Der Totmannwarner

6.1

Inzwischen waren Stunden vergangen, und die Sonne war hinter dem Jeep immer höher gestiegen, hatte den Zenit erreicht und senkte sich schon wieder, während Marco sich auf den Schienen von Maricopa entfernte. Sie kamen nur langsam voran – mit maximal dreißig Kilometern pro Stunde. Das Gelände neben den Schienen war oft unpassierbar, mit Geröll übersät und von tiefen Gräben durchzogen, sodass Marco dann keine andere Wahl hatte, als auf dem Bahndamm weiterzufahren. Die Fahrt auf den mürben Holzschwellen geriet für den Jeep zu einer Rüttelpartie. Alle paar Minuten stieß eine Felge gegen eine Schiene, sodass die Männer auf den Sitzen umhergeschleudert wurden.

Auf der Beifahrerseite verzog Wu das Gesicht und massierte sich die Schläfe.

»Kopfschmerzen?«, fragte Marco.

»Mir geht es gut«, erwiderte Wu. Er blinzelte und schaute konzentriert in Fahrtrichtung.

Marco verkniff sich ein Grinsen. Eine längere Autofahrt über die Gleise war eine Tortur für den Körper – die ständigen Erschütterungen malträtierten Knochen und Sehnen. Wu hatte ja keine Ahnung, dass er sich morgen wie zerschlagen fühlen würde.

»Sicher«, sagte Marco. Sein Nacken war verspannt, und der Körper schmerzte in unterschiedlichen Schweregraden: vom dumpfen Pochen in den Beinen, auf denen die riesige Leiche gelegen hatte, über das Stechen in den verbrannten Händen bis zum Jucken der trockenen, vom Rauch gereizten Augen. »Mir geht es auch gut.«

Sie durchquerten nun den heißesten Winkel Arizonas, die Sonora-Wüste. Die wasserlose, nur mit Feigenkaktus und Burroweed-Gestrüpp bestandene Einöde erstreckte sich viele Kilometer um sie herum. Menschen lebten hier keine – Gott sei Dank auch keine Leichen –, sondern nur Klapperschlangen, Skorpione und weiter im Südwesten sogar Jaguare. In der Ferne ragten braune Berge empor. Gegen drei Uhr nachmittags zeigte das Thermometer am Armaturenbrett eine Außentemperatur von deutlich über vierzig Grad an, und selbst mit offenen Fenstern und der auf Hochtouren arbeitenden Klimaanlage war es stickig im Jeep. In der schweißtreibenden Atmosphäre schwang zudem eine unausgesprochene Besorgnis mit. Die Sonne brannte unerbittlich vom Himmel; sie stach durch die Frontscheibe und brandete wie eine heiße Woge gegen Marcos Stirn an.

Vor dem Jeep huschte ein gefleckter Leguan über die Gleise und verschwand in einem roten Geröllhaufen. Wu drehte den Kopf und folgte dem Tier mit dem Blick.

»Das wäre eine gute Mahlzeit gewesen«, bemerkte er. »Wie sieht es mit Ihrer Verpflegung aus?«

Marco wies auf den Rücksitz. »Trockenfleisch, Wasser und Einmannpackungen, die ich in verlassenen Armee-Lkw gefunden habe – für mich mehr als genug. Ich werde aber gern mit Ihnen teilen, obwohl ich nicht mit einem Gast zum Abendessen gerechnet habe.«

»Ich bin nicht auf Ihre Hilfe angewiesen.« Es schwang unüberhörbare Herablassung in der Stimme des Soldaten mit.

Das ärgerte Marco. Na schön, du Arschloch. Dann fang dir eben einen beschissenen Leguan.

Wu schien überhaupt nicht bemerkt zu haben, dass er Marco gerade beleidigt hatte. Er wandte den Blick vom Fenster ab und riss den Kopf erst nach links und dann nach rechts herum, sodass die Halswirbel knackten. »Wo sind wir jetzt?«, fragte er.

Verdrießlich richtete Marco die Aufmerksamkeit wieder auf die Gleise. In der Ferne schienen die Schienen sich in der heißen Wüste zu verzerren und mit der flirrenden Luft zu verschmelzen. Beim Blick aus dem Fenster sah er zur Linken kilometerlange geriffelte Sanddünen und Saguaro-Kakteen, die höher aufragten als Telefonmasten. Am Horizont erhoben sich die Gila Mountains mit einer Reihe zerklüfteter Gipfel.

Sie hatten Gila Bend Station vor etwa einer Stunde passiert. Marco hatte den Betonbahnsteig argwöhnisch beäugt, doch zu seiner Erleichterung war nichts unter der Bahnsteigkante hervorgekrochen, um sie abzufangen, und der Jeep fuhr ohne besondere Vorkommnisse daran vorbei.

»Wahrscheinlich schon in der Nähe von Yuma«, mutmaßte er.

Er hatte die Route bereits mit Wu geplant; ein paar Kilometer hinter Maricopa hatte er das Handschuhfach geöffnet und seine Sammlung von Eisenbahn-Streckenkarten herausgeholt. Er hatte Wu den dicken, mit Gummibändern umwickelten Stapel gegeben und auf eine verknickte gelbe Broschüre ganz oben gedeutet.

SUNSET LIMITED stand darauf. Das war die Amtrak-Linie, die in westlicher Richtung nach Yuma verlief und dann über die Grenze von Arizona bis nach Kalifornien. Marco hatte Wu die Stelle gezeigt, wo sie kurz hinter San Bernardino die Gleise verlassen und die letzten Kilometer bis nach Sarsgard wieder auf der Straße zurücklegen würden.

Wu hatte die Karte flüchtig studiert. »Einverstanden«, war sein einziger Kommentar. Allerdings in einem Ton, in dem mitschwang, dass er eine andere Route gewählt hätte, wenn man ihn früher gefragt hätte. Er legte den Stapel wieder ins Handschuhfach und schloss die Klappe.

Die weitere Fahrt war überwiegend schweigend verlaufen. Marco wusste immer noch nicht so recht, was er von Wu halten sollte. Der Sergeant hatte kaum ein Wort gesprochen, seit sie Maricopa verlassen hatten, und sich stattdessen damit beschäftigt, Marcos überall verstreute Ausrüstung wieder einzusammeln. »Ihre Waffe«, hatte er einmal süffisant gesagt, sich gebückt und die vermisste Glock zwischen den Sitzen hervorgezogen; dann hatte er die Pistole ins Holster gesteckt, das Marco um die Kopfstütze des Fahrersitzes gehängt hatte. Anschließend hatte er wie in Trance stur geradeaus durch die Frontscheibe geschaut, während sie Kilometer um Kilometer abspulten – er hatte den Rücken durchgedrückt, die Hände auf die Knie gelegt und tief durch geblähte Nasenlöcher eingeatmet. Auf dem Rücksitz lag sein ramponierter, verschmutzter Armeerucksack, dem bereits ein Schulterriemen fehlte. An der Seite waren zwei martialisch aussehende Messer befestigt; sie waren sichelförmig und hatten einen Griff in der Mitte.

»Coole Messer«, sagte Marco. »Das ist aber sicher keine Standard-Armeeausrüstung.«

»Das sind meine eigenen«, sagte der Sergeant, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Hier draußen können wir unsere Bewaffnung selbst zusammenstellen.« Er presste die Lippen fest zusammen und gab Marco damit zu verstehen, dass er an einer Fortsetzung des Gesprächs nicht interessiert war.

»Mir gefallen sie jedenfalls. Vielleicht spendiere ich mir zum Geburtstag auch ein paar.« Marco sah ihn verstohlen von der Seite an. Wus linke Wange wurde von einem Bluterguss gezeichnet, der sich vom Kieferknochen bis zum Ohr hochzog. Und in der Mitte sah man deutlich die weißen Abdrücke von Fingerknöcheln.

Man hatte ihm vor Kurzem einen Schlag versetzt. Einen harten Schlag.

Marco runzelte die Stirn. Wer hat ihn geschlagen? Wu hatte nichts davon erwähnt. Nur seinen Kampf mit dem toten Mann, Baines. Hat Baines ihm ein Pfund verpasst?

Wieder keimte in Marco der Verdacht auf, dass Wu ihm etwas verschwieg.

Mist. Er gestand sich das zwar nur ungern ein, doch Wu verursachte ihm Unbehagen; ein Unbehagen, das über die natürliche Beklemmung hinausging, die ein Zivilist in der Anwesenheit eines Soldaten verspürte. Der stumm dasitzende Wu machte irgendwie den Eindruck eines Springteufels, der scheinbar friedlich in seiner Kiste hockte und nur darauf wartete, dass jemand so lange an dem Ding herumfummelte, bis er endlich herauskatapultiert wurde …

Marco seufzte und lockerte den Griff um das Lenkrad.

Na schön, scheiß drauf, sagte er sich.

Und scheiß auch auf Osbourne, dieses Arschloch von den Neuen Republikanern. Was auch immer diese beiden Schwachköpfe insgeheim planten, Marco war nur daran gelegen, Roger zurückzugeben und dann auf direktem Weg nach Hause zurückzukehren. Lebendig. Und an einem Stück. Dann soll Wu eben glauben, ich sei inkompetent oder ein Trottel oder ein Hindernis für diesen Auftrag. Oder auch alles zusammen. Ist mir schnurz.

Marco wusste es nämlich besser. Warte nur ab – morgen werde ich schon derjenige sein, der dir den Arsch rettet.

Er registrierte, dass Wu ihn interessiert beobachtete. Schnell bügelte er den grimmigen Ausdruck glatt, der sich in sein Gesicht gestohlen hatte. Pokerface, Henry, sagte er sich. »Wir sind jetzt definitiv in der Nähe von Yuma«, sagte er aus zugeschnürter Kehle und deutete nach rechts, damit Wu endlich seine grünen Augen von ihm abwandte. »Diese Berge dort sind die Harcuvars. Ihnen vorgelagert sind die Fortuna Foothills. Eine schöne Gegend zum Leben.«

»Nicht zurzeit«, bemerkte Wu.

Marco ignorierte ihn und ließ stattdessen den Blick über die trockenen braunen Gipfel schweifen. Plötzlich tauchte eine Erinnerung in seinem Kopf auf, über die er sich wunderte. »Als ich zum ersten Mal nach Arizona gekommen bin«, sagte er, »musste ich beim Anblick dieser Berge an diese alte Hemingway-Story denken: Hügel wie weiße Elefanten. Nur dass die Hügel hier aussehen wie goldene Katzen. Sehen Sie, was ich meine? Katzen mit mächtigen Schultermuskeln, zum Sprung geduckt. Und wir sind dagegen nur kleine Mäuschen.«

Es überkamen ihn noch mehr nostalgische Erinnerungen. »Wir hätten uns beinahe ein Haus hier gekauft. Fortuna.« Einen Moment lang verlor er tatsächlich den Bezug zur Realität, vergaß, aus welchem Anlass er überhaupt hier war, und vergaß, dass es Wu war, der neben ihm saß. Es war ein gutes Gefühl, einfach nur zu reden – nicht über Leichen und nicht über Verträge zu sprechen –, sondern einfach nur zu reden. Er hätte fast gelacht, als er sich bewusst wurde, dass er Small Talk machte.

»Woher kommen Sie eigentlich?«, fragte er Wu. »Ich meine, bevor das alles begann.«

Wu schien mit den Blicken die Harcuvars zu erklimmen und in den Bergen zu verschwinden. Ein Mundwinkel zuckte. »Von weit her«, sagte er mit einem Anflug von Bedauern. Er hielt inne. »Boston.«

»Vermissen Sie es?«

Die Gesichtszüge des Sergeants verhärteten sich wieder. »Nein.«

Marco schniefte. »Meine Güte, Verzeihung. Ich wollte doch nicht persönlich werden.« Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, um die peinliche Situation aufzulösen, und unternahm dann einen neuen Versuch. Er war noch nicht bereit, die Erinnerungen fahren zu lassen. »Wie dem auch sei, Arizona ist gewöhnungsbedürftig, aber es ist auf seine braune und felsige Art auch irgendwie schön. Hier draußen hat man das Gefühl, als ob man … als ob man sich in einer anderen Welt befindet. Was in Anbetracht der aktuellen Lage vielleicht gar nicht das Schlechteste wäre. Wir haben dann drüben in Gold Canyon ein Haus gekauft. Mann, was für eine Aussicht – ein Unterschied wie Tag und Nacht zu LA. Die Superstition Mountains waren praktisch unser Hinterhof.«

Was für eine Ironie, hatte Danielle gesagt. Dass gerade du hier lebst – der am wenigsten abergläubische Mensch, dem ich je begegnet bin.

Wu quittierte das mit einem gelangweilten Kopfnicken. Er hatte sich inzwischen wieder auf Marco konzentriert.

»Erzählen Sie mir etwas von Roger Ballard«, sagte er mit ernster und geschäftsmäßiger Stimme.

Marcos Kehle verengte sich noch mehr. Der Small Talk war jetzt offiziell beendet.

6.2

Die Frage nach Roger hatte Marco unsanft aus seinen schönen Erinnerungen gerissen und ihn in die Wirklichkeit zurückkatapultiert. Danielle war schon wieder verschwunden. Der Jeep walzte ein paar Weinkakteen platt, und Marco lenkte ihn wieder auf die Gleise. Wu beäugte ihn erwartungsvoll.

»Roger?«, sagte Marco und versuchte sich zu konzentrieren. »Ach so.«

Die Verärgerung, die er vor einigen Minuten verspürt hatte, meldete sich umso stärker zurück. Er hatte keine Lust, über Roger zu sprechen. Verdammt, sagte er sich. Wu und Osbourne haben Geheimnisse vor mir. Wieso darf ich dann nicht auch eins haben?

»Fragen Sie doch Ihren Boss«, antwortete er. »Osbourne weiß über alles Bescheid.«

»Wie ich sehe, sind Sie nicht sehr kooperativ«, sagte Wu nach kurzer Überlegung. »Aber die Antwort könnte nützlich sein.«

Nützlich. Erst gestern hatte Osbourne Marco mit dem gleichen Wort etikettiert. Und wieder sträubte Marco sich dagegen – gegen die Vorstellung, ein Werkzeug in den Händen einer anderen Person zu sein. Von ihr benutzt zu werden.

Wu schien seine Gedanken zu lesen. »Ihnen ist doch klar, Doktor, dass ich in der gleichen Lage bin wie Sie. Ich bin nur Unteroffizier, deshalb habe ich keinen Zugang zu Geheiminformationen. Wenn Sie glauben, ich wäre über alle Einzelheiten dieser Mission informiert – dann täuschen Sie sich. Ich bin nur ein Bauer in diesem Schachspiel, genau wie Sie. Wir entscheiden nicht über den nächsten Zug, und wir wissen auch nicht, wieso der Zug gemacht wurde. Wir werden einfach bewegt und schlagen eine andere Figur. Ich persönlich würde aber gern mehr über die Figur wissen, die wir schlagen sollen. Über Ballard.«

Wu verstummte. Große Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er wischte sie mit dem Handrücken ab und trocknete seine Finger am Gebläse der Klimaanlage. »Soweit ich das beurteilen kann, Doktor, haben wir beide das Gefühl, einen unnötigen Partner am Hals zu haben. Aber ich glaube, dass wir uns gegenseitig unterschätzen. Ich weiß nämlich, dass Onkel Owen Sie für sehr kompetent hält.«

Marco blinzelte. »Onkel …?«

»Direktor Osbourne«, stellte Wu richtig. »Er ist kein Verwandter von mir. Onkel Owen‹ ist nur der Spitzname, den die Medien Osbourne gegeben haben. Verfolgen Sie denn nicht die Nachrichten?«

»Ich bin in letzter Zeit kaum dazu gekommen. Aber wieso Onkel‹?«

»In Anlehnung an Onkel Sam‹, könnte ich mir vorstellen. Weil er nämlich die besten amerikanischen Tugenden verkörpert. Ein patriotisches Idol, das die Interessen der Nation schützt.«

Marco stieß ein lautes, bellendes Lachen aus. Der Jeep hoppelte über einen Abschnitt, in dem sich vier oder fünf Schwellen unter den Gleisen gelockert hatten. »Ja, das passt perfekt. Dieser hässliche Piranha auf dem Rekrutierungs-Plakat: Ich will dich.«

Er grinste und stellte dann zu seiner Überraschung fest, dass Wu mit versteinertem Gesicht neben ihm saß. Er hatte das eigentlich für einen scherzhaften Wortwechsel gehalten und den Eindruck gehabt, der Sergeant käme endlich einmal aus sich heraus – aber der Eindruck hatte offensichtlich getrogen. Der Sergeant sah ihn mit kalten grünen Augen unverwandt an.

»Na gut«, sagte Marco unsicher. Er hustete und räusperte sich. »Aber ich verstehe immer noch nicht, weshalb Osbourne ein Idol ist?«

»Osbourne war zum Zeitpunkt der Auferstehung Leiter des Heimatschutzministeriums. Und im nächsten Jahr hat er mehr oder weniger im Alleingang die Bewegung der Neuen Republikaner ins Leben gerufen und Präsident Garrett den Schwarzen Peter zugeschoben. Mit seinen Hetztiraden und ständigen Vorwürfen hat er Hoff dann zum Wahlsieg verholfen. Die Sicheren Staaten sind sozusagen sein Kind.«

Marco glaubte noch die Brandreden der Neuen Republikaner zu hören, mit denen sie Gesetze durch einen geschwächten Kongress peitschten. Ohne einen Impfstoff gegen die Auferstehung, hatten sie getönt, ist der Westen verloren. Hoffnungslos verseucht. Die Evakuierten Staaten werden für alle Zeiten ein Sperrgebiet sein.

Die Sicheren Staaten sind Amerikas Zukunft.

Aber wir werden euch beschützen. Verleiht uns Macht.

Fürchtet euch sehr

Und dann riss der Sergeant Marco aus seinen Gedanken.

»Also«, sagte Wu. »Roger Ballard.«

Marco schaute grimmig. »Meine Güte, Sie geben wohl nie auf, oder? Ich würde lieber über Politik sprechen.«

Wu musterte Marco mit düsterem Blick. »Doktor Marco. Der Erfolg oder Misserfolg einer Mission kann schon von einem einzigen Detail abhängen. Als Arzt werden Sie mir da sicher zustimmen. Wenn Sie eine Operation durchführen, benötigen Sie doch auch Informationen über alle Symptome. Selbst wenn sie noch so unbedeutend erscheinen mögen.«

Marco verzog das Gesicht. »In Ordnung. Ich weiß, worauf Sie hinauswollen.«

»Sie legen genauso großen Wert auf die Einzelheiten wie ich. Also erzählen Sie mir etwas über Ballard, und ich werde Ihnen alles sagen, was ich über unseren Auftrag weiß. Das ist doch nur fair, oder?«

»Kommt darauf an, wer den Anfang macht. Treffen wir eine Abmachung unter Ehrenmännern?«

»Ehre bedeutet mir alles.«

»Gut. Nach dem Motto lieber ehrenvoll sterben, als unehrenhaft weiterzuleben‹ und so weiter.« Marco fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Vom vielen Reden war sein Gaumen trocken. Er griff nach der Feldflasche, die zwischen seinen Füßen lag, und nahm einen großen Schluck. Am liebsten hätte er sich das Wasser über den Kopf geschüttet und das fettige Haar gewaschen, doch stattdessen gab er die Flasche an Wu weiter. Der Sergeant lehnte mit einem leichten Kopfschütteln ab. Marco verschloss die Flasche wieder und legte sie in den Schatten unter dem Sitz.

»In Ordnung«, sagte er. »Das ist eine faire Vereinbarung – es gilt unser Ehrenwort. Ich fange an, und dann wechseln wir uns gegenseitig ab. Und niemand lässt ein möglicherweise interessantes Detail aus.«

»Einverstanden.«

»Gut. Allerdings werden Sie dabei wohl das schlechtere Geschäft machen. Weil ich nämlich nicht viel über Roger zu erzählen habe.«

»Aber Sie kannten ihn doch.«

»Ja«, räumte Marco ein. »Ich kannte ihn. Wir haben beide am Cedars-Sinai gearbeitet. In diesem Krankenhaus in Los Angeles. Ich war in der Neurologie – aber das wussten Sie wohl schon –, und Roger war in der Enzephalopathie. Das wussten Sie wohl auch schon.«

»Er war ein Gehirndoktor«, sagte Wu.

»Für Störungen und Erkrankungen des Gehirns.«

»Wie lange haben Sie zusammengearbeitet?«

»Hm, mal überlegen. Rogers hat am Cedars-Sinai angefangen …« Marco kniff die Augen zusammen, als könnte er so in die Vergangenheit blicken. Es war in dem Jahr gewesen, als er Danielle geheiratet hatte – und in dem Jahr, als seine Mutter gestorben war.

»… 2010«, sagte er schließlich. »2013 bin ich dann nach Arizona gegangen. Also drei Jahre.«

Wu presste die Lippen zusammen. Er wirkte konzentriert. Marco stellte sich vor, wie diese neuen Daten zum Zweck einer späteren Analyse irgendwo im Bewusstsein des Mannes abgespeichert wurden.

»Und Sie waren Freunde?«, fragte Wu.

Marco versteifte sich. Er rutschte auf dem Sitz herum und warf einen Blick in den Rückspiegel; alte Gewohnheiten hielten sich eben hartnäckig. Aber hinter dem Jeep war nichts zu sehen außer endlosem Gestrüpp und Bahngleisen.

Er seufzte. »Freunde. Ja, ich glaube schon. In gewisser Weise. Jedenfalls zu Beginn.«

»Zu Beginn?«

»Ja, zu Beginn seiner Anstellung. Wir kamen beide aus dem Osten, ich von Cornell und er von Yale. Die Leute sagten, er sei ein schwieriger Typ – das kann ich aber nicht bestätigen. Er war im Grunde ein Typ wie ich, nur in einer extremeren Ausprägung – quasi ein Zerrbild. Sie wissen schon, wie in einem Spiegelkabinett, in dem man grotesk verzerrt wird. Ich bin schon kein sehr geselliger Typ, aber Roger kann man mit Fug und Recht als Einsiedler bezeichnen. Er hatte keine Familie und lebte sehr zurückgezogen. Und er war auch intelligenter als ich. Ein ausgesprochen kluger Kopf, und das war in gewisser Weise wohl auch sein Problem. Das menschliche Gehirn war ein absolutes Faszinosum für ihn – was es antrieb und was es blockierte –, aber nie der Mensch an sich. Wenn man ihn nach einer Diagnose fragte, redete er einen praktisch unter den Tisch. Doch auf die Frage, wie sein Wochenende gewesen war, bekam man keine Antwort. Vielleicht ein oder zwei Worte – drei, wenn es ein verlängertes Wochenende war. Er wollte aber nicht unhöflich sein. Er war nur der Ansicht, dass es darauf nicht ankam.«

»Aber er hat Sie trotzdem als seinen Freund betrachtet?«

Marco zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich glaube, dass er mich respektiert hat. Er hat mich für kompetent gehalten. In den Kategorien, in denen Roger dachte, hat mich das wohl für eine Freundschaft qualifiziert. Und weil ich selbst auch kein Plappermaul bin, hat er sich in meiner Anwesenheit wahrscheinlich wohler gefühlt als in der anderer Menschen. Wie gesagt, wir sind miteinander ausgekommen.«

»Ja, zu Beginn, sagten Sie«, konstatierte Wu. »Und zum Schluss nicht mehr?«

Der Jeep hatte inzwischen noch einmal über sechs Kilometer durch die Sonora zurückgelegt, und am nördlichen Rand der Wüste war die Landschaft nun mit spielzeuggroßen Gebäuden, Wohnhäusern und einem Trailerpark gesprenkelt. Die Vororte von Yuma. Auf beiden Seiten der Gleise fiel die Wüste steil ab; Marco hielt sich mit dem Jeep in der Mitte und ging etwas vom Gas. Das Fahrzeug wurde langsamer und ruckelte nicht mehr so heftig. Marco wurde ein wenig schwindlig. Er erinnerte sich an seinen letzten Tag am Cedars-Sinai.

Auf Wiedersehen, Henry, hatte Roger gesagt. Und Marco hatte ihn einfach ignoriert und war an ihm vorbeigegangen.

Benommen griff Marco das Lenkrad noch fester. Die durch die Brandwunden gezeichneten Hände schmerzten noch immer, doch wenigstens wurde er durch den Schmerz in die Wirklichkeit zurückgeholt. Meine Güte, die Fahrt war eine richtige Tortur. Er wartete noch einen Augenblick, bis das Gefühl in seinen Körper zurückgekehrt war, ehe er Wu antwortete.

»Nein, zum Schluss nicht mehr«, gestand er. »Und schon gar nicht zu dem Zeitpunkt, als ich gegangen bin.«

»Und wie ist das gekommen?«

»Weil …«, sagte Marco und verstummte gleich wieder; die Zunge schien ihm nach hinten in die Kehle zu rutschen. »Die Dinge hatten sich verändert«, fuhr er unbehaglich und mit glühenden Ohren fort. »Roger hatte sich verändert – er wirkte immer deprimierter und kapselte sich immer mehr ab. Als ob er sich noch tiefer in sein Schneckenhaus zurückgezogen hätte. Wenn man ihm auf dem Flur oder in der Kantine begegnete, wirkte er immer sehr beschäftigt und streifte die Leute mit seinen Blicken, ohne Notiz von ihnen zu nehmen. Das galt sogar für mich. Er ging an mir vorbei und sagte nicht einmal Hallo.«

Und ich auch nicht, fügte er in Gedanken hinzu.

»Wieso sind Sie gegangen?«, fragte Wu. Marco warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Wie viel wusste der Sergeant bereits? Doch Wus Gesichtsausdruck war starr und nichtssagend.

»Es hatte sich in Arizona eine neue berufliche Perspektive ergeben«, antwortete Marco. »Am St.-Joseph-Krankenhaus.«

Roger Ballard erschien vor seinem geistigen Auge. Das knochige, kantige Gesicht, verfrüht von Falten durchzogen, die Drahtgestellbrille nicht groß genug, um die schweren Tränensäcke unter den Augen zu kaschieren. Das straff zurückgekämmte dichte braune Haar. Hohle Wangen, die in einem schmalen Kinn ausliefen, und die leicht zur Seite verschobene Oberlippe, die den Eindruck vermittelte, er hätte ständig ein spöttisches Grinsen im Gesicht.

Und flüsterte etwas.

»Da war noch etwas Merkwürdiges«, erinnerte Marco sich. »Zum Ende hin hatte er viel in den Bart genuschelt. Man sah ihn am Schreibtisch sitzen und die Lippen bewegen, aber er sprach mit niemandem.«

»Er hat Selbstgespräche geführt? Komisch.«

Marco nickte. »Schließlich machten Gerüchte die Runde, dass er möglicherweise ein Alkohol- oder Drogenproblem hätte. Weil … es gibt da etwas, das Sie noch über Roger wissen müssen. Was ihm wahrscheinlich den Rest gegeben hat.« Marcos Mund war schon wieder trocken. »Es war etwas Schlimmes passiert.«

Wu neigte interessiert den Kopf. »Etwas Schlimmes. Für Ballard?«

»Nein, schlimm für einen Patienten. Aber es betraf Roger trotzdem. Die Leute sagten, es sei seine Schuld gewesen.« Marco holte tief Luft und straffte sich innerlich. Sag es. »Ein Baby war gestorben.«

Wus Augen verengten sich.

»Hypoxische ischämische Enzephalopathie«, fuhr Marco fort und sein Magen drehte sich dabei um. »Geburtsasphyxie. Eine Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff …«

»Aufpassen«, unterbrach Wu ihn und deutete durch die Frontscheibe. »Da vorne ist ein Hindernis.«

Marco setzte sich abrupt gerade hin. »Scheiße«, sagte er und trat voll auf die Bremse.

6.3

Ein Geisterzug blockierte die Schienen, leblos und verwittert wie die abgestreifte Haut einer Schlange. Hundert Meter lang, aus elf aneinandergekoppelten Waggons. Weit voraus rostete eine riesige Lokomotive auf einer Gleiskurve vor sich hin. Verblasste pinkfarbene und grüne, mit vom Wind herangewehtem Staub überzogene Streifen zogen sich an der Längsseite der Waggons entlang. Die Fenster waren verdreckt.

Marco brachte den Jeep fünfzehn Meter hinter dem letzten Waggon zum Stehen. Er ließ den Motor laufen und betrachtete den Geisterzug. »Das ist der Sunset Limited«, sagte er.

Wu kratzte sich am Hinterkopf. »Wie weit noch bis zum nächsten Bahnhof?«

»Yuma. Nicht mehr sehr weit.«

»Gibt es einen Grund, weshalb ein Zug hier halten sollte?«

»Nein«, erwiderte Marco. »Zumindest keinen guten.«

Wu kurbelte das Fenster herunter und lauschte der Wüste.

»Scheint alles ruhig zu sein«, stellte er fest.

Keiner der beiden Männer sagte etwas. Wu hatte recht. Die Sonora schlief in der brütenden Hitze des Tages, und es war nichts zu hören außer dem Summen von Wüstenbienen und dem weit entfernten Ruf – ki-u, ki-u – eines Gilaspechts, der irgendwo im Schatten eines Kaktus saß.

Eine halbe Minute verging. Dann fragte Wu: »Hat er auch einen Speisewagen?«

Marco runzelte die Stirn. »Der Sunset? Sicher. Sie alle haben …«

Er verstummte mitten im Satz, als er begriff, weshalb Wu die Frage gestellt hatte, und bereute die Antwort sofort. Aber zu spät. Wu nickte und öffnete die Tür.

»Warten Sie«, sagte Marco schroff. »Was machen Sie da?«

»Ich will mich einmal umsehen.« Wu schwang die Beine aus dem Jeep und streckte die Arme zum Rücksitz aus. »Dieser Zug ist vermutlich nicht leer von Gila River abgefahren?«

»Da können Sie sicher sein«, sagte Marco mürrisch. Er hatte noch immer beide Hände am Lenkrad. »Ich wette, dass der Sunset Platz für zweihundert Passagiere hat, vielleicht sogar für zweihundertfünfzig. Das Personal noch nicht einmal mitgerechnet.«

»Ich verstehe.« Wu nahm seinen Rucksack und die Kalaschnikow vom Rücksitz. Er zog die Messer aus dem Rucksack und steckte sie sich in den Gürtel, dann hängte er sich das Gewehr über die Schulter.

Marco verspannte sich. Der Motor des Jeeps ließ seine Beine vibrieren und regte ihn zum Weiterfahren an. »Nicht so schnell«, sagte er. »Steigen Sie wieder ein. Wir werden um den Zug herumfahren.«

Wu beugte sich durch die Beifahrertür und schüttelte den Kopf. »Sie haben Ihre Verpflegung schon, Doktor. Und ich hole mir jetzt meine. Aber ich bin auch nicht leichtsinnig. Wir werden die Lage schnell sondieren. Und wenn alles in Ordnung ist – und nur, wenn alles in Ordnung ist –, können wir den Speisewagen durchsuchen. Nach ein paar Minuten sind wir wieder draußen und haben genug Essen, dass wir beide eine Woche über die Runden kommen. Oder würden Sie es lieber riskieren, im Zentrum der nächsten Stadt einem Supermarkt einen Besuch abzustatten? Wie viele Leichen wird es wohl in Yuma geben? Doch sicher mehr als zweihundert.«

Marco öffnete den Mund, sagte dann aber doch nichts. Denn Wu hatte recht. Mit den Vorräten im Jeep würden sie nur die Hälfte der Strecke schaffen; wenn sie zur Neige gingen, würden sie sie sowieso irgendwo ergänzen müssen. Wenigstens stand der Zug allein auf weiter Flur. Es war viel ungefährlicher, als einen Abstecher in die Stadt zu unternehmen.

»Sie vergeuden Zeit, Doktor«, fuhr Wu fort. »Falls es nämlich doch Leichen in diesem Zug gibt, sollten wir endlich handeln, bevor sie wissen, dass wir hier sind. Für den Fall, dass sie so hungrig sind wie wir.«

»Lustig«, sagte Marco. »Sehen Sie – wenn ich Ihnen mal einen Rat geben darf. Hier draußen ist überhaupt nichts einfach. Ich spreche aus Erfahrung. In diesem Moment scheint noch alles in bester Ordnung zu sein, und im nächsten steckt man schon bis zum Hals in der Scheiße. Diese Leichen haben so eine Art … ich weiß, es klingt verrückt, aber sie haben so eine Art, einen zu überlisten. Das liegt vielleicht daran, dass wir zu viel denken und sie sich nur vom Instinkt leiten lassen. Auf jeden Fall habe ich schon gesehen, dass einigen sehr intelligenten Leuten der Kopf abgerissen wurde, nur weil sie ein paar verweste Leichen unterschätzt hatten.«

Er zögerte. »Ihre Einheit, zum Beispiel.«

Wus Gesicht verfinsterte sich.

Marco wurde sich bewusst, dass er ins Fettnäpfchen getreten war. »Es tut mir leid«, sagt er. »Das ist mir so rausgerutscht.«

»Wenigstens sind Sie ehrlich.«

»Ob Sie es glauben oder nicht, ich möchte nicht, dass Sie einen schrecklichen Tod sterben.«

Wu sagte nichts. Er stand nur da und rückte sich das Gewehr auf dem Rücken zurecht. Dann entfernte er sich vom Jeep und ging vier oder fünf Schritte auf den letzten Waggon des Zuges zu. »Kommen Sie!«, rief er über die Schulter.

Scheiße, dachte Marco und fügte sich dann. Na gut.

Er durfte nicht zulassen, dass Wu dieses Risiko allein einging. Wenn der Mann auch noch so arrogant war, noch so seltsam und noch so starrköpfig – er hatte ihm in Maricopa das Leben gerettet. Wu war ohne Zweifel ein furchtloser Kämpfer.

Plötzlich überkam Marco die Erinnerung an das Video aus dem Gefängnis Sarsgard. An den Aufstand von tausend wilden, von Blut durchnässten Leichen. Er schauderte.

Die Wahrheit war, dass er Wus Hilfe in Sarsgard brauchen würde. Und jetzt brauchte Wu seine Hilfe, ob der Soldat sich das nun eingestehen wollte oder nicht. Wir müssen nicht gleich die besten Freunde werden, sagte Marco sich. Aber mein Gott, wir müssen zusammenhalten.

Marco trat sachte aufs Gaspedal und ließ den Jeep rollen, bis er Wu eingeholt hatte. »Hey«, rief er durch das offene Fenster. »In Ordnung, Sie haben gewonnen. Ich komme mit Ihnen.«

»Steigen Sie aus dem Jeep aus«, sagte Wu kurz angebunden und ging weiter.

Marco verdrehte die Augen. »Meine Güte, da will man nett zu Ihnen sein, und Sie machen es einem so schwer. Jetzt hören Sie mal für einen Moment auf, sich wie ein zickiger Teenager aufzuführen, und hören mir verdammt noch mal zu.«

Wu blieb stehen. Dann drehte er sich um und sah Marco skeptisch an.

»Steigen Sie ein«, sagte Marco. »Wir fahren bis zum Speisewagen und lassen den Jeep dort stehen. Mit laufendem Motor, damit wir gleich wieder verschwinden können. Es hat keinen Sinn, so weit entfernt zu parken.«

Wu ließ sich das einen Augenblick lang durch den Kopf gehen und nickte dann. »Einverstanden«, sagte er, öffnete die Tür und setzte sich wieder auf den Beifahrersitz.

Vorsichtig steuerte Marco den Jeep von den Gleisen hinunter auf das abfallende Wüstenterrain. Der Jeep kippte nach rechts, und Marco hörte, wie seine Tasche mit der Ausrüstung auf dem Rücksitz verrutschte. Wu hielt sich mit beiden Händen am Armaturenbrett fest.

Der Jeep fuhr im Schritttempo am Zug entlang. Die massiven dunklen Waggons hatten die Größe von Häusern. Der letzte Waggon war ein doppelstöckiger Schlafwagen, und durch die offene Tür in der Mitte sah Marco eine Metalltreppe im Schatten verschwinden. Mit konstanter Geschwindigkeit fuhr er am Eingang vorbei, ohne dass Wu Einwände erhoben hätte. Wenigstens hat er noch einen Rest von Verstand, dachte Marco. Am Ende des Zuges einzusteigen – und dann durch die schmalen Gänge der Passagierwaggons zum Speisewagen zu gehen – wäre verdammt riskant, und Marco hatte nicht vor, Selbstmord zu begehen. Jedenfalls nicht heute.

Der Jeep fuhr an einem fensterlosen Gepäckwagen vorbei, an den sich vier Waggons mit gerippten Wänden und vor Dreck blinden Scheiben anschlossen …

Plötzlich nahm Marco eine Bewegung wahr.

Hinter einem verschmutzten Fenster blitzte weiße Haut auf. Dann wieder Dunkelheit.

»Oh, Scheiße«, sagte Marco und reckte den Hals. »Haben Sie das gesehen?«

Wu nickte. »Wir halten uns von diesem Waggon fern. Der Speisewagen ist sowieso noch weiter vorne.«

»Sie sagten, nur, wenn alles in Ordnung ist. Danach sieht es aber nicht aus.«

Schließlich war der Jeep auf gleicher Höhe mit dem imposanten Salonwagen. Er überragte sie haushoch. Marco sah ihn langsam an sich vorüberziehen, und elf dunkle Fenster erwiderten seinen Blick wie die Augen eines Aliens. Das Oberdeck wurde von einer dicken Panoramascheibe überwölbt, durch das die Fahrgäste einen schönen Blick auf die Berge Kaliforniens und die funkelnden Sterne in den Wüstennächten hatten. Nur dass nun niemand mehr davon Gebrauch machte. Selbst von unten sah Marco, dass das Glas von etwas überzogen war, das an Schlieren und Spritzer von schwarzem Schlamm erinnerte.

Nur dass es kein Schlamm war.

»Dort ist alles mit Eingeweiden übersät«, sagte er.

Sie holperten nun am Speisewagen vorbei.

»Halten Sie den Jeep an«, sagte Wu. »Wir steigen hier ein.«

6.4

Marco zuckte beim Knirschen verrosteten Metalls zusammen. In der stillen Wüste schienen alle Geräusche verstärkt zu werden – ein dröhnender Weckruf für jede Leiche, die sich vielleicht im Zug aufhielt. Mein Gott, was für ein Irrsinn. Er hielt den Atem an und drückte das Brecheisen noch tiefer in die schwarze Verkleidung, die den Salonwagen und den Speisewagen miteinander verband, und bog das Material auseinander.

Weil der Speisewagen keine Außentüren hatte, konnte man sich am leichtesten Zutritt verschaffen, indem man in den kurzen Durchgang zwischen den Waggons einbrach. Marco hatte sich freiwillig gemeldet und an der unteren Ecke angesetzt, dem einzigen Bereich, den er zu erreichen vermochte. Der Durchgang befand sich in einer Höhe von drei Metern und verband die oberen Decks des Zugs miteinander. Marco hatte sich an den außen angebrachten Handläufen hinaufgeschwungen und sich auf einem gummiummantelten Stromkabel einen unsicheren Stand verschafft. In dieser ungünstigen Position konnte er die eiserne Brechstange nur mit Mühe ansetzen, und fast wäre er hinab in den Staub geschleudert worden, als die Brechstange zurückfederte.

»Beeilen Sie sich«, befahl Wu. Er klang verärgert. »Wenn Sie trödeln, verursachen Sie nur noch mehr Geräusche.«

»Das gilt auch für Reden«, sagte Marco schroff. »Halten Sie bitte die Klappe.«

Er bewegte die Brechstange in der Lücke, wo die Verkleidung mit dem Waggon verschraubt war, hin und her. Seine Hände taten weh. Beim vierten oder fünften Zug spürte er, wie die Brandblasen an den Handflächen aufplatzten und eine wässrige Flüssigkeit zwischen den Fingern hervorquoll. Verdammte Scheiße, dachte er. Die Verkleidung bebte und wölbte sich, begleitet vom Rasseln gelockerter Ketten.

Schweißtropfen spritzten aufs Metall und hinterließen dunkle, feuchte Stellen im Staub. Dann löste die Verkleidung sich schließlich mit einem durchdringenden Quietschen.

Es hatte sich ein schmaler Spalt geöffnet – aber breit genug, um sich hindurchzuquetschen.

»Na also«, sagte Marco atemlos. Erschöpft sprang er vom Zug herunter. »Wir sind drin.«

»Noch nicht«, sagte Wu. »Da wäre immer noch die Verbindungstür zum Speisewagen.«

Sechs Meter hinter ihnen stand der Jeep mit laufendem Motor auf einer Sanddüne. Das Gelände fiel neben der Piste steil ab. Marco hatte in einer gefährlichen Schräglage geparkt; schon als er schlingernd zum Stehen gekommen war, drohten die Räder im Sand wegzurutschen. Hastig hatte er sich mit der Glock bewaffnet, im Rucksack nach der Brechstange und einer Taschenlampe gekramt und die Campingtasche mitgenommen, um die Nahrungsmittel zu verstauen.

Falls wir welche finden, sagte er sich. Vielleicht ist auch gar nichts mehr da. Je mehr er darüber nachdachte, desto weniger gefiel ihm die Idee.

»Hey«, sagte er und drehte sich zu Wu um. »Haben Sie schon mal einen Stein gegen ein Hornissennest geworfen?«

Wu runzelte die Stirn; er schien nicht zu begreifen. Also erklärte Marco es ihm:

»Wie damals, als wir noch Kinder waren, verstehen Sie? Man findet ein Hornissennest – und zunächst passiert überhaupt nichts. Doch dann wirft man aus irgendeinem Grund, den wohl nur ein Kind versteht, einen Stein. Und dann nimmt man besser die Beine in die Hand, wenn tausend zornige Hornissen ausschwärmen, um einem in den Arsch zu stechen.«

Wu sah ihn verständnislos an. Marco seufzte. »Na schön … dann hatten wir vielleicht verschiedene Kindheitserlebnisse. Ich will damit auch nur sagen, dass wir in diesem Moment vor einem riesigen, friedlichen Hornissennest aus Metall stehen. Bevor wir weitermachen, sollten wir kurz innehalten und uns fragen: Sind wir wirklich sicher, dass wir einen Stein dagegenwerfen wollen?«

Wu ließ sich das durch den Kopf gehen. »Doktor«, sagte er schließlich, »sind Sie schon einmal gestochen worden?«

»Äh, nein … ich bin bisher immer davongekommen.«

»Na also«, sagte Wu. »Ich nämlich auch.«

Nachdem diese Frage anscheinend geklärt war, packte Wu die Griffstange, schwang sich geschmeidig – scheinbar schwerelos, mit der Gewandtheit eines Akrobaten und perfekt synchronisierten Bewegungen – an der Wand des Zuges hinauf und bugsierte den Oberkörper in die Lücke. Einen Moment lang hingen die Beine aus dem Loch, dann strampelte er mit den Füßen, und die Dunkelheit verschluckte ihn.

Marco wartete angespannt. Dann sah er, wie die Taschenlampe eingeschaltet wurde.

»Alles klar«, ertönte Wus gedämpfte Stimme. »Kommen Sie schon.«

Marco legte die Brechstange ab, doch dann überlegte er es sich anders und hob sie wieder auf. Mit der Glock im Holster und der Brechstange unter dem Arm kletterte er hinauf. Allerdings nicht annähernd so gewandt wie Wu, sondern äußerst unbeholfen. Er stieß sich die Rippen, während er sich zappelnd durch den Spalt quetschte.

Gottverdammt. Zum Glück gibt’s keine Wertung für den Stil, sagte er sich und rollte auf den Rücken.

Im Zug war es kühler als im direkten Sonnenlicht, dafür war die Luft stickig und sauerstoffarm. Marco widerstand dem Drang, den Kopf wieder hinauszustrecken und tief durchzuatmen. Stattdessen blinzelte er, während die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Er stand auf und stieß gegen Wu, der den Raum, in den sie eingedrungen waren, gründlich mit der Taschenlampe inspizierte.

Der Durchgang war vielleicht einen Meter lang, gerade groß genug, dass beide Männer Schulter an Schulter darin stehen konnten. Staub schwebte im Lichtkegel der Taschenlampe, und gespenstische Spinnweben spannten sich in den Ecken. Samenhülsen lagen um eine Kugel aus trockenem Laub auf dem Boden, wo einmal eine Wüstenmaus genistet hatte.

Wu richtete die Taschenlampe über Marcos Schulter hinweg. »Okay«, sagte er. »Diese Richtung.«

Hinter Marco war eine geschlossene Metalltür mit einem Fenster in der Mitte. Der Widerschein der Taschenlampe auf dem Glas gleißte wie eine Sonne in einem Universum ohne Sterne. Ein kleiner Aufkleber mit der Aufschrift SPEISEWAGEN in schmutzigen roten Buchstaben; daneben eine große rechteckige Taste. DRÜCKEN. Es war eine Automatiktür, die eigentlich durch einen Druck auf die Taste hätte aufgehen müssen. Doch die Hydraulik funktionierte nicht mehr.

»Es wird irgendwo einen Notfall-Öffnungsmechanismus geben«, sagte Marco und suchte den Türrahmen ab. »Falls mal der Strom ausfällt. Oder wenn auferstandene Leichen alle Leute im Zug aufgefressen haben.«

Am Rahmen über der Tür wurde er schließlich fündig: ein kleiner Kasten mit einem Aufkleber.

Nur im Notfall benutzen:

Den Kasten öffnen.

Den roten Hebel herunterziehen.

Die Tür von Hand öffnen.

Wu beugte sich über Marco, öffnete die Klappe und griff nach dem Hebel.

»Warten Sie«, unterbrach Marco ihn. »Wir sollten zuerst die Lage peilen. Schalten Sie das Licht aus – es reflektiert zu stark.«

Wu gehorchte mit einem unmerklichen Kopfnicken, und Marco hörte ein Klicken. Bis auf das Tageslicht, das durch den Riss in der Verkleidung hereinfiel, war es wieder dunkel im Durchgang. Nach einer Weile hatten Marcos Augen sich der Dunkelheit angepasst. Er schielte durch das Fenster in den Speisewagen. Selbst hier, im Inneren des Zugs, lag eine dicke Staubschicht auf der Scheibe, sodass man kaum etwas erkennen konnte.

Er wischte die Scheibe mit dem Ellbogen ab, formte mit den Händen eine Art Trichter um den gesäuberten Bereich und schaute hindurch. Aber er sah auch nicht viel mehr als eben. Die andere Seite war ebenfalls schmutzig. Er erkannte ein paar dunkle Tische. Alles andere war kohlrabenschwarz.

Er ballte eine Faust und schlug dreimal gegen das Fenster.

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass wir keinen Lärm machen sollen«, sagte Wu hinter ihm.

»Falls irgendetwas da drin ist, will ich es jetzt wissen. Bevor wir die Tür öffnen.«

Sie warteten. Nichts.

»Na dann«, sagte Marco. »Ziehen Sie mal kräftig.«

Wu zog am roten Hebel, und die Tür zitterte. »Versuchen Sie es.«

Schweißgebadet stieß Marco die Brechstange in die Dichtung des Türrahmens. Obwohl die Tür jetzt zumindest schon entriegelt war, war sie durch den ganzen Schmutz, der sich im Lauf der Jahre in der Führungsschiene angesammelt hatte, extrem schwergängig. Als er sich schließlich mit der Schulter gegen die Brechstange warf, sprang die Tür auf. Sie knirschte laut in der verstopften Schiene, öffnete sich halb und blockierte dann.

Marco richtete die Glock auf die Lücke. Er hatte Mühe, die Waffe überhaupt in der feuchten Hand zu halten.

Die Dunkelheit schien lebendig zu sein und ihn förmlich anzuknurren. Er hörte ein Summen. Es klang wie …

Klick. Plötzlich leuchtete die Taschenlampe auf, und der Lichtkegel durchschnitt den Speisewagen.

Fliegen. Tausende Fliegen, die durch das Licht flogen – eine widerwärtige, wabernde schwarze Wolke, die sich teilte und wieder verschmolz. Marco zuckte zusammen. Ekelhaft.

Wu senkte die Taschenlampe. Zum Boden.

Leichen.

6.5

Der Mittelgang war ein Friedhof – er glich der Tötungszone eines Schlachthauses und war mit abgerissenen menschlichen Gliedmaßen und Oberkörpern übersät. Die Münder der mumifizierten Köpfe waren zu Schmerzens- und Schreckensschreien verzogen und im Augenblick des Todes gefroren. Männer und Frauen. Und auch kleine Skelette mit Nagespuren. Kinder. Dreißig bis vierzig Leute hatten ihr Leben gelassen, als Leichen den Zug eroberten. In den Essabteilen lagen auch Leichen – Fahrgäste, die getötet worden waren, als sie sich unter den Tischen versteckt oder versucht hatten, die Fensterscheiben einzuschlagen.

»Willkommen im Speisewagen«, sagte Wu. Er klang aber todernst.

Der Boden war von einer mehrere Zentimeter dicken Schicht aus Blut und Eingeweiden bedeckt. Sie war im Lauf der Zeit zu einer festen Masse ausgehärtet. Die Menschen waren seit Jahren tot, und ihre Körper waren ausgetrocknet und farblos. Wirbelsäulen waren gebrochen und Gehirne zermatscht. Diese Opfer waren zu schnell verschlungen und zu stark verstümmelt worden, um wiederaufzuerstehen.

Und es roch auch muffig – die Leichen verströmten ein modriges, übel riechendes Gas. Das waren die Moleküle von zersetztem weichem Gewebe, mit denen die Luft geschwängert war. Marco hustete und steckte die Nase in die Armbeuge. Bei dem Anblick wurde ihm schlecht, und zugleich beschleunigte sich sein Herzschlag.

»Scheiße«, sagte er. »Wir sollten zurückgehen.«

»Wieso denn? Diese Leichen bewegen sich doch nicht.«

»Kommen Sie schon, Mann«, sagte Marco mit Nachdruck. »Was glauben Sie wohl, was hier passiert ist? An einer Lebensmittelvergiftung sind die Leute bestimmt nicht gestorben. Hier muss ein Mini-Ausbruch stattgefunden haben – irgendein Passagier mit der Auferstehung hat alle anderen angesteckt. Und die Leichen, die das getan haben, sind noch irgendwo im Zug. Unter Garantie.«

»Ich verstehe, Doktor. Zum Glück brauchen wir aber nur diesen einen Waggon.«

»Mein Gott – wie viele Lektionen in Sachen Sicherheit muss ich Ihnen heute denn noch erteilen?«

Wu schob sich im Durchgang an Marco vorbei in den Speisewagen und stieß ihm dabei gegen die Schulter. Die Taschenlampe leuchtete die Dunkelheit aus und strahlte weitere gespenstische Tische an, die mit grauen Tischtüchern bedeckt waren. Dann fiel der Schein auf einen Servierwagen.

»Wu«, sagte Marco knurrend. »Kommen Sie verdammt noch mal zurück. Wir müssen gehen.«

Wu ging weiter und stieg über Knochen hinweg.

Arschloch. Genau das war es, was Marco so hasste – sturen militärischen Blödsinn, der alle in tödliche Gefahr brachte. Er zog schon in Erwägung, zum Jeep zu gehen und Wu zurückzulassen. Dann würde er gemütlich im Auto sitzen und warten, bis das Geschrei losging. Doch was dann? Sollte er ihm wieder zu Hilfe kommen? Oder einfach abhauen?

Er lief vor Scham rot an. Jetzt reiß dich aber mal zusammen, sagte er sich.

Er schüttelte den Kopf und seufzte.

Wie auch immer. Ich glaube fast, dieser militärische Scheiß ist ansteckend.

Er umklammerte die Brechstange, ging zur Lücke im Durchgang und verdrehte die Augen beim Anblick eines kleinen weißen Schilds.

Vorsicht Stufe

Sehr witzig, dachte er. Es knirschte, als er mit dem Stiefel auf die Blutkruste im Eingang trat, und der Geruch des Todes wurde noch intensiver. Er folgte Wu durch den Waggon.

Marco wurde von tausend Fliegen umschwirrt. Sie flogen ihm ins Gesicht, und er versuchte, sie zu verscheuchen. Er presste die Lippen zusammen, damit sie ihm nicht auch noch in den Mund flogen. Er staunte darüber, wie lange sie hier schon überlebt hatten: Generationen von Fliegen hatten sich in die Leichen gefressen und sich dort eingenistet. Auch wenn jede Fliege nur eine Lebenserwartung von ein paar Tagen hatte, hatten sie ihre Pflicht getan und die Toten weiter abgefressen. Hatten Eier gelegt. Dann waren sie gestorben und hatten einer neuen Generation das Leben geschenkt – und dieser Kreislauf hatte sich ständig wiederholt, vier Jahre lang hier in diesem Zug, von der Außenwelt abgeschnitten. Die erste Generation war Zeuge des Massakers geworden, hatte sich an frischem Blut und saftigen, noch zuckenden Organen gelabt. Doch diese Fliegen wussten nichts von den damaligen paradiesischen Zuständen.

Das ist die Normalität für sie, dachte Marco. Ein anderes Leben haben sie nie gekannt.

Sie waren in ein stummes Knochenland geboren worden.

Wie lange, fragte er sich, wird es wohl noch dauern, bis es uns genauso ergeht? Eine Generation? Irgendwann wird sich niemand mehr daran erinnern, wie dieser Planet vor der Auferstehung war.

Desillusioniert ging er weiter. Obwohl er sich vorsichtig bewegte, stolperte er einmal und trat auf einen spröden Schädelknochen, der mit einem schauerlichen Knacken unter seinem Stiefel zerbarst. Er hielt sich an einer Tischkante fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und knüllte dabei das steife Gewebe des Tischtuchs zusammen. Im trüben Licht sah er einen dunklen Klecks auf dem Stoff. Einen blutigen Handabdruck – klein, von einer Frau. Als er wieder einen festen Stand hatte, ging er weiter.

In der Mitte des Waggons holte er Wu ein. Er stand an der kleinen Bedientheke und untersuchte ein rechteckiges, etwa fünfzig Zentimeter großes Loch in der Wand. Er leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Ein schmaler Schacht verlief senkrecht nach unten.

»Ein Aufzug«, sagte Wu. »Um Essen hochzuschicken. Die Küche ist direkt unter uns.«

»Das weiß ich auch. Wir werden damit runterfahren.«

Wu warf ihm einen verwunderten Blick zu. »Das können Sie gern tun, Doktor. Ich nehme die Treppe.« Er richtete die Taschenlampe auf eine kleine Treppenflucht hinter dem Tresen.

»Sehr gut. Da bin ich aber froh, dass Sie wenigstens noch einen Rest gesunden Menschenver…«

Er hielt inne und riss den Kopf nach links herum. Spähte zum anderen Ende des Waggons.

»Was?«, fragte Wu.

»Psst.« Marco runzelte die Stirn und deutete den Gang entlang. »Leuchten Sie mal dorthin.«

Wu schwenkte die Lampe. Die Tür am anderen Ende war offen. Ein Haufen mumifizierter Leichen lag kreuz und quer im Eingang und blockierte die Tür.

Marco verspürte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen.

»Wäre einfacher gewesen, von dort reinzukommen«, bemerkte Wu.

»Halten Sie die Lampe so«, sagte Marco und brachte die Glock in Anschlag. Dann ging er mit gesenktem Kopf ein paar Schritte weiter, ohne die offene Tür aus den Augen zu lassen.

Das Summen von Fliegen dröhnte ihm in den Ohren. Er verscheuchte sie.

Da war etwas anderes. Etwas, auf das er achten musste.

Ein paar Schritte weiter, hinter der Treppe, hörte er es wieder. Einen dumpfen Schlag.

Dann ein leises Schleifgeräusch. Dann wieder einen dumpfen Schlag.

Schritte.

Sein Puls raste. Er konzentrierte sich auf die rechteckige Türöffnung. Und zuckte zusammen, als eine bleiche Hand aus dem Schatten auftauchte und den Türrahmen packte.

Eine zierliche weibliche Hand.

Er verspürte eine plötzliche Euphorie. Danielle

Nein, schalt er sich. Das ist nicht Danielle, du Blödmann.

Die Leiche einer älteren Frau schlurfte durch die Tür. Ein schwarzes Kleid hing ihr in Fetzen um den knochigen Leib und enthüllte verschrumpelte Brüste. Sie starrte Marco aus strahlend weißen Augen an, die tief in den Höhlen lagen. Strähnen von sprödem silbernen Haar hingen ihr ins Gesicht.

Und sie war nicht allein.

Zwei, drei … vier Leichen kamen angekrochen, und weitere folgten ihnen; blasse Gestalten schwankten in der Dunkelheit des nächsten Waggons. Ihr Ziel war der Speisewagen.

»Ich wusste es«, murmelte Marco. »Hab es verdammt noch mal gewusst …«

Reflexartig zielte er mit der Glock in die Mitte der Stirn der Frau und krümmte den Finger um den Abzug …

Hinter ihm fiel die Taschenlampe scheppernd auf den Boden.

Dunkelheit umhüllte ihn, als hätte man ihn in einen Sack gesteckt, und er verlor sein Ziel aus dem Blick. »Mein Gott!«, rief er, mehr verärgert als ängstlich, und wirbelte herum.

Er konnte nicht das Geringste sehen. »Wu!«

Die Taschenlampe rollte auf dem Boden langsam im Halbkreis herum und strahlte dabei die Wand an … Und dann rollte sie zurück und beleuchtete wieder die Theke.

Wu

Plötzlich war Marco überhaupt nicht mehr verärgert. Plötzlich war er nur noch entsetzt.

Da war Wu. Er stand mit dem Rücken zur Theke, schlug wild um sich und kämpfte mit einer schwergewichtigen Leiche – einem fetten Ungeheuer in einem schmutzigen Zugschaffner-Hemd. An ihrem Gürtel baumelte noch die Schaffnerzange, und das kalkweiße Gesicht war bösartig verzerrt. Die Leiche schlang die mächtigen Arme um Wus Hals und zog ihn zu ihrem Mund hin.

Die Tische, begriff Marco endlich. Seine Gedanken drehten förmlich durch wie Reifen, die im Schlamm zu greifen versuchten. Darunter hatten sie nicht nachgesehen. Die Leiche musste von dort hervorgekrochen sein. Mein Gott.

»Dokt…«, sagte Wu, und dann rutschten seine Hände vom Tresen ab. Er fiel auf den Boden, wirbelte Knochen auf, und der tote Schaffner ließ sich auf ihn fallen.

Marco umklammerte mit aller Kraft die Brechstange und biss sich auf die Lippe. Los geht’s. Auf in den Kampf.

Er kam gerade einen Schritt weit …

… und strauchelte, als die alte Frau ihm von hinten die Hände auf die Schultern legte. Bevor er herumwirbeln konnte, klammerte die Leiche sich an ihn, und er stolperte nach links – und dann knickte er plötzlich mit dem Fuß um. Es schien sich ein Loch im Boden aufzutun, und alles um ihn herum drehte sich.

Mit der weiblichen Leiche auf dem Rücken stürzte er die unbeleuchtete Treppe hinunter.

Zu dem, was auch immer im Schatten auf ihn wartete.

6.6

Ein weißes Feuerwerk zerriss die Schwärze, Schmerzen ließen die Nerven in Marcos Sehrinde aufblitzen, als er auf der Seite die Treppe hinunterfiel. Die letzten vier Stufen rutschte er mit klappernden Zähnen auf der Brust herunter, als ratterte er über ein Waschbrett. Die Leiche der Frau kreischte ihm ins Ohr. Auf halber Höhe beschrieb die Wendeltreppe eine Kurve, und Marco und die Leiche schlugen mit einem furchtbaren Geräusch gegen die Wand – spröde Knochen zersplitterten unter der Haut der Frau zu Zahnstochern –, und sie rollten in einem Knäuel aus kalten und warmen Gliedmaßen die Treppe herunter und schlugen dabei noch mit der Stirn gegeneinander. Für einen kurzen Moment waren die aufgerissenen Lippen der Leiche den seinen so nah, dass er sie hätte küssen können. Entsetzt zog er die Beine an und stieß sich ab.

Er spürte, dass er wieder durch die Luft flog; diesmal fiel er nach hinten und schlug auf der zweiten kurzen Treppenflucht einen Salto. Schließlich prallte er mit dem Hinterteil auf dem Boden auf. Der Fußboden war nass, und sofort saugte sich seine Hose voll. Beim Aufstehen wäre er beinahe ausgerutscht.

Es stank fürchterlich noch Ammoniak. Er schaute nach links und rechts und versuchte, mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Hüfthohe Arbeitsplatten. Schränke, Regale, ein großes Spülbecken.

Er hatte die Küche gefunden.

Trübes Licht fiel in den Raum – durch ein Fenster in der nach Westen ausgerichteten Wand des Zuges. Als sie den Zug vorhin passiert hatten, hatte er es nicht sehen können, da sie im Osten an der schier endlosen Reihe von Waggons vorbeigefahren waren. Na toll, du Genie, sagte er sich verdrießlich. Wäre verdammt noch mal viel leichter gewesen, hier durch ein Fenster einzubrechen. Beim nächsten Mal überprüfst du auch die andere Seite des Zugs.

Frustriert prüfte er seinen Zustand, zog die Arme an, streckte sie wieder aus und krümmte die Knie. Er hatte ein paar Blessuren, aber es war zumindest nichts gebrochen; wahrscheinlich nur ein paar neue Beulen und Quetschungen für seine Sammlung. Und Gott sei Dank hatte er noch immer die Glock und die Brechstange. Die beiden schweren Gegenstände in seinen Händen vermittelten ihm ein Gefühl der Sicherheit.

Die Frauenleiche hatte ihn allerdings nicht vergessen. Sie stolperte grunzend und mit ausgestreckten Armen die letzte Stufe herunter. Ein protziger Klunker steckte am Ringfinger. Flüchtig fragte Marco sich, welches Schicksal ihren Mann wohl ereilt hatte. War er eine der mumifizierten Leichen von oben oder eine der wandelnden Leichen im Zug?

Oder war ihr Mann gar entkommen?

Blödsinn, dachte Marco. Es gibt kein Entkommen.

Sein Fatalismus erzürnte ihn. Er holte aus und rammte der Frau die Brechstange in die Nase – der leichteste Weg zum Gehirn, wie er schon vor Jahren festgestellt hatte –, bis er spürte, dass die Spitze durch die Nasenhöhle in den präfrontalen Cortex eindrang. In einer fließenden Bewegung drehte er die Stange, riss das Gehirn entzwei und verdrehte den Kopf der Frau auf der Schulter, bis er hörte, wie die Wirbel im runzligen Hals knackten und brachen.

Die Leiche fiel wie ein nasser Sack auf den Boden.

Schemen zeichneten sich im Treppenhaus ab. Da kamen noch mehr Leichen.

»Wu!«, rief Marco die Treppe hinauf.

Keine Antwort. Dann ein Krachen.

Marco zog sich zurück. Ein Haufen Leichen bog um die Ecke und stieg in die Dunkelheit ab.

So, ihr lichtscheues Gesindel, sagte er sich. Scheinwerfer an.

Marco hatte die Glock schon schussbereit in der rechten Hand. Er wirbelte herum und gab einen Schuss auf die schmutzige Fensterscheibe in der westlichen Wand ab. Der Schuss hallte in der kleinen Küche wider, und die Echos waren so stark, dass die an der Wand hängenden Messer und Löffel klapperten.

Das Glas zersplitterte in tausend Scherben. Sonnenlicht durchflutete die Küche.

Schon viel besser.

Seine Ohren klingelten. Er blinzelte und beschirmte die Augen mit der Waffe. Plötzlich wurde ihm auch klar, woher der ekelhafte Gestank kam, den er in der Dunkelheit wahrgenommen hatte.

Der Boden war mit verflüssigten Rattennestern, Kot und Urin bedeckt; er war mitten in eine Kolonie hineingestolpert. So lief das also in dieser postapokalyptischen Welt: Fliegen beherrschten die obere Ebene, und Ratten tummelten sich in einem Unterkönigreich aus verfaultem Gemüse und verdorbenen Nahrungsmitteln. Braune haarige Leiber huschten über die Tresen – sie wurden vom Licht und dem Lärm erschreckt und suchten einen sicheren Unterschlupf.

Keine schlechte Idee, dachte er. Ich könnte auch einen Unterschlupf gebrauchen.

Ein totes Ehepaar tauchte aus dem Treppenhaus auf. Mann und Frau trugen im Partnerlook rote Sweatshirts, die mit dem Emblem der Universität von Arizona verziert waren. Ein weiterer Mann folgte ihnen und dann noch einer. Erschrocken zog Marco sich hinter eine Kücheninsel aus Edelstahl zurück. Er ging an drei Regalen vorbei, die mit Dosensuppen, Obstkonserven und Nudeln bestückt waren – da kann Wu sich ein Festmahl zusammenstellen, falls er nicht schon tot ist –, und blieb vor dem zerbrochenen Fenster stehen. Die Scherben knirschten unter seinen Füßen.

Das Fenster war zwar nicht groß, aber immer noch groß genug, um als Fluchtweg zu dienen. Mit der Brechstange schlug er schnell das restliche Glas heraus und wischte die Scherben von der Fensterbank.

Da kam die männliche Leiche um die Kücheninsel gelaufen; sie war schneller als die anderen. Marco hob die Glock und feuerte. Die Ratten ergriffen mit einem panischen Quieken die Flucht, und die Leiche wurde zurückgeschleudert. Sie hatte einen Treffer ins Gesicht bekommen. Stücke des Schädels verteilten sich wie Eierschalen auf der Arbeitsplatte. Schwarzer Schleim ergoss sich über das Uni-Emblem auf der Brust und durchtränkte die Baumwolle.

Die Frau stieg über die Leiche hinweg. Weitere Leichen kamen die Treppe herunter. Es herrschte inzwischen ein ziemlicher Andrang in der Küche – zehn, fünfzehn Leichen, die um die lange Kücheninsel auf ihn zukamen.

Es ist verdammt noch mal Zeit zu verschwinden.

»Wu!«, rief er noch einmal voller Hoffnung. Aber es kam keine Antwort.

Verdammt. Marco zögerte, doch er hatte keine Wahl. Er hielt sich am Fensterrahmen fest und schob den Oberkörper durch die Öffnung …

… und stieß einen Schrei aus, als verweste Hände nach seinem Gesicht griffen. Es waren auch Leichen draußen vor dem Zug. Er baumelte zur Hälfte aus dem Fenster und befürchtete, jeden Moment den Halt zu verlieren und in die Menge zu fallen. Fünfzig bis sechzig tote Passagiere aus den Personenwaggons. Sie mussten den Jeep gehört haben, aus dem Zug ausgestiegen sein – er erinnerte sich an die offene Tür im hinteren Schlafwagen – und sich, durch den Aufruhr angelockt, hier neben dem Speisewagen versammelt haben. Gott sei Dank war das Fenster fast zweieinhalb Meter über dem Boden. Sonst hätten sie sich ihn schon längst geschnappt. Keuchend strampelte er mit den Beinen und zog sich wieder in die Küche zurück.

So viel also zu einem leichten Ausstieg.

Die Glock hatte noch zehn Schuss im Magazin. Ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts der Menge da draußen. Und hier würde ihm das auch nicht mehr viel nützen. Die Leichen drängten sich bereits in der Küche, und über sich hörte er noch weitere knarrende Schritte, noch mehr ersticktes Gurgeln und Stöhnen. Sein Herz raste wie der Sekundenzeiger einer Stoppuhr.

Lass dir was einfallen.

Die Frau im Sweatshirt berührte ihn an der Schulter.

Mach schnell!

Er ließ sich fallen und hechtete unter die stählerne Tischplatte. Scheiße, sagte er sich, als er erkannte, dass er einen Fehler gemacht hatte. Ein schlechter Zug, Henry. Die Leichen hatten die Kücheninsel inzwischen umzingelt. Er lugte unter dem Tisch hervor und sah, dass er auf allen Seiten von spindeldürren toten Beinen umringt war, die wie die Stangen eines Käfigs anmuteten.

Die Frauenleiche im Sweatshirt beugte sich nun unter den Tisch. Ein Pferdeschwanz, der inzwischen eher wie ein Wischmopp aussah, baumelte an ihrem Kopf. Marco schoss ihr in die Wange. Der Pferdeschwanz peitschte durch die Luft, als der Kopf zurückgerissen wurde und die Leiche zusammensackte.

Er hatte noch neun Schuss übrig.

Ich brauche einen neuen Plan – mach hin, mach hin … Seine Hände zitterten durch einen Adrenalinschub. Eine unbrauchbare Idee jagte die andere, und dann war die Zeit für ihn abgelaufen. Die Leichen hatten ihn gefunden – sie steckten die Köpfe unter den Tisch und leckten sich schon die trockenen Lippen.

Gleich würden sie unter den Tisch kriechen und ihn schreiend darunter hervorzerren.

Mit grimmigem Gesicht spannte er die Beine an wie ein Sprinter an der Startlinie; er war bereit, unter dem Tisch hervorzuspringen und einen Durchbruch zum Treppenhaus zu wagen. Er wollte versuchen, ein paar Leichen niederzuschlagen, ein paar mit der Glock abzuknallen und irgendwie nach oben zu kommen. Eine andere Wahl hatte er nicht.

Er spannte alle Muskeln an, machte sich bereit und …

»Doktor!«

Marco erstarrte.

»Doktor! Können Sie mich hören?«

Wu. Seine Stimme kam von weit her und klang hohl.

»Hey!«, rief Marco zurück und wunderte sich über die Erleichterung, die in seiner Stimme mitschwang. Eine tote Hand berührte seinen Fuß, und er zog ihn weg; die Leichen krochen auf allen vieren unter dem Tisch auf ihn zu.

In der Küche hörte er ein lautes Geräusch, ein metallisches Scheppern. Irgendetwas war auf den Boden gefallen.

»Der Aufzug!«, ertönte Wus Stimme.

Marco wusste nicht, was er ihm damit sagen wollte.

»Der Aufzug!«, wiederholte Wu. »Sehen Sie dort nach!«

Ach so. Marco antwortete nicht – hatte keine Zeit mehr dazu. Eine dünne Leiche mit gebrochener Nase kroch von vorne in Schlangenbewegungen auf ihn zu. Er steckte ihr die Glock in den Mund und betätigte den Abzug. Der Hinterkopf der Leiche explodierte, das Gehirn spritzte heraus, und bevor der Körper noch auf dem Boden auftraf, kroch Marco schon darüber hinweg und zog mit den Fingern Furchen durch die feuchte graue Gehirnmasse.

Jetzt hatte er noch acht Schuss im Magazin. Er betete, dass er sie nicht brauchte.

Die Leichen rückten ihm von links und rechts zu Leibe; er spürte, dass sie ihn am Hemd zupften, aber nicht allzu fest, und er riss sich los und kam schließlich unter dem Tisch hervor. Er stand auf, wirbelte herum und sah sich hektisch in der Küche um. Das laute Geräusch war von … dort gekommen. In die Wand war eine kleine Tür eingelassen. Zur Linken kam in einem scheinbar endlosen Marsch eine weitere Welle von Toten die Treppe herunter. Er stieg über zwei Leichen hinweg, die gerade mit zappelnden Beinen unter dem Tisch hervorkamen, und riss die Tür des Aufzugs auf.

Jackpot.

Die AK-47 lag in dem engen Fahrstuhl. Sozusagen ein Geschenk des Himmels von Wu.

Beim Anblick der Waffe schöpfte Marco sofort neue Kraft und verdrängte die lähmende Angst. Er hatte wieder einen klaren Kopf – hatte die Lage voll im Griff.

Als Erstes widmete er sich den Leichen, die von der Treppe aus vorrückten: Er eröffnete ein Sperrfeuer aus Stahlkerngeschossen, die Hälse perforierten und Köpfe platzen ließen, als wären sie Luftballons. Das Gewehr war eine brutale Bleispritze. Er hatte noch nie mit einer Kalaschnikow geschossen; durch den heftigen Rückstoß würde seine Schulter morgen ein einziger Bluterguss sein. Doch das kümmerte ihn jetzt einen Scheiß. Es fühlte sich so verdammt gut an.

Die Schüsse waren ohrenbetäubend laut und übertönten alle anderen Geräusche. Doch seine Augen teilten ihm alles mit, was er wissen musste – Leichen wurden durchsiebt, Wände wurden von Kugeln durchschlagen, Töpfe und Pfannen fielen von den Haken, die Küchentür wischte durch schwarzes Blut und Rattenurin.

Als auch die letzte Leiche zu Boden ging, ließ er den Abzug los. Er war völlig benommen und außer Atem.

Seine Trommelfelle vibrierten im Nachhall der Schüsse. Er schwenkte die Waffe durch den Raum und ließ den Blick über jeden einzelnen Körper schweifen. Die geringste Bewegung, und er würde wieder draufhalten. Nichts. Er schaute unter der Kücheninsel nach. Da regte sich auch nichts mehr.

Er humpelte zum offenen Fenster, durch das die toten Passagiere in die Küche einsteigen wollten. Aber das bereitete ihm keine Sorge. Klettern war eine Fähigkeit, mit der die Leichen am allerwenigsten gesegnet waren. Er verschnaufte dort über dem Meer der bleichen winkenden Arme. Er fühlte sich wie ein Rockstar – wie die gottverdammten Beatles, als sie in Liverpool Station einfuhren und die Fans begrüßten. Sie alle wollen ein Stück von mir haben, sagte er sich grimmig.

Er spielte mit dem Gedanken, das Feuer zu eröffnen, aber das wäre unvernünftig gewesen. Er hatte keine Ahnung, wie viele Schüsse das Magazin einer Kalaschnikow enthielt, und die Leichen stellten auch keine unmittelbare Bedrohung dar. Wäre schade um die Kugeln gewesen.

Er sollte lieber Wu suchen und verdammt noch mal zum Jeep zurückkehren, ohne dass sie ihn bemerkten.

Doch zuerst wollte er sich ausruhen. Er ließ sich gegen den Tisch fallen; sein Körper fühlte sich fünfzig Pfund zu schwer an.

Alle Anstrengungen dieses Tages machten sich plötzlich bemerkbar. Er war ziemlich erledigt.

Er gönnte sich eine kurze Auszeit und raffte sich dann wieder auf. In Ordnung, Lunge. An die Arbeit. Er wollte gerade zur Treppe gehen und noch eine Dose mit Obstkonserven mitnehmen, als ihm plötzlich von der Seite ein massiver Stoß versetzt wurde, bei dem er fast mit dem Gesicht in die Rattenscheiße gefallen wäre.

Er ließ sich reflexartig auf ein Knie fallen und hielt sich an der Tischkante fest.

Sein ganzer Körper wurde durchgeschüttelt. Die Konservendosen klapperten auf den Regalen.

Zuerst glaubte er, er sei verrückt geworden. Das musste doch Einbildung sein.

Doch ein paar Sekunden später wusste er, dass jeder Irrtum ausgeschlossen war.

Der Zug fuhr.

6.7

Im Durchgang hinter dem Führerstand der Lokomotive legte Wu den Messerschalter um – die große Metallzunge, die die Batterie mit der Starterschaltung des Zugs verband.

Ob die Batterie überhaupt noch Saft hatte? Ob sie nach dieser langen Zeit nicht schon so trocken war wie die Wüste …?

Ein leises Knistern überzeugte ihn vom Gegenteil. Seine Finger huschten über die Schutzschalter und legten einen nach dem anderen um. Er hatte schon seit fast zwanzig Jahren keinen Zug mehr gefahren, aber die Handgriffe liefen noch automatisch und sicher ab. Die Brust schwoll ihm vor Stolz, und er fühlte sich wieder zurückversetzt in die Zeit, wo er als junger Soldat in der Volksbefreiungsarmee gedient hatte – als er den Katastrophenhilfe-Zug durch strömenden Regen und über überschwemmte Felder gefahren hatte. Ein Volksheld, der sein Leben riskiert hatte, um Frauen und Kinder vor den Fluten des Jangtseflusses in Sicherheit zu bringen. Und dann blinzelte er verwundert. Er vermisste dieses Leben. Damals, bevor er für das MSS ausgewählt worden war. Nun rettete er kein Leben mehr. Nun tötete er für China.

Er runzelte die Stirn und konzentrierte sich auf seine Aufgabe.

Er betätigte den mit Kraftstoffpumpe markierten Schalter und lief zum Maschinenraum, um das Dieselsystem zu aktivieren. Nach der Entlüftung der Leitungen betätigte er den Hebel, und der Startermotor lief mit einem Knurren an. Hastig und ohne abzuwarten, bis Druck im System aufgebaut wurde, löste er die Handbremse und zog heftig am Hebel, bis er spürte, dass der Zug mit einem Ruck losrollte. Dann sprintete er zum Führerstand – wobei er über die zwei Leichen im Korridor hinwegsprang, zwei Mechaniker, die zu einem einzigen zerfallenden Klumpen verschmolzen waren – und löste am Führertisch die Doppelbremsen. Alles klar. Nun zog er den Fahrschalter auf sich zu und arretierte ihn in der ersten Raststellung.

Der Zug rumpelte unter seinen Stiefeln.

Hinter ihm aktivierte der Hauptgenerator die Antriebsmotoren, und die Lokomotive setzte sich mit dem Gewicht der angehängten Waggons in Bewegung und nahm langsam Fahrt auf. Vier oder fünf Leichen blockierten die Schienen vor ihm und knurrten ihn durch das Fenster an; auf ihren Gesichtern zeichnete sich nicht einmal Erstaunen ab, als sie unter die Räder des Zugs gerieten und wie in einem Fleischwolf zermalmt wurden.

Er zog den Fahrschalter in die nächste Raststellung.

Noch schlich der Zug nur durch die Wüste. Doch er wurde immer schneller.

Wu nickte zufrieden.

Noch vor zehn Minuten hatte er im Speisewagen unter der Leiche des Schaffners gelegen und einen Kampf auf Leben und Tod geführt. Marco war mit der Frau auf dem Rücken die Treppe zur Küche hinuntergefallen. Er wird sterben, hatte Wu sich gesagt. Die Worte platzten in sein Bewusstsein und verschwanden gleich wieder.

Er konnte nichts tun, um Marco zu helfen. Er musste um sein eigenes Überleben kämpfen.

Also rammte er dem Schaffner das Knie in die Genitalien, doch die Leiche ließ sich dadurch überhaupt nicht beeindrucken. Sie wurde nur noch wütender, drückte ihn auf den Boden des Speisewagens und versuchte, ihn knurrend in Stücke zu reißen. Die vertrockneten Körper der massakrierten Passagiere lagen um ihn herum; alte Knochen splitterten und brachen unter seinem Rücken und stachen ihn durch das Hemd hindurch.

Wu wurde sich bewusst, dass der Nahkampf mit den Toten ein schwieriges Unterfangen war; Schläge, die menschliche Gegner ausschalteten, verpufften wirkungslos bei Leichen, die keinen Schmerz spürten …

Frustriert drückte er die Hand gegen den Hals des Schaffners. Das Fleisch war überreif und matschig wie bei einer angefaulten Frucht, und die Finger drangen ohne großen Widerstand bis zu den Knöcheln ein. Die Leiche grunzte zornig, weil sie nun nicht mehr in der Lage war, den Kopf zu senken und herzhaft in Wus Gesicht zu beißen.

Wu verrenkte sich und warf einen Blick durch den Gang. Es waren noch mehr Leichen im Anmarsch.

Unten in der Küche fiel ein Schuss, und Glas splitterte.

Marco war also noch nicht tot.

Wu blinzelte und ärgerte sich, weil er sich hatte ablenken lassen. Konzentrier dich. Er brauchte eine Waffe, irgendetwas, womit er den Angriff abwehren und den Schaffner außer Gefecht setzen konnte – töten wollte er ihn nur, wenn es unbedingt erforderlich war, um sein eigenes Leben zu retten. Die AK-47 auf dem Rücken hatte sich im Gurt des Rucksacks verheddert; es war unmöglich, sie freizubekommen. Mit der freien Hand zerrte er an den Mandarinenten-Haken; doch wegen des Gewichts, das auf dem Gürtel lastete, vermochte er sie auch nicht herauszuziehen.

Was nun?

Einen Meter neben seiner rechten Schulter lag die Taschenlampe auf dem Boden und strahlte ihn an. Der Lichtkegel fiel auf das verwüstete Gesicht des Schaffners – die Haut war gallertartig und klumpig, und aufgequollene Adern unterlegten wie ein schwarzes Spinnennetz Mundpartie und Wangen.

Wu griff nach der Taschenlampe. Aber er griff daneben.

Und dann fiel wieder ein Schuss in der Küche.

Marcos Stimme ertönte – schwach, aber eindringlich: »Wu!«

Wu ignorierte ihn. Konzentriere dich.

Schließlich gelang es ihm doch, die Taschenlampe zu ergreifen.

Der Schaffner stieß einen Laut aus, der wie das Knurren eines Straßenköters klang, und ein ersticktes Gurgeln entrang sich seiner Kehle; dann packte er Wu am Handgelenk und versuchte, den Würgegriff um seinen Hals zu lösen. Wus Augen weiteten sich, als die Leiche zum tödlichen Biss ansetzte. Der offene Mund, in dem eine angeschwollene schwarze Zunge zu sehen war, schoss auf ihn zu, und brauner Geifer triefte in zähen Strängen aus den Mundwinkeln …

Er rammte der Leiche die Taschenlampe mit voller Kraft in den Mund.

Der Metallgriff schlug die obere Reihe der verfaulten Zähne ein und drang tief in die Kehle ein. Die Leiche stieß einen bellenden Schrei aus, wobei die massive Taschenlampe wie ein Schalldämpfer wirkte. Der Reflektor ragte zwischen den gespannten Lippen des toten Mannes hervor. Wu blinzelte – er wurde vom hellen Licht geblendet – und schlug mit der Handfläche kräftig gegen den Reflektor. Durch den Schlag wurde die Taschenlampe noch einmal fünf Zentimeter tiefer in die Leiche hineingetrieben.

Gelber Eiter quoll um den Schaft der Lampe hervor und tropfte auf das Kinn der Leiche. Sie riss erstaunt den Kopf zurück und versuchte, die Taschenlampe herauszuziehen. Wu keuchte, als das schwere Gewicht von seiner Brust genommen wurde; und während er noch ausatmete, zog er beide Beine an, platzierte die Stiefel auf der Brust des toten Mannes und stieß ihn weg. Die Leiche flog in ein Essabteil. Wu sprang auf.

Er riss sich die AK-47 vom Rücken und hielt sie quer vor sich: eine Hand am Lauf, die andere am Kolben. So drängte er die vorrückenden Leichen wie mit einem Räumgerät den Gang zurück; das Gewehr traf den Ersten – einen jungen Schwarzen in einem Hawaiihemd – voll am Oberkörper, sodass er zurücktaumelte und die anderen hinter sich gleich mit umriss.

Ein dritter Schuss ertönte von unten.

Nun, sagte Wu sich, ist es Zeit, dem Amerikaner zu helfen.

Sein Blick schweifte zur Treppe. Das schmale Treppenhaus, das zur Küche hinunterführte, war mit Leichen verstopft. Er musste einen anderen Weg finden. Und er fand auch sofort eine Lösung.

Der Speiseaufzug.

Ein hohles Stöhnen drang durch den offenen Metallschacht. Wu beugte sich zu dem rechteckigen Loch hin und rief: »Doktor! Können Sie mich hören?«

Zunächst kam keine Antwort. Dann ein »Hey!«

Wu schob die AK-47 durch die Öffnung und ließ sie fallen; er hörte sie unten aufschlagen. Der Amerikaner hatte wohl keine andere Wahl, als die Schusswaffe zu benutzen, sagte er sich. Sie war seine einzige Hoffnung. »Der Aufzug!«, rief Wu zweimal. »Sehen Sie dort nach!«

Und dann lief er los. Er wusste nicht, ob die Waffe helfen würde – ob der Amerikaner überhaupt in ihren Besitz gelangte –, doch er hatte nun genug riskiert. Marco musste zusehen, wie er klarkam.

Ein Lichtkegel strich über seine Schulter und tanzte an den Wänden. Der tote Schaffner war wieder auf den Beinen, und der Reflektor der Taschenlampe ragte wie eine Leuchtboje aus seinem Mund.

Wu zog die Mandarinenten-Haken und sprang auf einen Tisch in der Nische neben ihm; von dort sprang er zur nächsten Nische, auf den nächsten Tisch und umging auf diese Weise die Leichen im Gang. Sein Ziel war die offene Tür am nördlichen Ende des Speisewagens. Er wollte zum Maschinenraum.

Der eigentliche Grund, weshalb er den Zug bestiegen hatte. Nicht die Lüge, die er dem Amerikaner aufgetischt hatte.

Wu wollte die Lokomotive.

Vor der dunklen Türöffnung hielt er kurz inne und schaute in den nächsten Waggon. Der Salonwagen. Ohne die Taschenlampe sah er kaum etwas, doch er spürte weder eine Bewegung noch hungrige Schemen. Er stieg über den Haufen von Leichen hinweg und lief zielstrebig durch den Waggon. Die Tür am anderen Ende war offen, und helles Sonnenlicht zeigte ihm den Weg in den nächsten Waggon. Ein Personenwagen mit zertrümmerten Fenstern. Hinter sich, irgendwo tiefer, hörte er Feuerstöße aus einer Schusswaffe.

Die Kalaschnikow. Marco.

Wu sprintete durch den Personenwagen – und blieb in der Mitte stehen.

Durch die Fenster sah er eine Masse aufgebrachter Leichen, die zu beiden Seiten des Zuges ausschwärmten. Zwanzig Meter weiter hinten auf der Düne wurde der Jeep ebenfalls von Leichen umringt – es glich einer Invasion, wie sie in das Fahrzeug hineinkrochen und die Sitze zerfetzten. Als hätten sie einen Geruch von Leben wahrgenommen, eine Spur, die Marco und Wu hinterlassen hatten. Und dann sah Wu, wie der Jeep auf dem losen Sand ins Rutschen geriet. Allzu viele Leichen hatten sich in den Wagen gezwängt und belagerten ihn von außen, sodass er nun umkippte und sich zweimal überschlug. Eine stöhnende orangefarbene Kugel aus Metall und gebrochenen, schlenkernden Gliedmaßen und zerquetschten Leibern rollte zum Fuß der Düne hinunter.

Wu erinnerte sich an Marcos Warnung. Zornige Hornissen. Der Amerikaner hatte recht gehabt – doch das spielte nun keine Rolle mehr. Den Jeep konnten sie vergessen.

Ohne zu zögern, lief er durch den nächsten Personenwagen bis zur letzten Tür. Zum Maschinenraum. Die Tür stand einen halben Meter weit offen; er rammte die Schulter in die Lücke, erweiterte sie etwas und schlüpfte hindurch.

Und erweckte die Lokomotive wieder zum Leben.

Nun nahm Wu den Rucksack ab und ließ ihn auf den Boden fallen. Er fühlte sich plötzlich leicht wie eine Feder, wo er von der Last der ganzen Ausrüstung befreit war. Ein paar Waggons hinter sich hörte er wieder einen Feuerstoß von der AK-47. Marco. Der Doktor lebte noch und war wieder auf der oberen Etage. Wus Schultern entspannten sich. Mit gelindem Erstaunen gestand er sich ein, dass Marcos Überleben doch von Vorteil war; zumindest, bis der Auftrag erledigt war. Die Instinkte des Arztes schienen wirklich nützlich zu sein.

Und natürlich wollte Peking Marco auch lebend haben.

Noch ein Weilchen länger.

Vor der Frontscheibe erstreckten sich Dünen in sandigen Wellen bis zum Horizont. Vor anderthalb Jahrhunderten hatten arme chinesische Arbeiter die erste transkontinentale Eisenbahn durch diese westlichen Wüsten verlegt. Sie waren mit Billigung der amerikanischen Regierung zu Tausenden krepiert, hatten für Sklavenlöhne geschuftet, nur um dann abgestoßen zu werden, nachdem die Eisenbahnstrecke fertiggestellt worden war. Man hatte sie aus der Gesellschaft der Weißen ausgeschlossen, ihnen die amerikanische Staatsbürgerschaft verweigert und sie voller Hass als »Kulis« verächtlich gemacht und gebrandmarkt. Das bewegte Wu. Er hoffte, dass die Geister dieser Chinesen ihn nun sahen; er hoffte, dass sie eine späte Ehrung erfuhren und Zeuge wurden, wie die mit ihrem Blut getränkten Schienen ihn auf einer Mission voranbrachten, um dem Heimatland zu dienen.

Der Sunset Limited hatte sich schon fast einen Kilometer von der Stelle entfernt, wo Wu und Marco eingestiegen waren. Im Rückspiegel sah Wu, wie die tobenden Leichen immer weiter zurückfielen und in der Wüste schrumpften, bis sie sich nicht mehr von den Kakteen oder Felsen unterschieden. Der umgekippte Jeep war auch nur noch ein kleiner Punkt, der schließlich ganz verschwand.

Marcos Ausrüstung und Vorräte waren mit ihm verschwunden.

Wu verzog das Gesicht zu einem Lächeln. Er warf einen Blick auf seinen Rucksack, der an der Konsole lehnte. Alles, was er brauchte, befand sich direkt hier zu seinen Füßen.

Kheng Wu war wieder Herr der Lage. Nicht Henry Marco.

6.8

Mit Feuerstößen aus der AK-47 rückte Marco durch die restlichen Personenwagen vor und mähte Leichen nieder. Der Zug schwankte heftig und erschwerte ihm das Zielen; er fiel zwischen die Sitze und vergeudete Munition – ein ungünstiges Verhältnis zwischen Fehlschüssen und Kopfschüssen. Genau in dem Moment, als die Kalaschnikow die letzte Kugel im Magazin verschoss, wurde er von vorne durch eine Taschenlampe geblendet.

Der tote Schaffner rannte den Gang entlang. Er hatte noch immer die brennende Taschenlampe im Mund stecken. Marco warf die Kalaschnikow weg und eröffnete das Feuer mit der Glock; der erste Schuss ging daneben, doch die zweite Kugel zertrümmerte die Taschenlampe, und die Batterien sprengten die Schädeldecke des Schaffners und flogen wie Projektile aus dem Hinterkopf. Die fette Leiche stolperte noch zwei Schritte vorwärts und kollabierte dann zu einem Fleischberg.

Eine Taschenlampe vergeudet, dachte Marco. Das war nicht sehr klug von dir, Wu.

Er hob die leere Kalaschnikow auf und hängte sie über die Schulter – vielleicht hatte Wu noch mehr Magazine dabei. Dann ging er mit der Glock im Anschlag weiter. Er streckte noch fünf weitere Leichen nieder – fünf Kopfschüsse, nach denen er nur noch eine Patrone im Magazin hatte – und erreichte schließlich mit schmerzenden Ohren die Lokomotive.

Hinter der Tür blockierten zwei Leichen einen schmalen, blutverschmierten Korridor – das waren die Bordmechaniker. Sie lagen aufeinander und waren mitten im Kampf mumifiziert. Der eine, aus dessen aufgerissenem Brustkorb die Organe quollen, hielt in der Hand einen Schraubendreher, der in den Schädel des anderen gerammt war. Marco ließ die Szene vor seinem geistigen Auge Revue passieren – wie der erste Mechaniker auferstand und den zweiten angriff.

Sie hatten sich gleichzeitig gegenseitig getötet.

Teamwork in höchster Vollendung, sagte Marco sich und stieg über die Leichen hinweg. Doch wer war er, dass er über sie richten wollte? Mein Partner hat soeben meinen Jeep in der beschissenen Wüste zurückgelassen.

Der Waggon schlingerte, als er den Korridor entlangstolperte, vorbei an dicken Rohren, Messinstrumenten und lauten, kompakten Maschinen so groß wie Kühlschränke. Der Korridor weitete sich am Ende; und im Kopf der Lokomotive saß Wu auf einem hohen Hocker hinter einer Konsole mit Skalen und Hebeln und schaute in Gedanken versunken durch die Frontscheibe. Seine Hand ruhte auf dem Fahrschalter.

»Was zum Teufel machen Sie da?«, fragte Marco schroff.

Vielleicht zuckte Wu zusammen; Marco war sich nicht sicher. Der Soldat drehte sich halb auf dem Hocker um. »Ich bringe uns aus der Gefahrenzone«, sagte er viel zu sachlich.

Marco starrte ihn ungläubig an. »Ach ja? Und was ist mit dem Jeep?«

»Der war umgestürzt und nur noch ein Schrotthaufen, als ich ihn zuletzt gesehen habe. Die Lokomotive war unsere einzige Flucht…«

»Was reden Sie denn da für einen Mist«, unterbrach Marco ihn. »Halten Sie den Zug an. Wir fahren zurück.«

»Unmöglich. Zu viele Leichen.«

»Mein Gott, Wu, benutzen Sie mal Ihr Gehirn. Mein ganzer Kram war im Jeep – meine Tasche, meine gesamte Ausrüstung und meine Vorräte. Landkarten. Meine Waffen.«

»Sie haben doch schon zwei Waffen, Doktor. Wie viele brauchen Sie denn noch?«

»Jedenfalls mehr als zwei, Sie Arschloch.«

Ungerührt drehte Wu sich wieder auf dem Hocker um. Man sah durch die Frontscheibe, wie die Landschaft sich veränderte, je näher der Zug Yuma kam. Die Wüste wurde nun von asphaltierten Straßen durchzogen, und Telefonmasten wechselten sich mit den Kakteen ab. Die Gleise führten an einem einsamen Schnapsladen mit eingeschlagenen Fenstern vorbei. Davor stand ein verlassener, schmutziger Pkw mit offenen, verrosteten Türen.

»Ich brauche keine Schusswaffe«, sagte Wu, ohne Marco eines Blickes zu würdigen. »Nur meine Messer. Sie haben zwei Schusswaffen. Der Rest Ihrer Sachen ist aber verloren. Es tut mir leid.«

Marco kochte vor Wut. Es hört sich aber gar nicht so an, als ob es dir auch nur im Geringsten leidtäte.

»Hören Sie zu«, sagte er beherrscht. »Und ich meine wirklich zuhören. Ich hatte Sie davor gewarnt, diesen Zug zu betreten, aber Sie haben mich ignoriert. Das war nun schon das zweite Mal. Und jetzt soll ich auch noch für den Scheiß, den Sie bauen, geradestehen? Das war mein Jeep. Ich brauche diesen Jeep.«

»Ihr Onkel Osbourne wird ihn schon ersetzen. Ein Präsent der Regierung der Vereinigten Staaten.«

»Sie scheinen mich nicht zu verstehen. Sie werden keine Entscheidungen mehr ohne mich treffen.«

Im Westen war inzwischen ein Vorort mit beigefarbenen Ziegelhäusern aufgetaucht, und dahinter erstreckte sich ein alter Golfplatz, dessen Grün zu einem braunen Teppich verdorrt war. Im Osten war ein kleines Einkaufszentrum. Der Parkplatz war eine Müllhalde aus umgekippten Einkaufswagen, zwischen denen schaurige Hügel aus Lumpen und Knochen emporragten – menschliche Überreste, an denen die Geier sich gütlich taten.

Wu zog den Fahrschalter in die nächste Raststellung, und der Zug wurde wieder langsamer. »Wir werden mit niedriger Geschwindigkeit durch die Stadt fahren«, sagte er. »Es sind vielleicht Hindernisse auf den Gleisen.«

»Wu …«, sagte Marco.

»Doktor«, unterbrach Wu ihn. »Ich bitte Sie noch einmal, sich daran zu erinnern, dass dies eine militärische Operation ist. Und wer trifft in einem solchen Fall die Entscheidungen? Die Uniform mit den meisten Streifen – und in dieser Hinsicht steht es drei zu null für mich. Ich habe vorhin durch das Fenster beobachtet, wie fünfzig Leichen Ihren Jeep umgekippt haben. Ich hatte gar keine Zeit mehr, um Sie nach Ihrer Meinung zu fragen. Ich musste sofort eine Entscheidung treffen.«

»Eine hervorragende Entscheidung, Sergeant. Soll ich jetzt auch noch vor Ihnen salutieren?«

Wu erhob sich vom Hocker. »Wir beide sind doch intelligente Leute, Doktor. Das ist unsere Stärke. Doch manchmal … Manchmal müssen wir eben das tun, was die Situation erfordert, und dann die Konsequenzen tragen. Wie den Verlust des Jeeps. Oder beinahe von einer Leiche getötet zu werden, die Sie aus einem brennenden Lkw gezogen haben.«

In Marcos Kopf hatte sich ein Druck aufgebaut wie in einem überhitzten Dampfkessel. Und bei der Erwähnung der brennenden Leiche – dem Scheiß, den er in Maricopa gebaut hatte – öffnete sich vor seinem geistigen Auge ein Überdruckventil, der Dampf entwich und sein Ärger verflog.

Scheiße. Wieder ein Punkt für Wu.

»Also«, sagte er, bemüht, weiter wütend zu klingen. »Wir alle machen mal einen Fehler – wollten Sie das damit sagen?«

»Ich habe keinen Fehler gemacht.« Wu schob sich an ihm vorbei und ging durch den Korridor. Ohne innezuhalten, stieg er über die toten Mechaniker hinweg und zog die Hintertür zu, um die Lokomotive zu sichern. »Ich nehme an, dass Sie die Leichen zwischen hier und dem Speisewagen erschossen haben?«

Marco seufzte verdrießlich. »Ja.«

»Die meisten Passagiere sind beim Jeep ausgestiegen. Aber es sind vielleicht noch ein paar in den hinteren Waggons zurückgeblieben. Also bleibt die Lokomotive fürs Erste abgesperrt. Ich kann die Stromversorgung der anderen Waggons abschalten, aber für uns aufrechterhalten – damit wir die Klimaanlage laufen lassen können und nachts Licht haben. Und wenn dann endlich Ruhe im Zug herrscht, werden wir in die Küche gehen und die Rationen aufstocken.«

Marco rieb sich die Augen und hörte kaum zu. In die Küche gehen. Sicher. Einen kleinen Mitternachts-Snack. Er lachte freudlos.

Sie hatten nun das Stadtzentrum von Yuma erreicht. Marco sah verfallene Büros und Apartmentkomplexe. Tankstellen. Stumme Hotels und leere Restaurants, aus denen das Echo flüsternder Stimmen zu dringen schien. Der Zug unterquerte eine durch einen Geisterstau blockierte Straßenüberführung, in dem die Autos Stoßstange an Stoßstange vor sich hin rosteten. Dann fuhr er rumpelnd in eine Betonschlucht, die auf einer Länge von ungefähr achthundert Metern neben zwei parallelen Gleisen verlief. Vor ihnen stand eine düstere Parkgarage neben einem tristen sandfarbenen Gebäude.

Der Bahnhof.

»Scheiße«, nuschelte Marco.

Der Bahnsteig war überfüllt mit Leichen. Manche waren mit zerrissenen Poloshirts und Sommerhosen bekleidet, andere mit speckigen Baseballkappen und Shorts. Sie machten große Augen beim Anblick des einfahrenden Zuges – weiß Gott, wie lange sie dort schon gewartet hatten – und drängten sich gierig an der Bahnsteigkante. Die ganze erste Reihe toter Pendler fiel auf die Gleise. Die Hundert-Tonnen-Lokomotive fuhr über sie hinweg und zerquetschte sie zu Brei; Marco spürte es nicht einmal.

»Das ist sicherer für uns«, sagte Wu und kehrte zum Führertisch zurück. »Begreifen Sie es jetzt? Der Jeep war verwundbar. Wir wären damit nie durch diesen Bahnhof gekommen, nicht bei all diesen Leichen. Stattdessen fahren wir einfach durch. Auf den nächsten fünfhundert Kilometern sind wir unbesiegbar.«

»Ja …«, sagte Marco und verstummte. Hinter dem Hauptführertisch befand sich noch ein zweiter, kleinerer Führertisch; er ließ sich auf den gepolsterten Hocker fallen und legte die Kalaschnikow vor sich auf den Boden. Das Schaumstoffkissen fühlte sich … einfach toll an. Es war so bequem, dass er gleich im Sitzen hätte einschlafen können.

Er kniff sich ins Ohrläppchen und massierte nachdenklich die alte Hundebiss-Narbe. In einer Hinsicht hatte Wu jedoch recht. Der Zug war unbesiegbar, eine unaufhaltsame Macht; solange sie in Bewegung blieben, waren sie vor jedem Angriff sicher. Hundert blutrünstige Leichen? Kein Problem. Sollten sie nur kommen.

Er seufzte und schloss die Augen, sperrte alle anderen Sinneseindrücke aus und ließ nur noch das rhythmische Rattern des Zuges auf sich wirken. Das war auf jeden Fall ruhiger als die Fahrt mit dem Jeep über das Wüstengestein.

Nach einer Weile spürte er, wie seine Entschlossenheit aufweichte. Er wurde eins mit dem Rhythmus, mit der Vorwärtsbewegung – mit dieser unverrückbaren, festen Linie, die durch die Schienen vorgegeben war. Sie beförderte ihn nach Kalifornien: in eine Vergangenheit, von der er bezweifelte, dass er schon bereit war, sich mit ihr auseinanderzusetzen.

Aber darum ging es doch bei der ganzen Sache, oder? Sich der Vergangenheit zu stellen. Mit ihr abzuschließen.

Du willst dich doch nur drücken. Danielles Stimme ertönte in seinem Kopf – sie weinte und brach ihm schier das Herz. Du hast dich immer schon drücken wollen, Henry. Das ist nicht fair. Das ist nicht fair mir gegenüber

Er verteidigte sich. Nein, das will ich nicht. Diesmal nicht. Volle Kraft voraus.

Ja, er würde es zulassen. Kontrolle abgeben. Sich zurücklehnen und die Fahrt genießen. Und überhaupt – er hatte doch schon vor Jahren die Kontrolle verloren, oder?

Bringe das hinter dich und kehre nach Hause zurück.

Er wiederholte das in Gedanken, diesmal langsamer: Bringe das hinter dich und kehre nach Hause zurück.

Das war alles, worauf es ankam. Wer interessiert sich auch nur einen Scheiß dafür, wie du dorthin kommst?

Zum ersten Mal an diesem Tag entspannte sich seine Nackenmuskulatur. Vielleicht war das wirklich eine gute Idee. Allein schon deswegen, weil er fürs Erste nicht mehr befürchten musste, gefressen zu werden.

»In Ordnung«, sagte er und öffnete die Augen. Er wurde sich bewusst, dass sie feucht waren. »Was soll’s, zum Teufel. Ich löse ein Ticket nach L.A. Beim Jeep können wir auf dem Rückweg immer noch anhalten, stimmt’s? Und bis dahin müssten die Leichen auch ihre Party beendet haben. Ich habe mir förmlich den Arsch aufgerissen, um die ganze Ausrüstung zusammenzustellen. So schnell werde ich sie nicht abschreiben.«

Wu zuckte die Achseln. »Wir können es versuchen.«

»Vielen Dank auch, Sergeant. Ich weiß das wirklich zu schätzen.« Marco bückte sich und schnürte die Stiefel auf, um seine Füße zu befreien. »Und wie wäre es, wenn wir uns an unseren zwei streng riechenden Freunden da draußen ein Beispiel nehmen und versuchen, miteinander auszukommen?«

Wu schien über die Mechaniker, die sich gegenseitig umgebracht hatten, nachzudenken. Er sah Marco mit einem Kopfnicken an und richtete die Aufmerksamkeit dann wieder auf die Schienen.

»Seien Sie unbesorgt, Doktor«, sagte er gleichmütig. »Ich werde Sie jetzt noch nicht töten.«