7
Heute
Ich habe nie zuvor und niemals wieder einen solch seelenzerreißenden, das Bewußtsein zerbrechenden Schmerz erfahren wie in jener Nacht. Ich habe den Geist williger Jungvampire erforscht, doch ich habe nie einen Spiegel meines Schmerzes gefunden. Die Stärke meiner Blutlinie hat ihren Preis, und der Preis war offensichtlich dieser Schmerz. Es hat uns alle verändert. Man kann nicht bewußt seinen eigenen Tod erleben und davon unberührt bleiben.
Vielleicht war daß das Schlimmste. Oder vielleicht kommt der schlimmste Teil meiner Geschichte erst noch.
Die Bilder aus meiner Vergangenheit verweilen in der Gegenwart. Alexanders Gesicht schwebt in meinem Kopf umher, und ich kann es nicht vertreiben. Meine beiden Leben haben nichts gemeinsam, und doch fühle ich mich, wie ich so hier in diesem Haus stehe, als wäre ich irgendwie in die Vergangenheit transportiert worden, zurück in die Zeit, als mein Bruder noch lebte.
Auf der Suche nach Ablenkung bringe ich mich nach New York City. Ich verwandle mich jedoch nicht in einen Falken. Ich bringe mich einfach mit dieser Fähigkeit, über die nur wir verfügen, in die Stadt – die Fähigkeit, sich genau für den Augenblick, den die Reise dauert, in reine Energie, reinen Ather zu verwandeln. Ein Gedanke, und ich bin in weniger als einer Sekunde am Ziel.
Als ich so durch die Gassen schlendere, umgebe ich meine Aura automatisch mit einem Schutzschild, schließlich will ich meine Anwesenheit nicht ankündigen. Dann trete ich durch die zerkratzte Holztür des Ambrosia, einem der vielen Vampirclubs der Stadt. Dieser Ort gehörte einst einem anderen Schützling von Ather, einem Vampir namens Kala. Aber Kala wurde von einem Vampirjäger getötet. Ja, es gibt sie wirklich, Hexen und sogar Menschen jagen uns sehr oft. Ich weiß gar nicht, wem der Club seit Kalas Tod gehört.
Das Ambrosia ist ziemlich klein und sieht wie ein typisches Café aus – jedenfalls, wenn der Club Fenster hätte und es mehr Licht gäbe als die einzelne Kerze in der Ecke. Ich kann in dem Dämmerlicht natürlich gut sehen, aber ein Mensch wäre im Ambrosia nahezu blind.
Am Tresen steht einer meiner Artgenossen. Ich kenne ihn allerdings nicht. Sein Kopf liegt auf der Theke, und seine Haut ist fast grau. Als ich hereinkomme, sieht er nicht einmal in meine Richtung, obwohl er den Kopf lange genug hebt, um das Glas zu leeren, das vor ihm steht. Er leckt sich das Blut von den Lippen, während ein Schauder durch seinen zerstörten Körper läuft.
»Wer hat dir das angetan?« frage ich ihn neugierig. Es gibt keine Krankheit auf dieser Erde, die wir bekommen können, und fast kein Gift, das uns schadet. Daher wundere ich mich, daß er so krank aussieht.
»Ein verdammter Triste«, knurrt der Fremde. »Er war im Café Sangra. Ich habe nicht einmal bemerkt, daß er kein Mensch ist.«
Ich frage mich, was Aubrey wohl tun würde, wenn er wüßte, daß ein Triste- Hexer im Café Sangra war.
Die Tristes sind den Menschen sehr ähnlich. Ihre Auren fühlen sich gleich an.
Ihre Herzen schlagen, und sie atmen. Sie müssen essen wie die Menschen. Außerdem schmeckt ihr Blut genauso wie das eines Menschen.
Und dennoch sind sie kein bißchen menschlich. Wie wir Vampire sind die Tristes unsterblich. Sie altern nicht, und ihr Blut ist für uns giftig. Dieser Junge, der versehentlich an einen von ihnen geriet, hat Glück gehabt, daß er nicht viel getrunken hat, sonst wäre er schon tot.
»Seit wann duldet Aubrey Tristes in seinem Revier?« frage ich. Die beiden Arten – Vampire und Tristes – sind normalerweise verfeindet. Das Wort Triste kann man fast als Synonym für Vampirjäger benutzen.
»Tut er gar nicht. Ich trank«, antwortet er und windet sich ein wenig. »Und dann lag ich plötzlich mit einem gebrochenen Arm auf dem Boden. Aubrey stieß mich von dem Hexer weg, als wäre ich eine Puppe. Die beiden fingen an zu streiten, und er warf den Hexer hinaus. Aber auf dem Weg nach draußen gab er mir noch dies hier.« Er hielt ein zusammengefaltetes Stück Papier in die Luft. »Er meinte, ich solle es einem Schützling von Ather geben.«
Er fügt hinzu: »Ather hat nicht zufällig einen Schützling namens Rachel?«
»Was?« frage ich keuchend. Ich bin die einzige von Athers Schützlingen, die jemals diesen Namen trug, und nur Ather und Aubrey kennen ihn.
»Er sagte: ›Gib das Rachel, Athers Schützlinge.‹«
Ich will das Papier nicht annehmen. Ich will auf einmal auch gar nicht mehr wissen, was daraufsteht. Rachel war menschlich, schwach, ein Opfer. Aubrey allein darf mich so nennen. Außer Ather kennt nur er all die Erinnerungen, die damit verbunden sind, und nur er würde versuchen, mich damit zu verletzen.
›Ich bin nicht Rachel, und ich kann nie wieder Rachel sein‹, denke ich. ›Rachel ist tot.‹
Ich verlasse das Ambrosia ohne ein weiteres Wort. Ich bin so wütend, daß sich alles um mich herum dreht. Ich bin Aubrey seit meinem Tod nur zweimal begegnet, und beide Male sind schon sehr lange her. Bis vor kurzem habe ich ihn gemieden wie schlechtes Blut.
Als ich im Morgengrauen zu meinem Haus zurückkehre, steht einer von Aubreys Dienern in meinem Garten. Dies hier ist meine Stadt, und ich toleriere keine anderen Vampire – und auch nicht deren Diener – in meinem Garten. Das gilt ganz besonders für Aubrey, denn er würde alles an sich reißen, was mir gehört, wenn ich es zuließe.
Ich nehme keinen halben Meter vor dem Eindringling meine menschliche Gestalt an und drücke ihn gegen die Häuserwand.
»Was willst du?« frage ich scharf.
»Aubrey hat mich...«
Ich habe keine Geduld und suche in seinen Gedanken nach den Informationen, die ich haben will. Aubrey hat ihn geschickt, um mich noch einmal zu warnen. Wenn Aubrey selbst gekommen wäre, hätten wir gekämpft, und obwohl ich weiß, daß er keine Angst hat, mich herauszufordern, kann ich mir einen neuen Kampf zwischen uns nicht vorstellen, ohne daß einer von uns beiden stirbt.
»Richte ihm aus, daß ich jage, wo es mir gefällt«, sage ich zu dem Menschen.
»Und ich werde jeden weiteren Diener töten, der mir zu nahe kommt.« Es ist sehr gefährlich, einem anderen Vampir eine solche Nachricht zu schicken. Was ich gesagt habe, kommt einer Herausforderung, die ich eigentlich vermeiden will, schon sehr nahe – aber so sei es. Wenn ich muß, werde ich heute nacht mit Aubrey auf dünnem Eis tanzen. Es ist mir egal, ob ich diejenige sein werde, die durch das Eis fällt, wenn es bricht.
Ich lasse den Menschen in der Tür stehen und gehe auf mein Zimmer.