daß es keine Rolle spielt?« Sie flüsterte jetzt, als könnte das ihre Worte in meinen Geist meißeln. Es funktionierte. »Du hast den Pakt mit dem Teufel geschlossen, als dein Blut auf mein Geschenk fiel.«
In meiner Erinnerung erlebte ich die Szene noch einmal. Eine schwarze Rose, deren Dornen scharf wie die Fänge einer Viper waren. Ein Blutstropfen, der auf die schwarze Blume fällt. Schwarze Augen, Athers so ähnlich, nur unendlich viel kälter, beobachten wie eine Schlange das tropfende Blut. Wie eine Viper, wie die Dornen der Rose, als hätte er mich gebissen...
Mein Geist füllte sich mit dunklen Bildern und noch dunkleren Gedanken an Schlangen und jagende Tiere und rotes Blut, das auf schwarze Blütenblätter fällt. Mein Herz war erfüllt von Schmerz und Zorn und Haß und dem schwarzen Blut, das mich verdammt hatte.