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1704
Ich kehrte drei Jahre lang nicht nach Hause zurück, und als ich es schließlich tat, konnte mich niemand sehen.
Es war fast Mitternacht, als ich in Concord anhielt, und das war beabsichtigt. Ich wollte keinem Menschen begegnen.
Natürlich wollte ich nicht erkannt werden, aber vor allem war ich mir nicht sicher, ob ich mich unter Kontrolle hätte. Ich hatte das letzte Mal vor zwei Nächten getrunken, von einem Dieb, der das Pech hatte, mich anzugreifen, als ich durch die dunklen Straßen zog. Ich hatte schrecklichen Durst.
Obwohl ich mich mit dem Gedanken tröstete, daß ich nur diejenigen tötete, die es verdienten, hallten Aubreys Worte immer in meinen Gedanken wider: ›Bist du jetzt Gott, Risika, und entscheidest, wer lebt und wer stirbt?‹ Diebe und Mörder hielten mich aufrecht, allerdings nur gerade eben. Ich tötete nur so oft, wie es gerade nötig war, um zu überleben, und ich war ständig hungrig. Ich hockte vor dem Haus, in dem ich einst gelebt hatte, auf dem Rand des Brunnens und beobachtete es wie ein Geist, der zwar sehen und hören, aber nichts anderes tun konnte.
Würde mein Vater mich erkennen, wenn er mich sehen könnte? Die drei Jahre hatten mich ziemlich verändert. Meine helle Haut war jetzt schneeweiß, und mein goldenes Haar, das seit einiger Zeit keinen Kamm mehr gesehen hatte, war verfilzt. Ich trug Männerkleidung, weil ich mit den langen Kleidern die Geduld verloren hatte, als ich die Wälder, Berge und Flüsse des Landes erkundete.
Ich hätte natürlich zur Türe gehen und meinen Vater fragen können, ob er wüßte, wer ich sei, aber das wollte ich nicht. Es würde ihn nur noch mehr verletzen, wenn ich wieder gehen müßte. Ich würde ihm besser nicht sagen, was aus mir geworden war.
Lynette schlief in ihrem Zimmer, aber mein Vater war wach, und er weinte. Er sah aus dem Fenster, und obwohl ich wußte, daß er in meine Richtung blickte, konnte er mich nicht sehen. Ich hatte gelernt, meine Gestalt vor sterblichen Augen zu verbergen.
Die Tränen auf seinem Gesicht stachen mir wie Dolche ins Herz. Ich hatte eine lebendige Vision von Ather und Aubrey, wie sie tot auf dem Boden lagen und ich über ihnen stand. Würde jemand um sie weinen, wenn sie tot wären? Ich glaubte nicht, aber ich würde nie herausfinden, ob ich recht hatte. Aubrey hatte mir ohne jeden Zweifel bewiesen, daß ich nicht diejenige sein würde, die ihm den Tod brächte.
Eine Frau kam hinter meinem Vater die Treppe herunter. Ihre dunklen Haare waren zurückgebunden, und ich konnte sogar aus der Entfernung sehen, daß ihre Augen schokoladenbraun waren. Ihre Haut war nicht so hell wie die meiner Mutter. Als sie ihre Hand auf die Schulter meines Vaters legte, konnte ich sehen, daß sie nicht die anmutigen Künstlerhände hatte, die mein Vater oft beschrieben hatte, wenn er über meine Mutter sprach.
»Peter, es ist spät. Du solltest jetzt schlafen gehen.«
Mein Vater wandte sich mit einem schwachen Lächeln zu ihr, und ich verspürte den unerklärlichen Drang, hineinzugehen und diese Frau zu schütteln. Ich hatte die Gedanken meines Vaters gelesen und wußte, daß diese Fremde seine Frau war. Ihr Name war Katherine. Hatte er sie in der Hoffnung geheiratet, uns ersetzen zu können? Wußte sie, daß es Alexander und mich gegeben hatte? Kümmerte es sie überhaupt?
Diese Leute waren nicht mehr meine Familie, das begriff ich. Aber ich konnte mich nicht gegen den Haß wehren, den ich gegen diese Frau empfand, weil sie versuchte, meinen Platz einzunehmen.
»Eifersüchtig?« sagte jemand über meine Schulter. Ich wirbelte zu Aubrey herum, die Augen schmal vor Haß. »Wenn sie dich so sehr stört, dann töte sie doch.«
»Ich bin sicher, daß dir das gefallen würde«, zischte ich. Er lachte. »Du hast zu viele Prinzipien.«
»Und du hast überhaupt keine.« Ich konnte mich kaum beherrschen, ihn nicht zu schlagen. Ich würde nicht gehen, solange er hier war und seine Aufmerksamkeit auf meinem Vater und dieser unschuldigen Frau lag.
Unschuldige Frau... es war seltsam, wie schnell ich meine Meinung über sie geändert hatte. Sobald Aubrey mir vorgeschlagen hatte, sie zu töten, verspürte ich das starke Bedürfnis, sie zu beschützen.
»Ich denke durchaus, daß ich einige Prinzipien habe«, entgegnete er, aber sein Ton war unbekümmert. Meine Anschuldigung hatte ihn nicht im geringsten beleidigt. »Allerdings keine, die mein Überleben behindern. Sieh dich doch nur an, Risika – du bist nicht gerade das beste Beispiel für die Vorteile einer moralischen Einstellung.«
Obwohl ich mich nicht dafür haßte, daß ich tötete, um zu überleben, hatte ich Angst vor dem Tag, an dem ich dem Morden gegenüber ebenso gleichgültig werden würde wie Aubrey.
»Wenn du hergekommen bist, um mich davon zu überzeugen, daß ich meine Prinzipien aufgeben soll, verschwendest du deine Zeit«, schnappte ich.
»Du bist nicht der einzige Grund, weshalb ich hier bin«, antwortete er träge.
Mein Vater und seine Frau hatten beschlossen, ein wenig frische Luft zu schnappen, und saßen jetzt auf der hinteren Veranda, wo sie leise über die Farm, Lynettes Verehrer und alles mögliche redeten, nur nicht darüber, warum mein Vater geweint hatte.
Er drehte den Kopf in meine Richtung, als könnte er meinen Blick spüren, aber diesmal weiteten sich seine Augen, als würde er mich trotz meiner Bemühungen sehen.
Bevor seine Frau eine Hand auf seinen Arm legen konnte, stand er auf und machte einen Schritt auf mich zu. »Da ist niemand, Peter«, beharrte sie, und mein Vater seufzte.
»Ich könnte schwören, daß ich sie gerade gesehen habe...« Er schüttelte mit einem rasselnden Atemzug den Kopf.
»Du wolltest auch vor ein paar Tagen schwören, daß du sie gesehen hast, aber sie war nicht da. In der Woche davor willst du deinen Sohn gesehen haben, aber er war auch nicht da. Sie sind niemals da, und sie werden es nie sein, Peter. Laß sie gehen.«
Mein Vater drehte sich um und ging wieder ins Haus. Katherine schloß einen Moment die Augen und flüsterte ein Gebet.
Warum half sie ihm denn nicht? War sie wirklich so blind, daß sie nicht merkte, wie sehr ihre Worte ihn verletzten?
Aubrey lachte neben mir. »Du bist doch eifersüchtig. «
Ich verlor die Geduld und wirbelte zu ihm herum. »Kannst du nicht woanders hingehen?«
»Könnte ich schon«, sagte er. »Aber hier macht es mehr Spaß.«
»Zum Teufel mit dir.«
Er zuckte die Schultern und blickte an mir vorbei auf die Frau meines Vaters, die gerade auf das Haus zuging.
Sie zögerte, dann drehte sie sich langsam um, als sie die Blicke in ihrem Rücken spürte. »Laß sie in Ruhe, Aubrey«, befahl ich. »Warum?«
Katherine sah auf, als hätte sie ein Geräusch gehört, und kam dann auf uns zu, obwohl ich wußte, daß sie weder mich noch Aubrey sehen konnte.
Ich ballte die Fäuste. Ich wußte, daß er mich nur provozieren wollte, und ich wußte ebensogut, daß ich keine Chance hatte, ihn aufzuhalten, falls er sie wirklich töten wollte.
Katherine zog keuchend den Atem ein, als Aubrey sich zu erkennen gab. Sie starrte ihn mit weitaufgerissenen Augen an.
»Schön, Aubrey, ich habe verstanden«, schnappte ich und trat zwischen ihn und seine Beute. »Und jetzt verschwinde.«
»Und was genau hast du verstanden?« erkundigte er sich. »Ich teile deine Vorbehalte nicht, Risika. Ich jage, wenn ich es möchte, wie ich es schon immer getan habe.«
»Jage gefälligst woanders«, sagte ich. Seine Augen wurden schmal.
»Wer... w-was wollen Sie?« stammelte Katherine und trat zurück. Sie atmete hektisch, und ihr Herz schlug schnell vor Angst.
Aubrey verschwand von dort, wo er gestanden hatte, und tauchte hinter ihr wieder auf. Katherine stolperte gegen ihn und keuchte erschrocken.
Aubrey flüsterte ihr etwas ins Ohr, und sie entspannte sich. Dann hob er die Hand und bog sanft ihren Hals zurück, bis ihre Kehle frei lag...