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Heute

 

 
 

  Seit dieser Nacht trinke ich regelmäßig, damit ich nie wieder die Beherrschung verlieren muß. Aubrey hat sein Ziel wie immer erreicht.

  Meine Wut auf Aubrey verwandelt sich in Groll gegen mich selbst. Damals wie heute hat er meine Gefühle gegen mich benutzt.

  Warum läßt du zu, daß er dich so in Rage bringt? frage ich mich. Du weißt genau, daß er es absichtlich macht. Warum stört es dich immer wieder?

  »Feigling«, sage ich laut zu mir. »Das ist alles – du bist ein Feigling. Du trägst diese Narbe seit dreihundert Jahren, und du hast nie etwas unternommen. Du kannst dich nicht einmal lange genug beherrschen, um vernünftig zu denken!«

  Mir wird klar, daß ich mich trotz all meiner Worte immer noch an einen Teil meiner Menschlichkeit geklammert habe.

  Seit dreihundert Jahren gehe ich ihm aus dem Weg und weigere mich zu kämpfen. Als ich noch ein Mensch war, wurde ich von meinem Vater und der Kirche beherrscht. Jetzt beherrscht Aubrey mich, und ich wehre mich nicht dagegen, weil ich die Konsequenzen fürchte. Ich würde möglicherweise sterben, aber das war nie meine eigentliche Angst. Wenn ich ihn zum Kampf herausfordern würde, wäre das nur ein Zeichen dafür, daß ich genau das Monster bin, von dem ich so lange vorgegeben habe, es nicht zu sein – und davor fürchte ich mich.

  Vor wem will ich mich eigentlich rechtfertigen? Alexander war früher mein Glaube. Er klammerte sich an seine Moralvorstellungen, selbst als er glaubte, daß er verdammt wäre, und ich habe dasselbe versucht. Warum eigentlich? Alexander ist tot, und niemand sonst interessiert sich dafür.

  Warum also? Wozu die ganze Mühe? frage ich mich. Du bist seit fast dreihundert Jahren kein Mensch mehr, hör endlich auf, so zu tun, als wärst du einer.

  Was hast du schon zu verlieren?

  Ich ziehe das schwarze, ärmellose T-Shirt aus und ein goldenes an, das über dem Bund der schwarzen Jeans einen Streifen nackter Haut zeigt. Meine Stimmung wechselt wie die Schatten in einer Kerzenflamme, und jetzt bin ich verspielt. Ich zeichne die wie ein auf der Seite liegendes Glas geformte Rune des Spiels in die Luft, an die ich mich von irgendwo aus der fernen Vergangenheit erinnere: Perthro, für diejenigen, die willens sind, alles auf eine Karte zu setzen.

  Ich bin in einer weit zerstörerischeren, tollkühneren Stimmung als je zuvor. Mir fallen Geschichten ein, die man sich über Jager erzählt – wie er zur Zeit der Griechen schamlos mit den Jungfrauen von Hestia geflirtet hat, wie er um Mitternacht mit den Feen bei Vollmond getanzt hat und wie er die Seance einer Gruppe moderner Geisterbeschwörer aufgepeppt hat, indem er die gerufenen Elemente tatsächlich erscheinen ließ. Ich bin genau in dieser Stimmung. Ich habe nichts mehr zu verlieren, und ich will endlich etwas verändern. Etwas zerstören.

  Ich drehe den Spiegel von mir weg. Ich weiß, was ich sehen würde, wenn ich hineinblickte.

 
 

  Ich bringe mich in eine kleine Stadt im Norden von New York, die tief im Wald verborgen liegt, jenseits der menschlichen Blicke, eine Stadt, die Neuchaos heißt. Neuchaos – das Chaos, das Ather mir vor dreihundert Jahren zeigte, wurde wenige Jahre, nachdem ich dort war, von einem Feuer fast vollständig zerstört.

  Ich war schon einige Male in Neuchaos, aber ich bin die einzige meiner Blutlinie, die nicht innerhalb ihrer Grenzen schläft. Aubrey hat sich hinter den Mauern von Neuchaos sein Zuhause eingerichtet, deswegen habe ich meines immer woanders gesucht.

  Auch mit den neuen Hotels, die die Sterblichen beherbergen, mit den neuen Bars, den neuen Fitneßcentern und den gepflasterten Straßen ist Neuchaos immer noch eine unsichtbare Stadt. Der Barkeeper fragt niemanden nach seinem Ausweis, das Hotel hat keine Unterlagen darüber, wer kommt und geht, und der Nachtclub ist so seltsam wie eine Eisbahn in der Hölle. Niemand kommt je hierher, niemand ist je hier, niemand geht je fort – oder jedenfalls gäbe es keine Möglichkeit, dies zu beweisen, wenn man nach Quittungen oder Rechnungen oder Kreditkartennummern oder sonst irgendeinem schriftlichen Beleg suchen würde.

  Das Herz von Neuchaos ist ein großes Gebäude, auf dessen Wand ein Dschungel gemalt ist. Um den Türrahmen pulsiert ein leuchtendes rotes Licht, das aus dem Innern des Clubs kommt. Dorthin gehe ich, ohne mehr als einen flüchtigen Blick   auf den Namen über der Tür zu werfen: Las Noches.

  Die rote Stroboskoplampe ist das einzige Licht im Las Noches, und es taucht den Raum in wirbelnde, blutige Schatten. Nebel bedeckt den Boden. Die Wände sind rundum verglast, Spiegel zum größten Teil, aber an manchen Stellen sind Augen unter die Spiegel gemalt. Die Tische sind aus poliertem schwarzem Holz und sehen aus wie satanische Pilze, die aus dem Nebel wachsen. Aus einem Lautsprecher irgendwo an der Decke hämmert laute Musik, deren Bässe tief genug sind, um die Körper im Takt der Musik vibrieren zu lassen.

  Hinter der Theke, die ebenfalls aus schwarzem Holz ist, steht ein schwarzhaariges Mädchen namens Rabe, die zu den menschlichen Einwohnern von Neuchaos gehört. So früh am Abend sind die Gäste noch gemischt – sogar mehr Menschen als Vampire –, aber Rabe arbeitet auch hier, wenn nur Vampire anwesend sind.

  Ich drehe Rabe den Rücken zu und suche den Raum nach der einen Person ab, wegen der ich hier bin. Ich sehe ihn an einem Tisch bei einem menschlichen Mädchen sitzen, obwohl sie sich nicht zu unterhalten scheinen. Ich gehe entschlossen auf die beiden zu, ignoriere das Mädchen und setze mich auf den Tisch. Stühle? Nicht für mich, vielen Dank.

  Aubreys Augen weiten sich, zweifellos fragt er sich, seit wann ich so mutig bin. Ich werfe keinen einzigen Blick auf das Mädchen, aber ich weiß, daß sie noch immer am Tisch ist. Sie sitzt sehr still, aber ich kann ihren Atem und ihren Herzschlag hören.

  »Risika, warum sitzt du auf dem Tisch?« fragt Aubrey schließlich.

  »Warum nicht?«

  »Es gibt hier Stühle«, bemerkt er. Das Mädchen hinter mir steht auf und bewegt sich langsam und vorsichtig von mir weg, als könnte ich sie packen, wenn ich sie bemerkte. Beinahe lache ich. Ich lächele bereits – das langsame, träge, schelmische Lächeln einer Katze.

  »Sieht so aus, als würde deine Verabredung gerade gehen, Aubrey«, stelle ich fest, und das Mädchen erstarrt. »Hat sie vor mir etwa mehr Angst als vor dir?«

  »Geh jetzt, Christina«, sagt Aubrey zu dem verängstigten Mädchen, das eilig davonstürzt.

  »Du hast einfach keine Klasse, Aubrey.«

  Er runzelt bei meinen Worten einen Moment die Stirn, beschließt dann aber, sie zu ignorieren. »Ich habe noch gar nichts zu deiner neuen Frisur gesagt, Risika. Sie erinnert mich an dieses stumpfe Tier im Zoo.«

  »Mir ist aufgefallen, daß du sie gefesselt hast, bevor du sie getötet hast. War die Tigerin etwa eine Nummer zu groß für dich? Wärst du am Ende sonst nicht mit ihr fertig geworden?«

  Wir beherrschen dieses tödliche Spiel perfekt, jeder von uns schlägt den anderen, ohne ihn zu berühren – und das Spiel ist wirklich tödlich. Wer wird zuerst die Beherrschung verlieren? Wer wird zuerst körperlich zuschlagen?

  »Risika, es gibt keine Kreatur, mit der ich nicht fertig werde«, sagt Aubrey.

  »O mutiger Aubrey«, sage ich. »Rette uns vor den schutzlosen Tieren!«

  Er versetzt mir einen Stoß gegen die Schulter. Die Bewegung überrascht mich und fegt mich vom Tisch. Dann steht er auf. Bislang hat er noch keine Waffe gezogen.

  Ich sitze auf dem Boden in dem Nebel und lache. »Du Idiot«, sage ich. »Du vollkommener Idiot.«