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  Nach dem Tag, an dem ich meine sterbliche Seele verloren hatte, kehrte ich nie wieder in mein altes Zuhause zurück. Mir wurde klar, daß ich nicht länger dort hingehörte. Ich verabscheute den Gedanken an das, was mein Vater durchmachen mußte, aber viel schlimmer war die Vorstellung, daß er eines Tages erfuhr, was aus mir geworden war. Er sollte denken, daß ich tot sei. Immerhin war es besser für ihn zu glauben, daß ich einfach verschwunden war, als zu wissen, daß er seine Tochter an einen Dämonen verloren hatte.

  Ich konzentrierte mich auf eines der wahren Ungeheuer – einen der zahlreichen Hexenjäger, die die angeklagten Gefangenen verhörten und nach Schuld suchten, wo keine war.

  Wie Menschen ihren Mitmenschen solche Dinge nur antun können, begreife ich nicht. Sie foltern, verstümmeln und töten ihre eigene Rasse und behaupten, es wäre der Wille Gottes.

  Ich versuche schon lange nicht mehr, die Menschen zu verstehen. Vielleicht bin ich einfach nur scheinheilig. Wir Vampire sind uns selbst gegenüber oft genug ebenso grausam. Wir sind nur direkter. Wir müssen niemandem die Schuld für unsere Grausamkeit geben. Wenn ich Aubrey umbringe, dann deshalb, weil ich ihn hasse, und nicht, weil er schlecht oder ein Mörder ist oder aus irgendeinem anderen moralischen Grund. Ich werde es tun, weil ich es will, oder ich werde es nicht tun, weil ich es nicht will.

  Oder ich werde es nicht tun, weil er mich zuerst tötet, womit ich am ehesten rechne.

 
 

  Kurz nach meiner Verwandlung brachte ich mich eine Zeitlang in die Appalachia- Berge. Ich hatte zwar schon von ihnen gehört, sie aber noch nie gesehen. Nachts in den Bergen zu sein war unglaublich. Ich war eine junge Frau allein in der Wildnis. Als Mensch wäre mir dies nicht möglich gewesen. Ich lag in einem Baum, lauschte den Geräuschen des Waldes und dachte an überhaupt nichts.

  »Ather sucht dich«, sagte jemand neben mir, und ich sprang auf den Boden. Meine Beute lag direkt neben dem Baum. Ich hatte sie mit hierhergenommen, bevor ich getrunken hatte, um Störungen zu vermeiden.

  Ich ging auf die Stimme zu. Es war Aubrey.

  »Sag Ather, daß ich sie nicht sehen will«, sagte ich zu ihm.

  Aubrey hatte etwas anderes an als bei unserer letzten Begegnung und konnte nicht länger mit einem Menschen verwechselt werden. Auf seine linke Hand war eine grüne Viper gemalt, und er trug eine dünne Goldkette um den Hals, an der ein goldenes Kreuz hing. Das Kreuz stand auf dem Kopf.

  Er hielt sein Messer in der linken Hand. Die silberne Klinge war sauber, scharf und schrecklich tödlich, genau wie seine perlweißen Schlangenzähne, die im Moment nicht zu sehen waren.

  »Sag es ihr selbst – ich bin nicht dein Botenjunge«, zischte er.

  »Nein, du nimmst nur Befehle von Ather entgegen wie ein braver kleiner Schoßhund.«

  »Niemand gibt mir Befehle, mein Kind.«

  »Außer Ather«, entgegnete ich. »Sie schnippt mit den Fingern, und du springst. Oder suchst oder tötest.«

  »Nicht immer... ich mochte deinen Bruder bloß nicht«, antwortete Aubrey lachend. Aubrey lächelt nur, wenn er in zerstörerischer Stimmung ist. Ich wollte ihm jeden Zahn aus diesem Lächeln schlagen und ihn sterbend im Dreck liegenlassen.

  »Du lachst?« fragte ich. »Du hast meinen Bruder ermordet und lachst darüber?«

  Er lachte wieder. »Wer war denn der Kadaver auf dem Boden hinter dir, Risika?« spottete er. »Hast du je danach gefragt? Wer hat ihn geliebt? Wessen Bruder war er? Du bist ohne jeden Gedanken an ihn über seine Leiche gestiegen. Über die Leiche – ohne jeden Respekt, Risika. Du würdest seinen Körper ohne ein Gebet hier liegenlassen, als Fressen für die Geier. Wer von uns beiden ist hier das Monster, Risika?«

  Seine Worte trafen mich, und ich versuchte mich zu rechtfertigen. »Er...«

  »Er hat es verdient?« beendete Aubrey meinen Satz. »Bist du jetzt Gott, Risika, und entscheidest, wer lebt und wer stirbt? Die Welt hat Klauen und Zähne; du bist entweder die Jägerin oder die Beute. Niemand verdient es, zu sterben oder zu leben. Die Schwachen sterben, die Starken überleben. Das ist alles. Dein Bruder gehörte zu den Schwachen. Es ist seine eigene Schuld, daß er tot ist.«

  Ich schlug ihn. Ich war eine junge Dame, die nie gelernt hatte zu kämpfen, aber in diesem Augenblick bestand ich nur noch aus Wut. Ich schlug ihn so hart, daß sein Kopf auf die Seite flog und er stolperte. Er richtete sich wieder auf, und jeder Rest von Humor war von seinem Gesicht verschwunden.

  »Vorsicht, Risika.« Seine Stimme war eisig, sie würde auch das tapferste Herz frösteln lassen, aber ich war zu wütend, um es zu bemerken.

  »Rede nicht so von meinem Bruder.« Meine Stimme zitterte vor Zorn, und meine Hände verkrampften sich. »Nie.«

  »Oder was?« fragte er gelassen. Seine Stimme war ruhiger, noch kälter geworden, und er stand so unbeweglich wie ein Stein. Ich spürte seine Wut wie eine Decke um mich herum. In diesem Moment wußte ich, daß niemand, der Aubrey je bedroht hatte, noch am Leben war.

  Es gab für alles ein erstes Mal.

  »Oder ich werde diese Klinge in dein Herz stoßen, und du wirst nie wieder reden«, antwortete ich.

  Er warf das Messer so auf den Boden, daß sich die Klinge einen Zentimeter vor meinen Füßen in den Boden bohrte.

  »Versuch es.«

  Ich kniete mich langsam und wachsam hin, um das Messer aufzuheben, ohne die Augen von Aubrey abzuwenden, der mich mit eisiger Ruhe beobachtete. Ich wußte nicht, was er tun würde, aber ich wußte, daß er sich nicht einfach töten lassen würde. Und doch stand er da, schweigend, bewegungslos und mit einem leicht spöttischen Gesichtsausdruck und tat nichts.

  »Also, Risika?« hakte er nach. »Du hast gesagt, daß du es tun würdest. Du hast das Messer. Ich stehe unbewaffnet vor dir. Töte mich!«

  Wenn ich ihn doch nur damals getötet hätte... Wenn ich doch nur fähig gewesen wäre, ihn zu töten...

  »Du kannst es nicht«, sagte er schließlich, als ich mich nicht rührte. »Du kannst mich nicht töten, wenn ich wehrlos bin, weil du noch immer wie ein Mensch denkst. Das mußt du noch lernen – so funktioniert die Welt nicht.«

  Er packte mein Handgelenk mit einer Hand und meine Kehle mit der anderen. Das Messer war nutzlos.

  »Ather redet von dir, als wärest du stark. Aber du bist genauso schwach wie dein Bruder.«

  Ich habe nie gekämpft. Ich war auch nie gewalttätig. Aber in der Natur geht es ums Überleben, und der Körper besinnt sich auf seine tiefverborgenen Wurzeln. Entweder man paßt sich an, oder man ist so gut wie tot. Ich paßte mich an.

  Ich befreite mein Handgelenk aus Aubreys Griff und stieß seine Hand weg. Das Messer fiel auf den Boden, von uns beiden unbeachtet. Mein Handgelenk war gebrochen, aber ich spürte den Schmerz kaum – Vampire sind nicht schmerzempfindlich, und die Verletzung heilte schnell.

  Ich fühlte ein Brennen und sah deshalb Aubreys nächsten Angriff nicht. Er sprang mich an und stieß mich zu Boden. Ich trat mit aller Kraft nach seiner Kniescheibe, und sie brach. Er zischte vor Wut und Schmerz und stürzte neben mich. Ich stemmte mich langsam hoch, aber der Schmerz schoß durch meine Arme und meinen Rücken.

  Wenn Vampire kämpfen, sieht es vielleicht so aus, als würden sie dies mit ihren Körpern tun. Aber wenn sie so stark wie meine Blutlinie sind, wird der größte Schaden im Geist angerichtet. Ein Vampir kann mit seinen Gedanken schlagen und so einen Menschen töten, ohne ihn auch nur zu berühren. Es ist schwieriger, einen anderen Vampir zu töten, aber die Kämpfer können sich ablenken und gegenseitig behindern. Ich war noch sehr jung und wußte nicht, wie man richtig kämpft. Ich lag auf der Erde und konnte mich vor Schmerzen nicht mehr aufrichten.

  Aubrey war in Sekunden über mir. Er legte eine Hand auf meine Kehle und preßte meinen Rücken auf den Boden. Sogar verletzt war er viel stärker als ich.

  Er hatte sich das Messer geholt und hielt es gegen meinen Hals.

  »Vergiß meine Worte nicht, Risika – ich empfinde keine Liebe für dich. Ich halte dich für schwach, und ich kann mit deinen Moralvorstellungen nichts anfangen. Wenn du mich noch einmal angreifst, wirst du verlieren.«

  Ich spuckte ihm ins Gesicht. Er zog das Messer über meine linke Schulter, von der Mitte meines Halses über die Vertiefung zwischen den Schlüsselbeinen bis zu meinem linken Oberarm. Ich keuchte. Es brannte wie Feuer und tat mehr weh als alles, was ich je gefühlt hatte.

  Die meisten von Menschenhand gefertigten Klingen können uns nicht verletzen, aber Aubreys Messer war kein solches. Magie – in Ermangelung eines besseres Wortes – war tief in das Silber eingebettet. Ich erfuhr später, daß Aubrey das Messer in seinem dritten Jahr als Vampir einem Vampirjäger weggenommen hatte.

  Der ursprünglicher Besitzer war zum Vampirjäger ausgebildet worden, aber er hatte trotzdem gegen Aubrey verloren.

  Aubrey verschwand, während ich noch immer auf dem Boden lag und darauf wartete, daß der Schmerz nachließ. Wäre das Messer von einem Menschen gewesen, wäre die Wunde in Sekunden geheilt, aber so dauerte es eine ganze Weile, bis mein Körper den Schmerz kontrollieren konnte.

  Nachdem der Schmerz von rasend zu schlicht unerträglich abgeklungen war, setzte ich mich langsam auf und fuhr vorsichtig mit einem Finger die Schnittwunde nach. Es hatte bereits aufgehört zu bluten, aber die Wunde schloß sich erst vollständig, als ich wieder getrunken hatte. Und sie hinterließ eine dicke Narbe. Meine Haut war bereits so fahl, daß nur eine blasse, perlenfarbene Linie zurückblieb, aber ich wußte, wo sie war, und ich konnte sie gut sehen.

  Irgendwie, wenn ich auch nicht genau wußte, wie, und irgendwann, wenn ich auch den Tag nicht kannte, würde ich diese Narbe und alles, für das sie steht, rächen: Alexanders Tod, den Tod meines Glaubens an die Menschheit und den Tod von Rachel, der unschuldigen Rachel, eines Menschen mit Illusionen.

  Vampire können ewig leben. Ich würde also viel Zeit und viele Gelegenheiten haben, meinen Schwur zu halten.