Rückkehr

13.1

Arizona. Kurz nach Einbruch der Morgendämmerung war er wieder zu Hause. Er war die ganze Nacht durchgefahren – eine trostlose Reise im MTVR über den Redlands Highway, ungefähr sechshundertfünfzig Kilometer durch eine einschläfernde Einöde. Die Haustür knarrte, als er sie öffnete. Begrüßt wurde er nur von dem Schmerz, den er als einsamer Heimkehrer immer verspürte. Ihm wurde kein herzlicher Empfang bereitet, und es vermittelte ihm auch niemand das schöne Gefühl, dass man ihn vermisst hatte. Dem Haus war es egal, ob er lebte oder tot war. Er dachte an die streunenden Hunde in Hemet, diese armen, herrenlosen Tiere, und er fragte sich, ob vielleicht – nur vielleicht – die Zeit gekommen sei, seine Angst zu überwinden und sich auch einen treuen Hund zuzulegen. Wäre vielleicht ganz schön, einen Freund zu haben.

Sein Büro im ersten Stock mutete irgendwie traumartig an, vertraut und doch fremd, als wäre er während der sechzehnstündigen Fahrt eingeschlafen und hätte die Heimkehr nur geträumt. Aber er wusste, dass es die Realität war. Er hatte viel zu starke Schmerzen; einen so durchdringenden, stechenden Schmerz konnte er einfach nicht träumen – ein Dutzend blutiger Wunden in seiner Haut brannten wie kleine Feuerstellen, purpurne Glut schwelte unter den Quetschungen an Armen, Beinen und auf dem Bauch. Er war eine lebende Laborprobe zur Untersuchung von Schnittwunden, Kratzern, Blasen, Beulen und Prellungen.

Er ließ sich auf den Stuhl fallen und schaltete den Computer ein.

Er verzichtete darauf, die Barrikade zu kontrollieren. Oder die Falle.

Die Falle ist leer. Sie kommt nicht zurück.

Mit einem freudlosen Lächeln wählte er Benjamins Nummer.

Das Telefon klingelte achtzehn Mal. Schließlich wurde der Hörer abgenommen, und ein körniges Video erschien auf dem Bildschirm. Ein Gesicht. Owen Osbourne.

Marco wunderte sich nicht darüber. »Hallo, Schatz. Bin wieder zu Hause.«

Falls das überhaupt möglich war, wirkte Osbourne noch hässlicher als vor vier Tagen – als verwandelte er sich tatsächlich von einem Menschen in einen Fisch. Die Augen schienen noch etwas weiter auseinandergetreten sein, und sein Piranhagesicht war noch kälter. Das feuchte weiße Haar klebte ihm wie Schleim am Hinterkopf und ließ darauf schließen, dass er gerade aus der Dusche gekommen war. Seine schwarzen Pupillen glänzten. Voller Erwartung.

»Willkommen daheim, Doktor Marco. Wir haben schon auf Sie gewartet.«

»Ja, ’tschuldigung, dass Sie warten mussten. Wo ist Ben?«

»Haben Sie Ballard gefunden?«

»Wo ist Ben?«, insistierte Marco. »Ben!«, rief er. »Bist du da?«

»Ich bin hier, Mann«, ertönte Bens Stimme von außerhalb des Erfassungsbereichs der Kamera. Er klang schrecklich – heiser und müde. Dann waren die letzten Tage auch für Ben ziemlich hart gewesen. »Alles cool.«

»Okay«, sagte Marco und entspannte sich. »Schön, wieder deine Stimme zu hören, Kumpel.«

»Ganz meinerseits«, sagte Ben. »Hätte nicht mehr viel gefehlt, und ich wäre durchgedreht …«

»Doktor«, unterbrach Osbourne ihn schroff. Der Direktor hatte für einen Moment die Contenance verloren; eine weiße Haarsträhne war ihm auf die gewölbte Stirn gefallen. Er schob sie zurück, räusperte sich und setzte sich wieder richtig auf seinen Stuhl. »Bitte. Je schneller wir die Angelegenheit regeln, desto eher können Sie und Mr. Ostroff sich alles erzählen. Was mich betrifft, ich will nur eins wissen …«

Er fuhr sich begierig mit der Zunge an der oberen Reihe gebleichter Zähne entlang. »Ballard?«

Fick dich, hätte Marco ihm am liebsten geantwortet. Er starrte Osbourne wortlos an und ließ das Schweigen für sich sprechen, und dann bequemte er sich schließlich doch.

»Tot«, berichtete er. »Zurückgegeben. Und ja, ich habe eine schöne kleine DNA-Probe als Souvenir mitgebracht – auch ohne dass Sie mich darum gebeten haben. Wie sich herausstellte, hatte Ihr AAE-Team den Befehl, eine Probe von Rogers Blut zu nehmen. Sie hatten mich nur losgeschickt, einen alten Freund zu töten, ohne mir den Grund dafür zu nennen.«

Osbournes Mundwinkel zuckten. Er nickte mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er soeben einen Bissen eines delikaten Filet Mignon heruntergeschluckt. Und genösse den Nachgeschmack.

»Die DNA«, sagte er. »Eine sehr gute Nachricht.«

»Das war die gute, und jetzt kommt die schlechte«, fuhr Marco fort. »Raten Sie mal, wer noch tot ist? Ihre AAE-Soldaten – bis auf den letzten Mann. Überhaupt sind sie nie aufgetaucht, sondern jemand anders. Ein netter Kerl von der chinesischen CIA oder so einem Mist, und ach ja, er wollte mich auch umbringen.«

»Ich verstehe«, bemerkte Osbourne ungerührt. »Das kommt nicht ganz überraschend – ich war mir eines externen Interesses an unserer Mission durchaus bewusst. Wir hatten uns schon gefragt, weshalb die AAE sich nicht zur vereinbarten Zeit und am vereinbarten Ort meldete. Für den Fall, dass Sie heute nicht bis Sonnenuntergang zurückgekehrt wären, hatten wir geplant, eine weitere Einheit zu entsenden.«

»Toll, danke. Dann wäre ich schon längst tot gewesen.«

»Exakt«, sagte Osbourne unverblümt. »Solange Sie noch am Leben waren, bestand kein Grund, zusätzliche Ressourcen einzusetzen. Das wäre nur im Fall Ihres Todes erforderlich geworden.«

»Sie sind wirklich ein großartiger Chef«, sagte Marco sarkastisch. »Ihre Leute müssen Sie lieben.«

»Doktor, bitte nehmen Sie das nicht persönlich. Sie und ich, wir hatten beide unsere Ziele. Ich freue mich, dass Sie Ihre erreicht haben. Ihr Land freut sich auch«, sagte der Direktor schmeichelnd. Schon wieder fühlte Marco sich wie ein Kind, das ein nicht ganz ernst gemeintes Lob von einem Erwachsenen erhielt und dem man herablassend den Kopf tätschelte.

Onkel Owen. Wus abschätzige Bezeichnung für Osbourne.

»Ach was«, sagte Marco. »Wollen Sie mir also sagen, dass es im Grunde nur darum ging?«

Osbourne runzelte eine Augenbraue und stellte sich dumm. »Worum?«

»Wozu? Wozu brauchten Sie Rogers DNA?« Er kannte die Antwort natürlich schon. Aber Osbourne schuldete ihm diese Wahrheit, gottverdammt. Osbourne, der Großmeister in diesem Schachspiel der Neuen Republikaner, der Mann, der das Spielbrett beherrschte und Bauern wie Wu und Marco nach Belieben herumschob.

Osbourne sah ihn mit kalten Augen an. »Das ist leider Geheimsache, Doktor Marco«, sagte er und schlug die Beine geziert in einer weibischen Pose übereinander.

»Mit anderen Worten, Sie haben das, was Sie wollten«, übersetzte Marco. »Alles andere braucht mich nicht zu interessieren.«

»Genau.«

Marco atmete tief durch und beruhigte sich, bevor er noch vor Zorn rote Wangen bekam. »Na schön«, sagte er. »Ich dachte mir schon, dass Sie das sagen würden. Die Sache ist nämlich … ich weiß bereits mehr, als Sie glauben.«

Osbournes Miene trübte sich leicht ein.

Marco biss sich auf die Lippe. Sollte er Osbourne alles erzählen? Dass Roger noch gelebt hatte? Dass er am Leben gewesen war, noch immer gearbeitet hatte und noch immer das Geheimnis der Auferstehung hatte lüften wollen?

Es wäre schön, dachte Marco, zu sehen, wie Osbourne sich windet.

Das Bedauern in den Augen des Direktors zu sehen, wenn ihm bewusst wurde, dass Rogers Ermordung ein Verlust war; dass Roger der Welt noch so viel zu geben gehabt hätte, wenn er überlebt hätte.

Zu sehen, wie Osbourne auch nur einen Bruchteil des Kummers verspürte, der in Marcos Brust wühlte.

Du verdammtes selbstgefälliges Arschloch. Du solltest über Rogers Tod trauern.

»Es gibt da noch etwas, das ich Ihnen gerne zeigen möchte«, sagte Marco. Er griff in die Westentasche, zuckte zusammen, als seine Finger den kalten Brocken von Rogers Gehirn berührten, und holte die gläserne Ampulle heraus, die er aus dem Gefängnislabor mitgenommen hatte. Er schwenkte sie genüsslich vor der Kamera. »Das hier.«

Osbourne blinzelte und verengte kaum merklich die Augen; das Piranhagesicht des Mannes schaute gierig auf den Bildschirm, und Marco verspürte ein Flattern im Magen, eine nervöse Vorfreude wie ein Fischer, der eine Forelle um den Angelhaken kreisen sah, bevor sie zubiss.

Und tatsächlich schnappte Osbourne den Köder. »Was ist das?«, fragte er ruhig und gelassen, doch direkt unter der Oberfläche spürte Marco eine alarmierte Unterströmung. Der Direktor schlug die Beine auseinander und rutschte auf dem Stuhl nach vorn. »Die DNA

Marco lehnte sich zurück und ließ Osbourne noch ein wenig zappeln.

»Noch besser«, sagte er. »Ein Impfstoff. Ein wirksamer Impfstoff.«

Osbourne verzog keine Miene. Aber seine Augen – in seinen Augen schien die Gier zu explodieren, beinahe wie eine elektrische Entladung. Dieser intensive Ausdruck hielt für eine Weile an und verschwand dann wieder, und Osbourne atmete durch geblähte Nasenlöcher aus. Aus dem Lautsprecher drang ein lang gezogenes Zischen.

»Sie haben das bei Ballard gefunden?«, fragte Osbourne bemüht nonchalant und klang doch angespannt, als hielte eine unsichtbare Hand ihn an der Gurgel gepackt. Seine Kiefer mahlten, und er knirschte leise mit den Zähnen. Marco wusste, dass er die Ampulle haben wollte. Unbedingt.

»Ja«, antwortete Marco. »Bei Ballard. Und wie aus seinen privaten Aufzeichnungen hervorgeht, ist das der eigentliche Joker. Anscheinend hat Roger Ihnen doch nicht alles mitgeteilt, was er wusste.« Eine Verbiegung der Wahrheit – Marco war sich immer noch nicht sicher, wie Osbourne wohl reagieren würde, wenn er erfuhr, dass Roger noch am Leben gewesen war.

Ob er wütend wäre, weil ich ihn nicht gerettet habe? Würde er mir die Schuld dafür geben?

Wieso sollte ich dieses Risiko eingehen?

Osbourne blickte finster. Er zog argwöhnisch die Brauen hoch; die Haut wellte sich auf der Stirn und warf gummiartige Falten in seinem schlecht gelifteten Gesicht. »Welchen Beweis hatte Ballard für die Wirksamkeit?«

»Roger Ballard war ein Genie. Ich weiß, dass Sie sich dessen sehr wohl bewusst sind. Ich weiß auch, dass Sie wissen, dass Roger kurz vor dem Durchbruch stand.« Er legte eine Pause ein, um Osbourne die Gelegenheit zu einer Stellungnahme zu geben – die E-Mail zu bestätigen, die Roger gesendet hatte. Doch Osbourne sagte nichts. Du Arschloch, dachte Marco. »Wenn Roger gesagt hat, dass der Impfstoff wirkt, glaube ich ihm das«, sagte er nur.

Osbournes Wangen hatten sich leicht gerötet; die Körpertemperatur dieses Kaltblüters stieg offensichtlich. Er leckte sich die Lippen. »Ich möchte, dass Sie mir diese Probe bringen, Doktor Marco«, sagte er. Das war eine Feststellung – eine Vorwegnahme des Eintritts der Realität.

Marco stellte die Ampulle außerhalb des Blickwinkels der Kamera auf den Tisch. Osbourne blinzelte und verengte die Augen, als das Fläschchen verschwand. Marco drehte sich wieder zu ihm um; abwesend kniff er sich ins Ohrläppchen und studierte den Mann am anderen Ende der Leitung, über dreitausend Kilometer entfernt in Benjamins Studio in Pennsylvania. Osbourne erwiderte seinen Blick. Der Piranha. Das Raubtier.

Inwieweit bist du für das alles verantwortlich?, fragte Marco sich. Für die Auferstehung und den Ausbruch? Wie viel wusstest du schon, bevor das geschah? In welchem Ausmaß warst du …?

Er erinnerte sich an Rogers Warnung. Man kann Osbourne nicht trauen.

Er blickte Osbourne unverwandt in die Augen. Da war keine Spur von Menschlichkeit. Nur ein Vakuum. Es war der gleiche Ausdruck, den er in Wus Augen gesehen hatte – kurz vor dem Ende, als Wu die Waffe auf ihn gerichtet hatte und den Abzug betätigen wollte …

Osbourne wird mich töten, dachte Marco. In dem Moment, in dem ich ihm den Impfstoff übergebe, wird er mich töten. Er kann es sich nicht leisten, mich in den Sicheren Staaten herumlaufen und aus dem Nähkästchen plaudern zu lassen.

»Ich werde Ihnen den Impfstoff nicht bringen«, sagte Marco.

Osbourne lief rot an.

»Ich werde ihn hierlassen, und Sie können kommen und ihn sich holen«, fuhr Marco fort. »Oder jemanden schicken. Noch ein AAE-Team, die ganze US-Armee oder wen auch immer. Die Menschen brauchen ihn – die Sicheren Staaten brauchen einen Impfstoff, und deshalb sollen Sie ihn auch haben. Aber ich werde ihn Ihnen nicht bringen.«

»Es wäre mir lieber, wenn Sie ihn mir doch bringen würden, Doktor«, sagte Osbourne etwas ungehalten. »Sie würden mir damit einen großen Dienst erweisen.«

»Nein, lieber nicht«, bekräftigte Marco. »Sie werden das bekommen, was Sie wollen, aber nicht von mir. Ich werde hier in den Evakuierten Staaten bleiben. Das war doch unsere Vereinbarung, nicht wahr? Ich kann hierbleiben und meine Suche fortsetzen.«

Der Direktor schäumte vor Wut und ließ sich das auch anmerken. Ein lautes Geräusch – Tipp Tipp Tipp – drang plötzlich aus dem Lautsprecher, und Marco wurde sich bewusst, dass es Osbourne war, der mit den Fingern auf dem Schreibtisch trommelte. Es trat ein sekundenlanges unbehagliches Schweigen ein. Schließlich räusperte Osbourne sich mit einem Knurren und seufzte. »Ich verstehe. Sie möchten dableiben und Ihre tote Ehefrau suchen.«

Diese Feststellung traf Marco an seiner empfindlichsten Stelle. »Ja«, sagte er.

»Sie sind ein treuer Ehemann, Doktor. Lieben Sie sie denn so sehr?«

»Ja«, sagte er mit bemüht fester Stimme.

»Nun gut.« Osbourne lehnte sich wieder auf dem Stuhl zurück und faltete die Hände. Ein gehässiger Ausdruck erschien in seinem Gesicht, und er sah Marco hinterlistig an; seine Hasenzähne ragten unter der geschürzten Oberlippe hervor.

»In diesem Fall«, sagte Osbourne, »gestatten Sie mir die folgende Bemerkung – und es sind Ihre eigenen Worte, derer ich mich bediene, Doktor …« Er grinste breit. »Es gibt da noch etwas, das ich Ihnen gerne zeigen möchte.«

Er krümmte einen dürren Finger, und ein Soldat in einer blauen Uniform erschien aus den Tiefen des Raums. Der Soldat streckte die Hand aus, nahm die Computermaus, und Marco hörte ein akustisches Dauerfeuer von Mausklicks, als zöge ein Ratschenschlüssel eine Klammer um sein Herz fest.

Zweifellos würde er gleich eine böse Überraschung erleben. Er erinnerte sich an das Video von der Gefängnisrevolte – in dem Roger scheinbar den Tod gefunden hatte –, das Osbourne ihm bei ihrem ersten Gespräch gezeigt hatte.

Osbourne schien seine Gedanken zu lesen. »Ich habe es Ihnen doch schon einmal gesagt, Doktor Marco. Ich mache immer meine Hausaufgaben. In diesem Fall ein weiteres Video, das Sie vielleicht interessieren könnte. Von besonderem Interesse ist hierbei, dass es erst letzte Woche aufgenommen wurde.«

Bei der demonstrativen Hervorhebung des Zeitraums schauderte Marco, ohne zu wissen wieso.

Der Bildschirm verdunkelte sich, Osbourne wurde mitten in einem glucksenden Lachen ausgeblendet, und im nächsten Moment explodierte ein Bild auf dem Monitor wie ein neues Universum, das im millionsten Bruchteil einer Sekunde erschaffen worden war. Zunächst vermochte Marco sich keinen Reim darauf zu machen – dann überkam ihn plötzlich die Erkenntnis, und er hatte das Gefühl, in einen Glutofen gestoßen zu werden. Sein Atem setzte aus, und das Herz stockte. Sein Nervensystem wurde förmlich kurzgeschlossen. Der Ledersessel unter ihm quietschte und neigte sich …

Helles Sonnenlicht, ein Wohnzimmer mit einem riesigen Panoramafenster.

Oh Gott.

Saftig grüne Blätter im Hof.

Gott.

Und ein blaues Sofa unter dem Fenster, auf dem eine Frau saß.

Gott oh Gott.

Mit weichem, kastanienbraunem und nach Lavendel duftendem Haar, das hinter die Ohren gekämmt war; in jedem zarten Ohrläppchen steckten drei Jade-Ohrstecker, die zu klein waren, um von der Kamera erfasst zu werden.

In Marcos Kopf drehte sich alles – er war verwirrt und hatte das Gefühl, neben sich zu stehen –, und er wurde in ein verrücktes Wurmloch gezogen, das sich durch Raum und Zeit erstreckte. Er war sich seiner Hände bewusst, deren mit getrocknetem Blut überzogene Knöchel weiß hervortraten, während sie zur Faust geballt auf den Armlehnen des Sessels lagen, dennoch konnte er sie nicht kontrollieren. Und sein Kopf hatte sich abgelöst und war tausend Meilen weit entfernt.

»Delle«, krächzte er.

Sie lächelte ihn traurig an. »Henry.«

13.2

Marco zuckte zusammen, als sie seinen Namen nannte, und er hätte fast geantwortet – das Wort »wie« lag ihm auf den Lippen, doch er schluckte es wieder hinunter, denn nun erinnerte er sich, dass es sich um eine Videoaufzeichnung handelte, und er war sich ohnehin nicht sicher, was er überhaupt hätte sagen sollen. Die Danielle, die dort auf dem Sofa saß, war nur das Echo der Danielle um 7:48 Uhr am 23. September 2018, an dem laut den weißen Ziffern, die in die Ecke des Bildschirms eingeblendet waren, das Video aufgenommen worden war. Sein Atem ging stoßweise, und der Puls raste. Unter dem Schreibtisch zitterten seine Füße und trampelten ein Muster auf das Hartholz, als ob die Stiefel ihn anflehten wegzurennen.

»Henry«, sagte sie wieder. Sie schluckte und verzog das Gesicht – sein Name wäre ihr fast im Hals stecken geblieben, und dann zögerte sie und schien überhaupt nichts mehr sagen zu wollen. Sie wandte den Blick von der Kamera ab. Eine unsichtbare nuschelnde Stimme ermunterte sie weiterzusprechen, und mit einem Anflug von Hass wurde Marco sich bewusst, wer da im Hintergrund so väterlich zu ihr sprach.

Osbourne.

Verdammter Mistkerl. Du hast sie gefunden. Du bist zu ihr gegangen und hast mir bis jetzt nichts davon gesagt.

Er fühlte sich hundeelend und konzentrierte sich wieder auf Danielle. Sie sprach weiter.

»Oh Gott, Henry, ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, stotterte sie. Sie sprach mit unnatürlich hoher Stimme, die fast wie ein Wimmern klang, und ihre Wangen waren gerötet und feucht. So sah sie immer aus, wenn sie kurz davor stand, in Tränen auszubrechen. Sie wirkte erschöpft, emotional angeschlagen, und schien in den vergangenen vier Jahren um zehn Jahre gealtert zu sein. Ihr Feenstaub war weggeblasen worden, die Magie verschwunden. Das war nicht mehr die Danielle, die er bei Tech Town kennengelernt hatte; nicht einmal die Danielle, die sich so sehr bemüht hatte, ihn hier in Arizona zu lieben. Der Zauber war verflogen. Das war die Danielle von heute – real, keine idealisierte Erinnerung; nur eine traurige, verängstigte Frau, die aus dem Zauberland verbannt worden war und deren Träume zunichtegemacht worden waren.

Ihm sank das Herz.

»Ich glaubte, du wärst tot«, sagte sie und rang um Fassung. »Ich schwöre dir, Henry, ich dachte, dass – sonst hätte ich dir doch gesagt, dass du … von dort weggehen und hierher, in die Sicheren Staaten kommen solltest. Ich schwöre dir, dass ich es bis heute Morgen nicht gewusst habe. Diese … Männer, diese Soldaten sind gekommen und haben mir gesagt, dass ich diese Botschaft für dich aufzeichnen soll. Sie haben mir von dir erzählt und was du tust, du und Ben. Ich dachte, dass ihr beide … Wieso warst du denn nicht auf dem Überlebenden-Register? Ich habe dich für tot erklären lassen …«

Sie verstummte und brach in Tränen aus. Marco fühlte sich noch elender. Ben hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie beide registrieren zu lassen. Wozu auch? Alle, die sie gekannt hatten, waren tot. Trish war tot. Danielle war …

Scheiße, Danielle war am Leben.

Eine weitere leise Ermunterung von Osbourne ertönte außerhalb des Erfassungsbereichs der Kamera. Danielle straffte sich, machte einen tiefen Zwerchfellatemzug und fuhr fort.

»Sie haben mir erzählt … was du dachtest; über mich, meine ich. Ach, Henry. Es tut mir so leid. Es tut mir so unendlich leid, dass du das von mir gedacht hast. Ich wollte doch nie …«

Noch mehr tiefe Yoga-Atemzüge, die sie ihn einmal gelehrt hatte.

»Ich weiß, dass du den Honda leer gefunden hast«, sagte sie. »Oh Gott, was für ein Tag. Henry, ich war das nicht, dessen Überreste du gesehen hast. Ich bin entkommen. Janis, du erinnerst dich noch an sie, sie wollte mich zu Trish fahren. Ich habe nur daran gedacht zu verschwi… zu Trish zu fahren. Ich war fix und fertig, konnte nicht mehr klar denken, und Janis sagte, dass sie mich hinfahren würde. Und dann ist der Wahnsinn ausgebrochen … Da waren Monster, die uns gejagt haben, und sie hat einen Unfall gebaut, und diese toten Leute haben die Fahrertür geöffnet und sie rausgezogen, und ich habe die Beifahrertür aufgemacht und bin weggerannt.«

Sie verlor die Fassung und schluchzte wieder. Delle. Er wollte sie durch den Bildschirm hindurch berühren und sie trösten, ihr die Haarsträhne, die sich gelöst hatte, wieder hinters Ohr stecken. Er musste sich zusammenreißen, um diese Bewegung nicht tatsächlich auszuführen. Stattdessen wischte er sich das Gesicht mit dem Ärmel ab.

Ein Soldat mit einer Sonnenbrille erschien im Bild; er hatte eine schwarze HK416 umgehängt. Er reichte Danielle eine Schachtel mit Papiertüchern und verschwand dann wieder. Die Geste war absurd und irreal wie bei einer albernen Comedy-Show. Danielle trocknete sich das Gesicht und putzte sich die Nase. In den nächsten zehn bis zwanzig Sekunden war nur ihr leises Schniefen zu hören.

»Ich habe mich im Gestrüpp versteckt«, sagte sie schließlich. »Ich hatte Angst weiterzugehen. Trishs Haus war zwar nur noch ein paar Kilometer entfernt, aber da waren überall tote Leute und haben andere Leute getötet. Es war so, so furchtbar … Aber das Komische daran ist, dass ich das irgendwie überhaupt nicht wahrhaben wollte. Als ob ich im falschen Film gewesen wäre – in so einem schlechten Horrorfilm von der Sorte, von der ich mir geschworen hatte, dass ich sie mir niemals anschauen würde. Nur dass ich jetzt selbst in so einem Film mitspielte und ganz vergessen hatte, dass das alles nur gespielt war.«

Sie stieß ein freudloses Lachen aus und rieb sich die Nase. »Ein paar Stunden später habe ich einen Armeelaster von einem Evakuierungs-Team gesehen. Sie haben mich aufgesammelt. Ich sagte ihnen auch, dass sie dich suchen sollten, Henry. Ich schwöre dir, dass ich es ihnen gesagt habe. Sie haben auch nachgeschaut. Sie sind zum Haus gefahren, aber du warst nicht da – oder du warst wohl doch da und hast nur nicht geantwortet. Du hast geglaubt, ich wäre eine … von diesen toten Leuten? Dieser Mann sagt, du wärst geblieben, um nach mir zu suchen. Oh Gott, ich wünschte, du hättest das nicht getan, Henry.«

Sie schaute nachdenklich auf ihren Schoß.

Ich wünschte, du hättest das nicht getan.

Marco sank in seinem Sessel zusammen. Er fühlte sich elend und wünschte das Gleiche – er wünschte, dass alles ganz anders gekommen wäre. Er schloss fest die Augen, und als er sie wieder öffnete, trafen sich ihre Blicke. Sie sah ihn eindringlich und flehend an. »Henry, bitte hör mir jetzt zu. Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich gegangen bin – aber du verstehst das doch, oder? Ich musste einfach gehen. Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste weiterziehen. Und ich glaube auch, dass es etwas zu bedeuten hat, dass es ausgerechnet an jenem Tag geschah. Ich habe so oft darüber nachgedacht … dass ich bei lebendigem Leibe tot war, tot und begraben mit Hannah. Und dann kam die Auferstehung, und es war, als ob der ganze Tod und der Kummer, mit dem ich beladen war, plötzlich von mir genommen und ins Universum geschleudert wurde – und nicht nur mein Kummer, sondern der aller Menschen –, aber niemand weiß, warum, und es war so furchtbar, so schrecklich. Doch die Auferstehung hat mich hierhergebracht, in die Sicheren Staaten. Und ich weiß, es klingt selbstsüchtig, aber ich bin froh. Ich bin froh, weil ich nach alledem nicht mehr tot bin, wie ich es zuvor war. Ich fühle mich hier lebendig …«

Sie hielt sich die Hände vor den Mund, wahrscheinlich verblüfft von ihrer Offenheit.

Und dann fiel ihm zum ersten Mal der Ring an ihrer linken Hand auf. Ein Ehering. Gold mit kleinen funkelnden Diamanten, die horizontal auf dem Höcker angeordnet waren – kein Platin, nicht von Cartier, nicht der Ring, den er ihr vor acht Jahren auf ihren schlanken Finger geschoben hatte.

Eine Grube tat sich in seinem Magen auf, und er spürte, dass er hineinfiel.

Allmählich wurde er sich bewusst, dass sie wieder etwas sagte. »… wieder geheiratet, Henry. Du kennst ihn nicht. Ich habe ihn kennengelernt, nachdem alles sich wieder beruhigt hatte …«

Geheiratet. Delle hat jemand anders geheiratet.

Schon so bald.

Er verzog das Gesicht und hielt in seinem tiefsten Inneren Ausschau nach Empörung, nach Zorn, nach dem quälenden Schmerz, der durch Verrat verursacht wurde. Es hätte alles da sein müssen, die ganze Palette. Doch da war nichts.

Überhaupt nichts.

Vier Jahre, sagte er sich. Das ist doch gar keine so lange Zeit.

Scheiße, du weißt doch besser als jeder andere, wie lang vier Jahre sein können.

Wenn du schon Mühe hast, auch nur einen Tag lang zu überleben.

»Henry«, sagte sie, und er richtete die Aufmerksamkeit wieder auf sie. »Das ist mein Leben. Hier. Es musste einfach so kommen – hast du denn nicht gespürt, wie das Universum es uns sagte? Es sagte mir, dass ich weiterziehen solle. Und dir sagt es das auch. Zieh weiter, Babe …« Sie stockte und zuckte bei der Erwähnung des alten Kosenamens zusammen, doch dann fasste sie sich wieder und fuhr fort. »Zieh weiter. Du kannst nicht dortbleiben. Das musst du auch nicht. Geh von dort weg und komme in die Sicheren Staaten. Finde dein Glück.«

Ich werde niemals glücklich sein. Ihre Worte an jenem Tag an Hannahs Grab.

Vielleicht überkam sie nun die gleiche Erinnerung. »Du hattest recht, Henry. Das ist es, was Hannahs Geist für uns wollte. Dass wir ein neues Leben anfangen.«

Noch mal von vorne anfangen, sagte er sich. Noch mal von vorne anfangen, genauso wie Joan Roark.

Ohne Danielle noch mal neu anfangen. Geh nach Osten, nimm Osbourne beim Wort, bring ihm den Impfstoff. Kehre in die Zivilisation zurück. Lass dir dieses große Bankguthaben auszahlen, das Ben für dich angespart hat, und kauf dir ein wunderschönes beschissenes Haus und lebe dort glücklich, aber irgendwie doch nicht glücklich

Und warte darauf, dass dieses ganze verdammte Chaos wieder ausbricht.

»Und bitte, Henry, bitte, bitte, mach dir keine Vorwürfe. Es war nicht unsere Schuld …«

»Bist du glücklich, Delle?«, fragte er sich laut. Es war ihm egal, ob Osbourne ihn über die Lautsprecher hörte. Er rieb sich mit den Fingerknöcheln das Kinn und musterte sie.

Ja, gab er sich selbst die Antwort. Sie ist ziemlich glücklich.

Ihr Mund öffnete sich, aber sie schien nun alles gesagt zu haben. Sie schüttelte in einer zärtlichen Geste den Kopf. »Pass auf dich auf, Henry …«

Mitten im Satz löste sie sich in Schwärze auf. Das Video wurde gestoppt, und sie verschwand, wurde ihm zum zweiten und letzten Mal in seinem Leben abrupt entrissen. Und in dieser Leere konnte er beinahe sehen, dass sie ihn wie eine Atemwolke an einem kalten Tag verließ – als wäre er wieder ein Junge, der zuschaute, wie seine Lebensessenz verwirbelt wurde und sich in der Luft auflöste, unwiederbringlich und für immer verschwunden –, und dann wurde er genauso schnell in die Gegenwart zurückkatapultiert; er war wieder ein zweiundvierzig Jahre alter Mann, der sich in seinem einsamen Heim im vom Tod gezeichneten und von Schmutz überzogenen Arizona über seinen Schreibtisch beugte.

»Tschüss, Delle«, sagte er.

Das Universum antwortete mit Schweigen.

13.3

Auf dem Bildschirm tauchte wieder Osbournes hässliche, grinsende Visage auf.

»Sie haben genug gesehen, Doktor. Sie wissen nun Bescheid«, sagte er. »Ihre Frau – ich bitte um Verzeihung, Ihre Ex-Frau ist hier und am Leben. Das bedeutet, dass Ihre persönliche Mission in den Evakuierten Staaten nicht mehr relevant ist. Völlig sinnlos, genau gesagt.«

Der Direktor stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und verschränkte die Finger.

»Ich freue mich natürlich für Sie«, sagte er honigsüß. Seine Stimme triefte nur so von Falschheit. »Dass diese schreckliche Last endlich von Ihnen genommen wurde. Was uns wieder zum eigentlichen Thema zurückführt. Im Lichte dieser Enthüllungen … da Sie nun keinen triftigen Grund mehr haben, an Ihrem derzeitigen Aufenthaltsort zu verweilen … werden Sie mir doch diesen Impfstoff bringen, Doktor, nicht wahr? Unsere ursprüngliche Vereinbarung gilt noch immer. Amnestie.«

»Sie wussten über sie Bescheid«, sagte Marco, und aus seiner müden Stimme hörte er weder Erstaunen noch Entrüstung heraus. Es war nur eine Feststellung. »Dass sie noch am Leben war. Sie wussten es die ganze Zeit. Ich würde einen verdammten Dollar darauf wetten, dass Sie schon beim ersten Anruf dieses Video in der Hinterhand hatten. Für den Fall, dass Sie es damals schon gebraucht hätten. Nur dass Sie es nicht brauchten. Ich habe den verdammten Job angenommen – ich dummer Hund.«

Selbst seine Flüche klangen erschlafft wie Reifen, aus denen die Luft entwichen war.

Es war ihm nichts mehr geblieben.

Osbourne bedachte ihn mit einem fragenden, vielleicht sogar wohlwollenden Blick. Die Haut um seine Augen spannte sich. »Natürlich wusste ich es, Doktor Marco. Es ist mein Job, Bescheid zu wissen. Ich könnte Ihnen sogar die Schuhgröße von jedem Terroristen im Nahen Osten nennen, wenn Sie danach fragten. Um Ihre vermisste Frau ausfindig zu machen, habe ich nicht einmal einen Vormittag gebraucht. Ich war schon vor dem Mittagessen fertig.«

Fick dich, dachte Marco, aber es kam im Grunde auch gar nicht darauf an, was Osbourne wusste – weder heute noch damals. Er war nämlich in Gedanken schon wieder bei Danielle, rief die frische Erinnerung wach, wie sie auf dem Sofa gesessen hatte vor den Blumen in der großen Vase und den grünen Bäumen vor dem Fenster. Ich fühle mich hier lebendig, hatte sie gesagt. Danielle war nicht tot. Aber seine Ehe …

Seine Ehe war schon seit langer, langer Zeit tot gewesen.

Zerfallen, verrottet, von Würmern durchsetzt.

Und schließlich begriff er es – begriff, dass er sich in diesen letzten vier Jahren nach allen Regeln der Kunst etwas vorgemacht hatte. Eine Illusion, um seine Ehe am Leben zu erhalten, sie künstlich zu beatmen und das Herz mit Elektroschocks wiederzubeleben, weil es von selbst nicht mehr zu schlagen vermochte. Die ständige Suche, das ewige Wiederkehren an dieselben verdammten Orte – die Besessenheit, mit der er jeden glücklichen Moment neu erlebt hatte, den er aus diesen hundert Milliarden Gehirnzellen im Kopf hervorzukramen vermochte …

Tech Town

Die Nächte in LA

Lake Hemet

Und tausend andere Begebenheiten, alle tot, längst tot, für immer in der Vergangenheit begraben.

Und er war die Kraft gewesen, die Danielle immer und immer wieder reanimiert hatte. Weil er es nicht akzeptieren konnte, dass ihre Liebe verklungen war. Dass es vorbei war.

Du suchst nach Ausflüchten, Henry. Du suchst doch immer nach Ausflüchten.

Er hatte ihre Ehe immer und immer wieder aus dem Grab geholt. Seine ganz persönliche Auferstehung.

»Doktor Marco.« Osbourne riss ihn in die Gegenwart zurück.

Marco starrte den Direktor müde an. Was nun? In Osbournes Gesicht mit dem ausgehungerten Ausdruck sah er die Sicheren Staaten auf ihn warten, begierig, ihn wieder zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft zu machen – ihn in einem Räderwerk aus den Fängen der Regierung der Neuen Republikaner, Regeln und Verboten, Politik und Beziehungen, blöden Fernsehshows und den banalsten Verrichtungen wie Einkaufen zu zermahlen. Eine Gesellschaft, die ihn förmlich verschlingen würde, ihn in immer kleinere Stücke schreddern würde, bis nichts mehr von ihm übrig wäre. Lebendig, aber ein Nichts.

Wenigstens töteten die hiesigen Leichen einen zuerst.

Er schauderte.

Er war nicht dazu bereit. Nicht dazu.

Vor Danielle hatte er sich einfach vom Leben treiben lassen. Keine Freunde, keine sozialen Kontakte, nicht einmal ein gottverdammtes Handy. Und dann war er ihr begegnet. Danielle. Seiner Verbindung zum Leben.

Doch nun …

Zu seiner Verwunderung lachte er glucksend.

»Bleiben Sie dran«, sagte er zu Osbourne und hob einen Finger. »Nur einen Moment.«

Er beugte sich nach unten, öffnete die unterste Schreibtischschublade und durchsuchte die Hängeregistratur, die mit durch Gummibänder verschlossene Aktenmappen bestückt war. Von hinten holte er einen neuen Ordner und einen unbenutzten Gefrierbeutel hervor. Als er die Schublade gerade mit einem Stiefeltritt schließen wollte, fiel sein Blick auf den ersten Ordner in der Registratur.

Flynn, Thomas.

Sein nächster Auftrag – der vermisste Holzfäller; der Auftrag, den Ben für Januar gebucht hatte.

Er ließ die Schublade offen und drehte sich nachdenklich zum Schreibtisch um. Er spürte, dass Osbourne ihn ungeduldig beobachtete. Die pechschwarzen Pupillen des Mannes glühten förmlich, doch Marco war das egal. Er folgte seinem eigenen Rhythmus und ließ sich nicht hetzen. Aus der Tasche holte er das schwammartige Stück von Rogers Gehirn und steckte es in den Gefrierbeutel.

»Ist das …«, sagte Osbourne.

»Noch nicht«, sagte Marco. Er stopfte auch die Ampulle mit dem Impfstoff in den Plastikbeutel, der nun prall gefüllt war, aber das machte nichts. Er befestigte den Beutel mit drei roten, breiten Gummibändern in der Aktenmappe. Dann öffnete er die oberste Schublade, fand einen schwarzen Textmarker und beschriftete den Ordner mit Ballard, Roger.

Er hob den Ordner hoch, damit Osbourne ihn sehen konnte.

»Da ist alles drin, was Sie brauchen«, erklärte er. »Der Impfstoff. Und für einen Extra-Stern auf meiner Berichtskarte eine Original-Gewebeprobe von Roger Ballard. Ich lasse das in einer Mappe auf meinem Schreibtisch liegen. Sagen Sie Ihren Laufburschen Bescheid, damit sie es auch finden. Und sie können sich auch in der Küche bedienen. Wird aber nicht mehr viel da sein.«

Osbourne presste beide Hände auf den Schreibtisch. Er war wütend. Marco glaubte fast, einen Soundeffekt von splitterndem Holz zu hören. Er lächelte zufrieden. Na also. Jetzt ist er angepisst.

»Doktor«, sagte Osbourne knurrend. »Sie haben meine Geduld nun genug strapaziert. Betrachten Sie das als letzte Warnung. Entweder Sie kooperieren – unverzüglich –, oder das Angebot für die Sichere-Staaten-Amnestie und alle damit verbundenen Privilegien werden widerrufen. Und zwar für immer, das versichere ich Ihnen.«

Marco schob den Stuhl zurück und stand auf. »Ich werde die Haustür abschließen – ich will nicht, dass Leichen reinkommen und das Haus verwüsten. Sie dürfen das Schloss gern aufschießen.«

»Doktor Marco.«

»Marco«, sagte Ben, der bisher von der Kamera nicht erfasst worden war, und schob sich hinter Osbourne ins Bild. »Komm schon, Mann, sei doch nicht so stur. Das ist deine Chance.«

»Ganz genau«, sagte Marco. »Meine Chance.«

Ihm wurde schwindlig vor Entzücken, als Osbourne in Rage geriet. Eine gezackte Ader schwoll an der chirurgisch gestrafften Stirn des Mannes an, und dünne Sehnen spannten sich steif und starr entlang des Halses, als ragten plötzlich Bambusrohre aus dem mit einem weißen Kragen besetzten Hemd. Marco legte den Ordner auf den Schreibtisch und richtete die Kamera so aus, dass sich die mit den Gummibändern umwickelte Mappe in der Mitte des Bildes befand.

Damit du auch schön was zu gucken hast, du Arschloch.

»Ich werde das hierlassen, während ich ein paar Dinge erledige«, sagte er. »Viel Spaß.«

Er hatte den Raum zur Hälfte durchquert, als Osbourne ihn ein letztes Mal rief.

»Doktor.« Beiläufig, als wäre innerhalb von fünf Schritten alles vergeben und vergessen worden.

Marco drehte sich zögerlich um. »Ja?«

»Ich werde Ihre Entscheidung respektieren«, erklärte Osbourne und senkte den Kopf. »Das ist dem Umstand geschuldet, dass wir in Zukunft vielleicht noch einmal aufeinander angewiesen sein werden. Wie Sie sich vorstellen können, wartet bei der Verteidigung eines neuen und sicheren Amerika noch viel Arbeit auf uns. Vielleicht werden noch mehr Aufträge – Rückgaben‹, wie Sie sich ausdrücken, im Interesse der nationalen Sicherheit vergeben. Allerdings …« – nun verdüsterte seine Stimme sich wieder und nahm einen ominösen Unterton an – »habe ich Ihre Weigerung, mir entgegenzukommen, zur Kenntnis genommen.«

Die unausgesprochene Drohung hing für ein paar Sekunden in der stickigen Luft.

»Fick dich«, sagte Marco. »Ich will deine Jobs überhaupt nicht.«

Er verließ den Raum. Osbournes satanisches Lachen schlug sich wie Klauen in seinen Rücken.

»Sie werden sie wollen, Doktor«, rief Osbourne. »Sie werden schon sehen.«

13.4

Drei Stunden später war der Lkw mit Kleidung, Feuerwaffen, Campingausrüstung, Koffern, Landkarten und Proviant beladen sowie dem Orangensaftpulver und den Konservendosen aus der Küche – die Vorräte würden für eine Woche genügen, schätzte er, und dann würde er sich eben neue beschaffen müssen. Außerdem nahm er noch ein paar Bücher, sein Lieblingskissen vom Bett im Schlafzimmer und den Computer mit. Er hatte Osbourne mitten im Satz den Stecker gezogen. Seien Sie doch vernünftig, Doktor, und denken Sie nach, hatte Osbourne noch eindringlich gesagt, und dann hatte es nur noch Klick gemacht, als er die Festplatte heruntergefahren hatte. Ein weißes Pixel war über den Bildschirm geflitzt und verschwunden wie der letzte Stern, der am Ende der Zeit erlosch.

In einem Pappkarton auf dem Boden vor dem Beifahrersitz des Lkw befanden sich alle Ordner der bisherigen Aufträge, alle Ringe und Halsketten, Armbänder und Armbanduhren, die er im Lauf der Jahre gesammelt hatte. Er würde sie eines Tages zurückgeben, aber nicht in näherer Zukunft. Ganz oben lag der Ordner von Thomas Flynn, gefüllt mit eselsohrigen Blättern mit Notizen, Fotos und Abschriften der Gespräche, die er vor zwei Monaten mit Gary Flynn geführt hatte – Toms trauerndem Vater. Ein patenter Mann.

Flynn zurückzugeben ist eine gute Sache, sagte Marco sich. Das hält mich auf Trab.

Auf dem Schreibtisch in seinem Büro lag Rogers Akte noch dort, wo er sie abgelegt hatte, und wartete auf die Abholung. Ohne Zweifel würde Osbourne eine weitere Schlägertruppe losschicken, um die Beute einzusammeln – wahrscheinlich war der Befehl bereits ausgegeben worden, und das Team wurde schon zusammengestellt.

Vielleicht bin ich auch paranoid, dachte Marco. Vielleicht sind es ja nette Kerle, und ich könnte ihnen einfach den Impfstoff überreichen, und wir würden dann ein Bier zusammen trinken, Witze über Onkel Owen reißen und Spaß haben.

Vielleicht. Oder vielleicht würden sie mir auch einfach nur eine Kugel in den Kopf jagen.

Zum Teufel, nein, dieses Risiko wollte er nicht eingehen. Er hatte keinen Grund, weiter in Gold Canyon zu bleiben – nicht mehr. Danielle würde nicht mehr zurückkommen. Sie war weitergezogen.

Seine Augen verschleierten sich. Jetzt bin ich an der Reihe.

Ein Gutes hatten die Evakuierten Staaten immerhin – es gab viele Möglichkeiten, sich zu verstecken. Häuser, Bürogebäude, Hotels, Einkaufszentren oder eine Höhle irgendwo in den gottverdammten Bergen. Osbourne konnte hundert Suchtrupps aussenden, und sie würden ihn trotzdem nie finden.

Und die Reiter – was war mit ihnen? Streifte noch immer eine Armee durch den Westen, beseelt vom Drang, ihn zur Strecke zu bringen und Rache zu üben für das, was er Monsterschädel und den anderen angetan hatte?

Marco seufzte. Ja, Henry, sagte er sich. Du solltest dich für eine Weile besser bedeckt halten.

Aber vergiss eines nicht. Das Problem mit Verstecken.

Du glaubst, dass du sicher bist … bis es sich als Irrtum erweist.

Er öffnete die Hände am Lenkrad. Der linke Ringfinger sah bizarr aus – die gebräunte Haut wurde in der Mitte von einem weißen, runzligen Hautstreifen durchbrochen.

Im Büro lag ein zweiter Ordner neben dem von Roger auf dem Schreibtisch. Ein neu angelegter Vorgang. Marco, Henry war auf das Etikett gekritzelt, und in der Mappe, in einem Gefrierbeutel, lag sein Ehering.

Er wusste zwar nicht genau, weshalb er das getan hatte, doch irgendwie fühlte er sich nun besser. Es wirkte … wohl offizieller, dachte er. Aus und vorbei.

Er fragte sich, ob die Schlägertruppe Osbourne auch seinen Ring mitbringen würde.

Am unteren Ende der Zufahrt bugsierte er den Lkw durch das Tor und warf einen letzten Blick in den Rückspiegel. Er würde nie mehr zu diesem Haus zurückkehren. Er sagte ihm stumm »Auf Wiedersehen« und bedankte sich für die schöne Zeit. Wie er das Haus so dastehen sah – dunkel, verschlossen und leer –, hatte er das Gefühl, dass auch in ihm eine Tür geschlossen und verriegelt wurde. Es kreisten schon Geier am Himmel, schwarze Flecken, die sich sammelten, als zöge ein Sturm auf. Irgendwo in der Nähe mussten wohl Leichen unterwegs sein, dachte er. Er räusperte sich und bog von der Zufahrt nach links ab.

Nach Norden, sagte er sich. Norden ist gut.

Zum Teufel, er kannte sogar ein tolles Ferienhaus an einem See in Montana.

Zehn oder elf Leichen begrüßten ihn draußen auf der Straße – sein Blick fiel auf einen Mann mit Pferdeschwanz und einer Starbucks-Schürze, eine ältere Frau, die schwarz und knusprig verbrannt war, und einen weißäugigen Postboten in einer kurzen blauen Uniformhose, in dessen Brustkorb etwas steckte, das wie eine Brechstange aussah. Sie warfen ihre verwesten Arme in die Luft und stießen schreckliche, aber fröhliche Laute aus aufgerissenen Kehlen aus, als hätte man eine Abschiedsparty zu seinen Ehren organisiert. Er fuhr mitten durch die Menge und ignorierte das Grunzen und das Klatschen der Hände, die verzweifelt gegen die Türen schlugen. Der Lkw hoppelte in einer Kurve über den Bordstein, dann trat er aufs Gas und ließ sie zurück.

Die Wahrheit war, er hatte sich daran gewöhnt. An die Leichen, an das Leiden. Dieses Leben hatte er auch für sich gewählt, hier im Schattenreich zwischen Leben und Sterben. Nur Henry Marco und die Leichen und all die sinnlosen Erinnerungen, die in ihren verwirrten Köpfen herumspukten. Auch in seinem.

Auf der Route 60 kurbelte er das Fenster herunter und sah die öde Landschaft an sich vorbeiziehen – das Gestrüpp, die Ocotillos, die zerfallenden alten Bretterzäune und hier und da einen korrodierten, mit Schmutz verkrusteten Funkmasten. Ja, die Wüste von Arizona war eine endlose braune Fläche. Und doch wurde das Braun überall von Grün durchsetzt – eine Vegetation, die sich der Umgebung anpasste.

Hier draußen war Braun die Farbe des Lebens.

Er erinnerte sich an eine geführte Wanderung, die er vor fünf Jahren – im Sommer, in dem sie hierhergezogen waren – mit Danielle durch ein Reservat in der Nähe von Tucson unternommen hatte. Nachdem sie die ganze Zeit auf einem staubigen Pfad zwischen halb verdorrten Kakteen und kahlem Gestein entlanggewandert waren, hatte der Biologe die Gruppe anhalten lassen und sich neben einem toten braunen Klumpen Vegetation hingekniet, der wie ein verschrumpelter Farn von der Größe eines Baseballs aussah. Eine Rose von Jericho, hatte der Biologe gesagt. Wird auch als die Auferstehungspflanze bezeichnet.

»Auferstehungspflanze«, sagte Marco jetzt halb lachend. »Lächerlich.«

Sie ist nicht tot, hatte der Biologe erklärt. Weil sie kein Wasser speichern kann, verfärbt sie sich in einer Dürreperiode braun und schrumpft, um Feuchtigkeit zu konservieren. Dann fällt sie bis zum nächsten Regen sozusagen in einen Schlaf und stellt alle Stoffwechselfunktionen ein. In diesem Zustand kann sie Jahre überdauern. Man könnte schwören, dass sie tot ist – er hatte im steifen Geflecht herumgestochert, um das zu veranschaulichen –, aber es geht ihr gut. Ein wenig Regen, und sie wird wieder grün. Sie öffnet sich und wächst bis zur nächsten Dürreperiode. Dann wiederholt der Zyklus sich.

Wie ich, wurde Marco sich bewusst, während der Lkw weiter gen Norden fuhr. Er war kein Zombie – jedenfalls noch nicht –, aber er war auch nicht mehr ganz lebendig. Schlummernd.

Braun und Grün. Yin und Yang. Zwei Hälften eines Ganzen.

Und wer weiß? Vielleicht hatte Wu doch recht gehabt. Und Danielle auch. Vielleicht war Hannah direkt neben ihm – ein wunderschöner, erstaunlicher Geist, der ihn begleitete und das Rad in seinen Händen mit sanften Bewegungen auf den richtigen Weg brachte. Und vielleicht, wenn er es versuchte, wenn er dieser unscharfen Linie zwischen Tod und Leben folgte; und wenn er nun doch daran glaubte, woran er nie zuvor geglaubt hatte, dann würde ihm das zuteilwerden, wonach er sich so sehr sehnte. Die Macht, sie wahrzunehmen. Sie zu hören. Sie wiederzusehen.

Er atmete voller Hoffnung tief ein und hielt Ausschau nach einem Hinweis auf ihre Anwesenheit.

Nichts. Nur der muffige Geruch der Vinylsitze des Lkw und der von Schimmel befallenen Dachplane.

Ein schmales Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

Er brauchte nur noch etwas mehr Zeit.