10

 


 

1701

 

 
 

  Ather führte mich aus dem Haus, und ich hatte keine andere Wahl, als ihr zu folgen. Das fahle Mondlicht belebte meinen Geist ein wenig, aber meine Sicht war immer noch rot an den Rändern, und mein Kopf dröhnte.

  Ich hatte keine genaue Vorstellung mehr von der Person, die ich gewesen war, aber ich wußte noch, was eine Stadt und ein Haus waren. Und alles, was ich um mich herum sah, paßte irgendwie nicht zusammen.

  Athers Haus stand weit von der Straße entfernt am Waldrand. Nach einer Weile wurde mir bewußt, was mich daran störte: Das Haus war schwarz gestrichen und hatte weiße Fensterläden, genau wie das daneben. Ich hatte das Gefühl, als sei alles umgekehrt, wie bei den schwarzen Messen, von denen man mir erzählt hatte, in denen die Ausgeburten des Teufels die Gebete rückwärts aufsagten. Dies hier war dasselbe. Vollkommen falsch.

  »Wo sind wir?« fragte ich endlich.

  »Dieser Ort existiert nicht wirklich«, antwortete Ather. Ich verstand nicht und runzelte die Stirn. Sie seufzte vor Ungeduld über meine Unwissenheit. »Diese Stadt heißt Chaos. Sie ist so massiv wie die Stadt, in der du aufgewachsen bist, aber sie gehört einzig und allein uns, und niemand außerhalb weiß, daß es sie gibt. Hör endlich auf, über Dinge nachzudenken, die nicht wichtig sind, Risika. Du mußt trinken.«

  Du mußt trinken. Ich schloß für einen Moment die Augen, um das brennende Gefühl wegzublinzeln. Ich schüttelte den Kopf, aber der Schmerz wollte nicht nachlassen. Würde ich etwa töten müssen, um ihn zu stillen? Ich wollte nicht töten. Aber ich wollte auch nicht sterben, und dennoch wollte ich auch nicht töten... Was geschah wohl mit den Verdammten, wenn sie starben?

 

  »Nein«, sagte ich erneut, obwohl es dieses Mal weder in meinen Ohren noch in meinem Geist etwas bedeutete. Denken war einfach unmöglich. Ich wußte nur, daß ich nicht töten wollte, aber ich konnte an nichts anderes als an Blut denken... rotes Blut auf schwarzen Blüten und Dornen und Zähne wie die Fänge einer Giftschlange...

  Der Schmerz war sehr stark, und meine Gedanken wirbelten durcheinander. Ather klang so sicher, so ruhig.

  »Komm, mein Kind«, sagte sie beruhigend. »Du kannst von einer der Hexen trinken, die auf den Tod warten, wenn das dein Gewissen beruhigt. Sie sind sowieso zum Tode und zu Schlimmerem verurteilt.«

  Ein Schauder durchfuhr meinen Körper, und der Schmerz in meinen Augen und meinem Kopf wurde schlimmer. Meine Hände waren taub.

  Ich weiß nicht mehr, ob ich genickt habe. Ich nehme es an.

  Im nächsten Moment war ich mit zwei der angeklagten Hexen in einer kalten, dunklen Zelle eingesperrt. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich dort hingekommen bin, aber ein Teil von mir wußte, daß Ather uns beide mit ihren Gedanken bewegt hatte. Sie erschien einen Augenblick später neben mir.

  Ein dumpfer Rhythmus erfüllte den Raum, und es dauerte einen Moment, bis ich begriff, daß es der Herzschlag der beiden Frauen war, die mit uns in der Zelle saßen. Eine von ihnen schrie auf, als sie uns sah, die andere bekreuzigte sich. Von ihnen ging ein scharfer Angstgeruch aus, und obwohl ich ihn noch nie zuvor gerochen hatte, erkannte ich ihn wie ein Wolf.

  Die angeklagten Hexen wichen vor uns zurück, eine betete dabei das Vaterunser, die andere schrie unaufhörlich. Aber die Zelle war zu klein, als daß sie uns entkommen konnten. Ich hörte das Gebet kaum.

  Ich war mir nur ihres Herzschlags und des Pulses in ihren Handgelenken und Hälsen bewußt. Ich hörte nichts anderes, sah nichts anderes. Ich sah wie durch einen roten Nebel, und in meinem Kopf drehte sich alles.

  Trinke reichlich. Ich erkannte Athers Stimme in meinem Geist. Sie lächelte mir zu, und ihre Fänge blitzten auf. Ich strich abwesend mit meiner Zunge über meine Zähne und bemerkte, daß sie genauso waren – zu scharf und zu lang, sie gehörten nicht in einen menschlichen Mund. Ich spürte, wie ihre Spitzen gegen meine Unterlippe drückten.

 

  Ather ging auf die immer noch schreiende Frau zu, die plötzlich still und schlaff wurde, als wäre sie eingeschlafen. Ather bog ihren Kopf zurück und legte ihren Hals frei. Athers rasiermesserscharfe Zähne bohrten sich durch die Haut der Frau, und der Geruch von Blut erfüllte den Raum.

  Da verlor ich plötzlich jedes Gefühl für Sünde und Mord.

  Ich verlor alles, was einst Rachel gewesen war. Ich wandte mich zu der anderen Frau, deren Gebet in ein Stammeln übergegangen war. Ich trank.

 
 

  Ich schmeckte ihr ganzes Leben, während es in mich floß. Athers Blut war kühl gewesen und hatte nach Unsterblichkeit geschmeckt. Dieses menschliche Blut war dick und heiß, es kochte vor Leben und Energie. Es benetzte meinen ausgedörrten Mund und kühlte mein Fieber, und ich trank es wie heilende Ambrosia.

  Die Gedanken schössen wie Blitze durch meinen Geist, zu schnell, als daß ich sofort begriff, daß es nicht meine eigenen waren. Nach einem Augenblick, als ich sie wieder unter Kontrolle hatte, wurde mir klar, daß sie von meinem Opfer stammten. Ich sah ein lachendes Kind vor mir. Es rief seine Mutter, um ihr eine Blume zu zeigen. Ich sah kochendes Essen auf dem Herd. Ich sah eine Hochzeit. Ich sah eine Messe am Morgen. Meine Gedanken konzentrierten sich auf dieses letzte Bild.

  Ich konnte den Geist dieser Frau deutlich lesen, und sie war jeder Form der Hexerei unschuldig. Diese Erkenntnis bewirkte mehr als alles andere eine völlige Veränderung in mir. Man hatte diese Frau zum Sterben hierhergeschickt, und dabei hatte sie gar kein Verbrechen begangen. Warum hatten ihre eigenen Leute sie angeklagt? Wie viele der anderen Angeklagten waren auch unschuldig?

  Ich versuchte, mich rasch zurückzuziehen, aber ich bewegte mich, als wäre ich unter Wasser. Es war so verlockend, nur einen Moment länger zu trinken und auch den Moment danach und noch ein kleines bißchen länger...

  »Und führe uns nicht in Versuchung.« Ich hatte diese Worte so oft ausgesprochen, ohne daran zu glauben. Wenn wahrer Glaube mein Gebet unterstützt hätte, wären die Worte dann jemals belohnt worden? Oder wäre ich dann trotzdem jetzt in dieser Zelle und würde das Blut einer unschuldigen Frau trinken?

  Die ganze Zeit über wußte ich, daß ich nicht töten wollte, und trotzdem konnte ich mich nicht losreißen. Selbst als ihr Herz aufhörte zu schlagen und ich spürte, wie der Fluß ihres Blutes langsamer wurde, selbst als sie starb, war es unglaublich schwer aufzuhören. Mein Sehvermögen wurde besser, als ihre Augen brachen, und ich betrachtete die unschuldige Frau, die jetzt kreidebleich und blutleer war.

  Neben mir leckte sich Ather die Lippen und ließ ihr Opfer auf den fleckigen, schmutzigen Zellenboden fallen. Sie sah so zufrieden aus wie ein Kätzchen vor einer Milchschüssel. Ich war entsetzt, nicht nur wegen der Morde. Ich war unfähig gewesen, mich zurückzuziehen, als diese unschuldige Frau starb, obwohl ich ihr Leben hätte retten können.

  »Töten ist einfach«, sagte Ather zu mir. »Und je öfter man es macht, desto einfacher wird es.«

  »Nein«, antwortete ich. Wie oft hatte ich dieses Wort an diesem Tag schon gesagt? Welche Bedeutung konnte es überhaupt noch haben? Ich war mir längst nicht so sicher, wie ich es gerne gewesen wäre.

  »Du wirst es schon noch lernen«, sagte sie, nahm die Frau aus meinen Armen und ließ sie zu der anderen Unschuldigen auf den Boden fallen. »Du bist jetzt ein Raubtier, und Überleben ist das einzige, was in der Welt der Raubtiere zählt.«

  »Ich werde nicht töten.«

  »Doch.« Sie ging hinter mir. Ich drehte mich um, damit ich sie sehen konnte. Sie klang so sicher, und ich fühlte mich so unsicher. »Du stehst jetzt über den Menschen, Risika, sogar über den meisten unserer Artgenossen. Willst du dich etwa von ihnen beherrschen lassen, nur weil die Menschen es dir so beigebracht haben?«

  Ich gab ihr keine Antwort, denn dann hätte ich ihr zustimmen müssen.

  »Das Gesetz des Dschungels heißt: >Sei stark oder werde beherrschte Das Gesetz unserer Welt heißt: ›Sei stark oder stirb.‹«

  »Das hier ist nicht meine Welt!« schrie ich. Ich wollte nicht in diese grimmige Welt der Jäger gehören, die sich an dem Blut von Unschuldigen labten.

  »Doch, das ist sie«, beharrte Ather.

  »Ich werde das nicht zulassen.«

  »Du hast keine andere Wahl, mein Kind.«

  »Du bist schlecht. Ich werde nicht töten, nur weil du es mir sagst...«

  »Dann töte, weil es dein Recht ist.« Die Worte kamen hart und scharf aus ihrem Mund, sie wurde langsam ungeduldig mit mir und meiner beharrlichen Weigerung.

  »Du bist jetzt kein Mensch mehr, Risika. Die Menschen sind deine Beute. Du hast doch auch nie Mitleid mit den Hühnern gehabt, die auf deinem Teller lagen. Mit den Tieren, die du aufgezogen hast, damit sie getötet werden konnten. Mit den Kreaturen, die du in Käfige gesteckt hast, damit sie dir gehörten. Warum solltest du plötzlich andere Gefühle für deine Nahrung haben?«

  So, wie sie es darstellte, konnte ich ihr nicht widersprechen. »Aber man kann doch nicht einfach Menschen töten. Das ist...«

  »Schlecht?« beendete Ather meinen Satz. »Die Welt an sich ist schlecht, Risika. Wölfe jagen die Zurückgebliebenen einer Hirschherde. Geier fressen die Gefallenen. Hyänen töten die Schwachen. Menschen töten das, wovor sie sich fürchten. Sei stark und überlebe oder stirb, von deiner Beute in die Ecke getrieben, zitternd vor Angst, weil die Nacht so dunkel ist.«