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Heute

 

 
 

Warum muß ich nur an diese Dinge denken?

  Ich merke, daß ich die Rose auf meinem Bett anstarre. Sie sieht jener, die ich vor fast dreihundert Jahren erhalten habe, so wahnsinnig ähnlich. Die Aura, die sie umgibt, ist wie ein Fingerabdruck: Ich kann die Stärke fühlen und erkenne sofort, wer sie hinterlassen hat. Ich kenne ihn sogar sehr gut.

  Ich lebe seit dreihundert Jahren in dieser Welt, und doch habe ich heute eine ihrer grundlegenden Regeln gebrochen. Als ich letzte Nacht auf dem Nachhauseweg von Tora anhielt, um zu jagen, streunte ich noch ein wenig durch das Revier eines anderen.

  Meine Beute hatte sich offensichtlich verirrt. Obwohl sie keine gebürtige New Yorkerin war, hatte sie geglaubt, sich zurechtzufinden.

  New York ist des Nachts wie ein Dschungel. In dem roten Licht der niemals schlafenden Stadt verändern sich die Straßen und Gassen, als wären es bloße Schatten, den menschlichen – und nicht so menschlichen – Raubtieren gleich, die sie bevölkern.

  Mit dem Einsetzen der Abenddämmerung stand mein Opfer plötzlich allein in  einem dunklen Teil der Stadt. Die Straßenlaternen waren zerstört, und es gab mehr Schatten als Licht. Sie hatte Angst. Hatte sich verirrt. Sie war allein und schwach und somit eine leichte Beute.

  Sie bog auf der Suche nach einem vertrauten Anblick willkürlich in eine Straße ein. Diese Straße war sogar noch dunkler, allerdings nicht auf eine Weise, die ein Mensch erkennen könnte. Es war eine der vielen Straßen in Amerika, die uns gehören. Diese Straßen sehen fast normal aus, nicht besonders gefährlich, wenn auch vielleicht ein wenig verlassen. Illusionen können ja ein solcher Trost sein. Meine Beute lief direkt in eine Venusfliegenfalle. Wenn ich sie nicht tötete, würde es ein anderer tun, sobald sie einen Fuß in eine der Bars oder Cafés setzen würde, in denen vermutlich niemals etwas serviert wurde, was sie gerne trinken würde.

  Sie schien sich etwas zu entspannen, als sie das Café Sangra entdeckte. Die Scheiben waren nicht zerbrochen, niemand saß zusammengesunken vor dem Gebäude, und das Café war geöffnet. Sie ging darauf zu, und ich folgte ihr lautlos.

  Auf einmal spürte ich eine andere menschliche Gestalt zu meiner linken und versuchte mit meinen Gedanken zu ergründen, ob eine Gefahr von ihr ausging. Sofort fuhren die Schutzwälle hoch. Aber sie waren schwach, und wenn ich nun gewollt hätte, ich hätte sie durchbrechen können. Die betreffende Person würde es zwar bemerken, aber das spielte für mich keine Rolle.

  »Das hier ist nicht dein Gebiet«, sagte er zu mir. Obwohl ich eine leichte Vampiraura um ihn spürte, war er mit Sicherheit ein Mensch. Er war durch sein Blut einem Vampir verbunden und arbeitete wahrscheinlich für ihn, aber er war keiner von uns. Er stellte keine Bedrohung dar, und so sparte ich mir die Mühe, seinen Geist zu erforschen.

  »Das hier ist nicht dein Gebiet«, wiederholte er. Ich wußte, daß er meine Aura lesen konnte, aber ich war stark genug, um sie zu dämpfen. Ich mußte auf ihn sehr jung gewirkt haben. Trotzdem war er recht dumm, oder er arbeitete für jemanden, der ziemlich stark war – möglicherweise beides. Da es aber nicht mehr als fünf oder sechs Vampire auf der Welt gibt, die stärker sind als ich, hatte ich nichts zu befürchten.

  »Verschwinde!« befahl er.

  »Nein«, antwortete ich und ging weiter auf das Café Sangra zu.

  Ich hörte, wie er eine Pistole zog, aber bevor er eine Chance zu zielen hatte, war ich auch schon bei ihm. Ich drehte die Pistole grob zur Seite, und er ließ sie fallen, damit sein Handgelenk nicht brach. Die Augen meiner Beute weiteten sich bei unserem Anblick, und sie rannte blindlings um eine Ecke davon. Dumme Sterbliche!

  Ich hörte auf, meine Aura zu verschleiern, und in dem Gesicht meines Angreifers spiegelte sich Angst, als er meine volle Stärke spürte.

  »Ist das deine ganze Bewaffnung?« fragte ich verächtlich. »Du arbeitest für einen von uns – du mußt mehr als eine Pistole bei dir haben.«

  Er begann, ein Messer hervorzuziehen, aber ich packte es schnell und warf es mit genügend Kraft auf die Straße, um die Klinge zentimeterweit in den Boden zu treiben.

  »Wer... wer bist du?« stotterte er ängstlich.

  »Wer glaubst du, daß ich bin, mein Junge?«

  Ich neige dazu, meinen Artgenossen aus dem Weg zu gehen, und ich zerstöre alle, die mir unbedingt zu nahe kommen müssen. Aus diesem Grund erkennen mich nur wenige. »Wem gehörst du?« schnappte ich, als er nicht sofort antwortete. Als Antwort erhielt ich nur ein leeres Starren.

  Ich drang in seinen Geist ein und holte mir die Information, die ich wollte. Die Vampire meiner Blutlinie zählen zu den stärksten, wenn es darum geht, unseren Geist zu benutzen, und ich wüßte beim besten Willen nicht, warum ich diese Macht nicht ausnutzen sollte. Als ich gefunden hatte, was ich suchte, schleuderte ich den Menschen von mir weg.

  Als ich begriff, wem er gehörte, fluchte ich laut.

  Aubrey... Er ist einer der wenigen Vampire, die stärker sind als ich. Er ist außerdem der einzige, den meine Anwesenheit in seinem Gebiet interessieren würde.

  Ich hatte mich schon öfter in diesem Teil von New York City aufgehalten, war aber weder Aubrey noch einem seiner Diener je begegnet. Und doch gehörte dieser Ort nach allem, was ich aus diesem Menschen herausgesogen hatte, meinem ärgsten Feind.

  Mein Angreifer lächelte spöttisch. Vielleicht glaubte er, daß ich Angst vor seinem Herrn hatte. Es stimmt sogar, ich fürchte Aubrey mehr als alles andere auf der Welt, aber nicht genug, um diesen Jungen zu verschonen. Aubrey würde früher oder später sowieso erfahren, daß ich in seinem Revier war, und dieser Junge störte mich.

  »Ryan«, säuselte ich; den Namen hatte ich seinem Geist entnommen. Er entspannte sich ein bißchen. Doch als ich mit gefletschten Zähnen lächelte, wurde er kalkweiß. »Wegen dir habe ich meine Beute verloren.«

  Bevor er davonlaufen konnte, trat ich auf ihn zu und legte eine Hand auf seinen Nacken. Dabei suchte ich seinen Blick und flüsterte ein einziges Wort in seinen Geist: Schlafe. Er erschlaffte sofort und wehrte sich auch nicht, als ich meine Fänge in seine Kehle schlug. Ich schmeckte eine Spur von Aubreys Blut in dem ansonsten sterblichen Elixier, das durch Ryans Adern floß, und der Geschmack ließ mich frösteln.

  Ich machte mir nicht die Mühe, seinen Tod zu verschleiern. Wenn Aubrey behauptete, diese Straße zu besitzen, dann sollte er sich doch mit der Leiche und der Polizei herumschlagen. In jedem Fall würde Aubrey meine Aura spüren und wissen, daß ich hiergewesen war. Immerhin würden es nur sehr wenige wagen, in seinem Territorium einen seiner Diener zu töten.

  Obwohl ich Aubrey fürchtete und mit Entsetzen dem Moment unserer Begegnung entgegensah, wollte ich diese Furcht unter keinen Umständen zeigen.

  Dies war das erste Mal seit fast dreihundert Jahren, daß sich unsere Wege gekreuzt hatten, und ich würde gewiß nicht zugeben, daß ich ihn immer noch fürchtete.

 
 

  Aubrey... bei dem Gedanken an ihn schießt Haß in mir auf.

  Die langstielige Rose liegt auf der scharlachroten Tagesdecke meines Bettes, die Blütenblätter weich und perfekt und schwarz.

  Ich nehme die Rose und steche mir dabei die Hand an einer der Dornen, die scharf wie die Zähne einer Giftschlange sind. Während ich auf das Blut sehe, bis die Wunde sich schließt, erinnere ich mich an längst vergangene Zeiten – dann lecke ich es abwesend auf. Meine Gedanken kehren wieder zu der Zeit zurück, als ich noch Rachel Weatere war – zu der Zeit, als ich eine andere schwarze Rose erhielt.

  Damals habe ich das Blut nicht abgeleckt.