Gefängnisstrafen

10.1

Am späten Nachmittag, als sie sich schon ziemlich tief in den San Bernardino Mountains befanden, tauchte plötzlich Verkehr vor ihnen auf. »Scheiße«, sagte Marco stöhnend. »Scheiße!«

Er ging vom Gas und ließ das Quad auf der Gebirgsstraße dahinrollen. Etwa vierhundert Meter voraus war es geschehen – einer dieser gefürchteten Geisterstaus. Ein großer noch dazu. Hunderte Pkw und Minivans, Lkw und SUV, die verlassen herumstanden; in der gleißenden Wüstensonne schienen sie alle zu einem einzigen riesigen, glänzenden Klumpen zu verschmelzen wie ein Metallstopfen, den man dem Highway in den Arsch geschoben hatte. Alle Spuren waren blockiert. Und zu beiden Seiten der Straße ragten steile Felswände auf, die man unmöglich überwinden konnte. Die Männer saßen in der Falle.

Marco murmelte Flüche und brachte das Quad vor der Stoßstange eines Mazda-Cabrios mit kalifornischen Nummernschildern zum Stehen. Das Auto hatte einmal eine schöne aquamarinblaue Lackierung gehabt, doch nun war es ausgebleicht, verfärbt und mit Roststellen übersät. Das Verdeck war offen, und die Ledersitze waren mit schwarzen Flechten überwuchert. Der Fahrer war verschwunden. Ein verrotteter brauner Collegeschuh lag neben der offenen Tür.

Mit eingetrocknetem Blut überzogen.

Genau deshalb soll man nicht auf Highways fahren, du Arschloch, sagte Marco sich zornig.

Er hatte es verbockt, und er wusste es auch.

Die I-215 war seine dämliche Wahl gewesen. Als sie Hemet verließen, hatte er sich in einem heißen Wettlauf gegen die Zeit gewähnt und im Adrenalinrausch direkt von dort nach Sarsgard rasen wollen. Geschwindigkeit war Trumpf. Die schnell weiterwandernde Sonne zog sie wie am Gängelband, und die Zeit schien ihnen davonzulaufen, während sie sich den Bergen am diesigen Horizont näherten. Marco schreckte vor der Vorstellung zurück, Sarsgard nicht rechtzeitig zu erreichen und die Nacht ungeschützt und verwundbar in der Wüste verbringen zu müssen.

Kommt überhaupt nicht infrage, schwor er sich. Das darf einfach nicht passieren.

Also hatte er sich vor einer Stunde an Wu gewandt. »Wir nehmen die 215, die Interstate nach Norden. Wir haben keine Zeit mehr, uns auf Nebenstraßen zu verzetteln oder gar zu riskieren, dass wir uns verfahren.«

»Einverstanden«, rief Wu von hinten. »Die kürzeste Route.«

In Wirklichkeit war der Einbruch der Nacht jedoch Marcos geringste Sorge. Er hatte das untrügliche Gefühl, dass irgendwo hinter dem Quad – oder schon vor ihm? – die Reiter das gleiche Rennen fuhren und Roger jagten. Sie würden wegen des Todes des bärtigen Soldaten auf Rache sinnen. Sie werden mich zwingen, Roger zu suchen. Und dann werden sie mir die Kehle aufschlitzen. Er vermochte das Bild von Monsterschädel einfach nicht abzuschütteln, dem muskelbepackten Anführer mit dem wulstigen, knochigen Kopf, der ihn aus den Tiefen seines Unterbewusstseins anstarrte wie ein halb im Unterholz des Dschungels verborgener Jäger. Der Mann machte ihm mehr zu schaffen, als er Wu gegenüber zugeben wollte.

Dabei war Monsterschädel noch nicht einmal das größte Problem.

Was geschah, falls die Reiter diesen tödlichen Wettbewerb gewannen? Wenn sie sich Rogers wertvolles Blut schnappten – was dann, bei Gott?

Wu hatte ihm die Antwort schon gegeben. Die Reiter würden Rogers DNA an Terroristen, Iraner und Irre verkaufen, die einen Impfstoff daraus gewinnen wollten. Und weiß Gott, was sie mit der Formel anstellen würden, wenn sie sie erst einmal hatten – auf dem Schwarzmarkt verhökern oder einen Staat damit erpressen. Oder vielleicht würden sie auch nur ihren Arsch retten, während alle anderen auf dem Planeten verrotteten.

Scheiße, das sind doch keine Menschenfreunde, dachte er. Mach jetzt nur keinen Mist, Henry, oder die Welt hat ganz schlechte Karten.

Er wurde blass. Es stand so viel auf dem Spiel, dass es ihm geradezu irreal erschien. Er hatte furchtbare Kopfschmerzen wegen des Schlafmangels, des Nahrungsmangels und vor allem wegen der gottverdammten Sorgen – als hätte man seinen Kopf in einen Schraubstock gespannt, der jede Minute etwas fester angezogen wurde.

Hinter Hemet war das Quad an einem heruntergekommenen Drogeriemarkt vorbeigerast. Tote Kunden strömten in beide Richtungen durch die zertrümmerten Eingangstüren des Geschäfts. Marco seufzte.

Ein Fläschchen Advil wäre es beinahe wert gewesen, den Kampf gegen diese Leichen aufzunehmen.

Abgelaufenes Advil, sagte er sich dann. Würde auch nichts helfen.

Außerdem würde ihm Wu ganz bestimmt keinen weiteren Zwischenstopp zugestehen, denn die Sonne stand schon im Westen und färbte den Himmel blutrot.

Und just in diesem Moment winkte zur Rechten das blaue Hinweisschild für die I-215. Und wie ein Spieler, der die Würfel rollen ließ, bog er in der Hoffnung, Zeit zu sparen, auf die Interstate ab.

Wie deprimierend leer sie anfangs erschien. Wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Ausgebleichte Lebensmittelverpackungen und vermoderte Zeitungen hatten sich an den Betonbegrenzungen zwischen den Fahrbahnen angesammelt; die Straße, die einst freie Fahrt für freie Bürger versprochen hatte, war nun zu einer dreispurigen Müllhalde verkommen. Braunes Unkraut wucherte in Rissen im Straßenbelag, und überall lagen orangefarbene Leitkegel mit weißen Streifen von Autobahnbaustellen herum. Der Highway zog sich als ein langer, gerader Streifen durch die stumme Landschaft, bis er am Horizont zu einem Punkt verschmolz. Er ließ den Blick in die Ferne schweifen, sah aber nichts Bedrohliches – keine Quads, die mit feuernden Bordwaffen gen Süden rasten. Auch keine Geier.

Das ist das Gute an Highways, dachte er. Man erkennt Probleme schon aus der Ferne.

Das Dumme ist nur, dass die Probleme einen auch erkennen.

Er schüttelte den Kopf. Mach dich nicht verrückt. Gib einfach Gas und bring es hinter dich. Wenn du die Berge hinter dir gelassen hast, kannst du auch wieder auf Nebenstrecken ausweichen.

Eine Viertelstunde lang fuhr er nach Norden, und er verlor jedes Mal fast die Nerven, wenn er ein anderes Motorengeräusch hörte. Aber es war immer nur das Echo seines eigenen Quads, das von einer Autobahnbrücke oder den hohen Bergen widerhallte. Einmal bremste er fast erschrocken, als er eine Straßensperre aus Militärfahrzeugen der Reiter zu sehen glaubte – nur um dann peinlich berührt zu erkennen, dass es sich um keine Straßensperre und schon gar nicht um Reiter handelte, sondern nur um drei explodierte und ausgebrannte Autos, die auf der Seite lagen.

Gott sei Dank hatte er nicht auf die Bremse getreten. Wu hätte sich gnadenlos über ihn lustig gemacht.

Der Highway zog sich wie ein ausgetrocknetes Flussbett durch die Städte Südkaliforniens, vorbei an staubigen Reklametafeln und durch ausgedörrte Städte, in denen sich nichts mehr regte außer den Steppenhexen auf den Straßen. Und dann waren sie wieder oben im San-Bernardino-Wald, diesmal am Nordende, und starteten eine neue Achterbahnfahrt zwischen in allen Rottönen schillernden Felswänden, Zuckerpinien und Gestrüpp. Und die ganze Zeit hörte er wie bei einem schicksalhaften Countdown eine innere Uhr ticken. Dabei wusste er nicht einmal, weshalb er sich so unter Druck setzte.

Und nun das.

Ein Geisterstau, ein gottverdammt vorhersehbarer Geisterstau. Er biss sich auf die Lippe. Mit dem Jeep wäre der Fall klar gewesen – er hätte wenden und eine andere Route suchen müssen. Eine andere Wahl hätte er nicht gehabt. Doch das Quad bot ihm eine Option … die er nun widerwillig in Betracht zog.

Er könnte auf der Pannenspur an den Autos vorbeifahren.

Wie ich den Jeep vermisse, dachte er.

Mit dem Jeep hätte er einfach umkehren können, ohne sich selbst der Feigheit bezichtigen zu müssen.

»Fahren Sie schon«, sagte Wu ungeduldig. Er hatte die Lücke auch erspäht.

»Ja, ja«, sagte Marco. Ich fahr ja schon.«

Während er noch zauderte, wusste er, dass die Reiter immer näher kamen. Wie weit mochten sie noch entfernt sein? Zwanzig Kilometer? Zehn? Oder würden sie jeden Moment um die Kurve biegen und »Huhu« rufen?

Von diesem Gedanken gequält betätigte er sachte den Gasgriff. Das Quad rollte zur rechten Bankette und in die Lücke zwischen der äußeren Leitplanke und einem zerkratzten SUV mit platten Reifen. Ein Surfbrett war auf dem Dach befestigt. Er fuhr langsam und vorsichtig an den Autos vorbei.

Es waren nur noch leere Metallhüllen. Aber er wusste auch, dass sich hier irgendwo Leichen versteckt hatten; es lagen immer Leichen auf der Lauer und warteten nur darauf, wie monströse Krabben aus ihren Löchern zu kommen und sich über eine Mahlzeit herzumachen.

Die Pannenspur war breit genug, aber er musste trotzdem gut aufpassen. Die Straße war mit scharfkantigen Radkappen, verrosteten Schalldämpfern und abgerissenen Stoßfängern übersät, als hätte ein durchgeknallter Mechaniker überall Autoteile verstreut. Das Quad hoppelte mit seinen großen Rädern über die Hindernisse hinweg und rüttelte Marco durch, sodass sich sein Atem löste. Was in gewisser Weise auch hilfreich war; denn seine Brust war so zugeschnürt, dass er von selbst gar nicht mehr ausatmete.

Wu hinter ihm grunzte unbehaglich.

»Da sehnt man sich fast nach den Schienen zurück, was?«, fragte Marco.

»Achten Sie auch auf Leichen?«, fragte Wu mürrisch. »Oder klopfen Sie nur dumme Sprüche?«

»Beides. Ich werde immer zum Scherzkeks, wenn man mich fressen will.«

Das Chaos am Straßenrand war aber noch das kleinere Übel verglichen mit den Horrorszenen in den Autos. Zerrissene menschliche Leiber. Abgefressene Arme baumelten aus halb geöffneten Türen. Skelettierte Fahrer waren über Lenkrädern zusammengesackt und hatten im Todeskampf die Zähne zusammengebissen. Marco wusste nur zu gut, dass man im Grunde nur zwei Möglichkeiten hatte, wenn die Toten in einem Stau ausschwärmten – entweder nahm man die Beine in die Hand oder verbarrikadierte sich im Auto. Jedoch mussten die Leute, die sich für Letzteres entschieden hatten, auf die harte Tour lernen, dass ein Auto ein Sarg auf vier Rädern war. Man konnte nicht einfach die Fenster schließen und die Leichen wie ein Sommergewitter draußen halten. Überall waren die Windschutzscheiben zertrümmert, und die Autos glichen aufgebrochenen Särgen mit mumifizierten Männern und Frauen. Zwischen den Fahrzeugen war der Straßenbelag mit Scherben von Sicherheitsglas und abgenagten Knochen übersät. Zerfetzte Hemden, Hosen und Kleidern lagen wie Altkleiderhaufen neben den Stoßfängern.

Er erstarrte. Hatte dieser Körper sich etwa bewegt?

Nein. Das sind nur meine überreizten Nerven.

Er spitzte die Ohren. Das Quad war zu laut. Er konnte unmöglich das Öffnen einer Autotür oder das Quietschen von Scharnieren hören. Auch nicht das Schlurfen von Leichenfüßen auf dem Asphalt.

Aber so weit, so gut. Er hörte diese Geräusche nicht, weil sie nicht da waren – oder?

Sie hatten etwa anderthalb Kilometer zurückgelegt, als er dann doch einen Schrei hörte – heilige Scheiße!

Der Schrei war so schrill und laut, dass er das Brüllen des Motors übertönte und Marco eine Gänsehaut bekam. Wu drehte sich in der Heckmulde um, als das Geheul erstarb.

»Was zum Teufel war das denn?«, fragte Marco atemlos.

Dort. Nun sah er es vor sich. Ein verwitterter Volvo-Kombi mit schwarz verschmierter Heckscheibe. An der Stoßstange klebte ein rissiger Aufkleber des Zoos von San Diego mit einem putzigen Koalabären. Der Schrei ertönte wieder – erstickt und gequält, als ob jemand mit Buttermilch gurgelte. Furchtbar. Marco fuhr neben das Auto und warf durch das zertrümmerte Fenster einen Blick auf die Rückbank.

Ein totes Kleinkind starrte ihn an. Es war auf einem Babysitz angeschnallt. Darin gefangen.

Es war zwei Jahre alt, vielleicht auch drei. Der Hals war aufgerissen, und die Luftröhre lag frei. Es trug einen steifen Jeans-Overall und ein blau gestreiftes Hemd, das mit Blut verschmiert war; Babyspeck hing in weißen wurmartigen Streifen unter dem Kinn. Die Augen waren gelblich fahl wie geschälte Äpfel.

Marco drehte sich der Magen um. Das Kind stemmte sich gegen die Gurte und streckte die Arme aus, als wollte es aufgenommen werden.

Mein Gott, dachte Marco. Er war mit den Nerven am Ende.

Auf den Vordersitzen saßen die Skelette von zwei Erwachsenen – Mama und Papa. Sie waren halb durch die zertrümmerte Windschutzscheibe gezogen worden. Ihre Lungen hingen überm Armaturenbrett. Die Köpfe waren verschwunden. Gefressen worden.

Gütiger.

Gott.

Das Quad rollte weiter. Marcos Gedanken überschlugen sich, und er versuchte, sie wieder zu sortieren. Als ob er das, was er eben gesehen hatte, durch einen Knopfdruck löschen könnte.

Ich sollte umkehren, sagte er sich. Das Kind zurückgeben und es aus diesem … diesem Albtraum erlösen. In dem es für immer weinend in einem Auto sitzt. Nur dass Wu das niemals zulassen würde

Er war so abgelenkt, dass er nicht einmal zusammenzuckte, als plötzlich zwei tote Hände hinter einem hellblauen Lincoln auftauchten und auf die Motorhaube schlugen.

Eine runzlige Leiche hatte sich aufgerichtet und stützte sich auf dem Auto ab. Ein älterer Mann mit einem albernen Anglerhut, an dessen Krempe ein gelber Köder befestigt war.

Hallo, Großvater, dachte Marco.

Seine Adern schwollen an, und das Blut rauschte hindurch. Und plötzlich regte sich auf der zweiten Fahrspur auch etwas – noch eine Leiche, diesmal eine Frau, die unter einem schwarzen Nissan hervorkroch.

»Leichen!«, rief er Wu mit schriller Stimme zu.

»Das ist noch nicht alles.« Wu packte ihn an der Schulter und drehte ihn auf seinem Sitz herum. »Schauen Sie.«

Weit hinten, noch vor der Stelle, wo der leere Highway durch den Stau blockiert wurde, schwärmten bekannte Gestalten aus.

Fünf Militär-Quads rasten auf sie zu.

Die Reiter hatten sie eingeholt.

10.2

Marco war wie gelähmt. Der Anblick der motorisierten Reiter-Kolonne war beinahe traumartig wie eine Fata Morgana, die einfach nicht wahr sein konnte – und wie in einem Traum vermochte er sich nicht zu bewegen. Sein Körper folgte irgendeiner geheimen Logik, die sich seinem Einfluss entzog.

Nur dass dieser Scheiß natürlich real war – und in einer Minute wären die Reiter da und würden ihm kräftig den Arsch versohlen. Eine Panikattacke verknüpfte die Nerven wieder mit dem Gehirn, und er drehte sich ruckartig auf dem Quad um. Die alte Angler-Leiche wankte vom Lincoln auf ihn zu. Schwarze Fliegen krabbelten wie ein zweiter Bart auf den weißen Bartstoppeln auf ihren Wangen herum.

»Na toll«, raunzte Marco. »Das hat mir gerade noch gefehlt.«

»Fahren Sie«, sagte Wu mit seltsamer Gelassenheit. »Wir haben noch einen guten Vorsprung, wenn wir uns beeilen …«

Er hatte den Satz noch nicht beendet, als Marco den Gasgriff betätigte und das Quad vorwärtsschoss. Die alte Leiche wollte sich auf sie stürzen, verfehlte sie jedoch und fiel auf die Straße.

Autsch, Großvater, dachte Marco. Du hast dir sicher die Hüfte gebrochen.

Das Quad setzte die Fahrt über die schmale Pannenspur fort, hoppelte über die Trümmer und ließ die Fahrzeuge links liegen. Marco biss die Zähne zusammen und blickte hektisch zwischen der Straße und dem Friedhof der Autos hin und her. Sie hatten ein Problem. Sie steckten knietief in der Scheiße. Überall wachten nun die Leichen aus ihrem Schlaf in den Rostlauben auf. Sie schauten verschlafen und hatten Hunger auf Fleisch. Köpfe lugten hinter Autos hervor, von Rücksitzen, von Lkw-Ladeflächen – wie Kinder, die nach einem Versteckspiel aufgefordert wurden, wieder zum Vorschein zu kommen. Kommt alle wieder raus, wo auch immer ihr seid.

Konzentration, befahl Marco sich. Bau jetzt keinen beschissenen Unfall.

»Sie haben die Autos erreicht«, rief Wu über den Motorenlärm hinweg. »Die Reiter.«

»Danke für das Update – das motiviert mich richtig.«

Ein stämmiger Trucker ging um das Führerhaus seines Lkw herum, und Marco beschleunigte in der Befürchtung, der große Mann würde ihnen den Weg versperren. Das Quad schlüpfte in letzter Sekunde durch die Lücke und riss der Leiche den Fuß ab, als sie in den Weg der rotierenden Räder geriet. Ein Schwall schwarzen Bluts spritzte auf die Haube des Quads. Marco spie aus und wischte sich das Gesicht mit dem Unterarm ab.

Er wollte diesen Dreck auf keinen Fall in den Mund bekommen.

Aus der Ferne untermalten knallende Geräusche das Brüllen des Quads. Sie wurden zwischen den Steilhängen hin und her geworfen, und erst als der Außenspiegel einer grauen Limousine direkt neben ihm zersplitterte, begriff Marco, dass die Reiter auf sie schossen. »Scheiße!«, schrie er und duckte sich auf dem Sitz. »Sie schießen auf uns!«

»Die schießen auf mich«, rief Wu verärgert zurück. »Sie wollen sie lebend.«

»Hey, geben Sie mir jetzt nicht die Schuld … Scheiße!« Marco richtete den Blick nach vorn und trat voll auf die Bremse.

Wu stieß fluchend gegen seinen Rücken. »Was ist denn jetzt wieder los?«

»Sackgasse«, sagte Marco.

Etwa drei Meter vor ihnen war ein prähistorisch anmutender Cadillac seitlich gegen die Leitplanke geprallt, die Heckflossen waren eingeknickt, ein schwarzer Lexus hatte sich in den Wagen gebohrt, und dahinter waren fünf oder sechs weitere Fahrzeuge aufgefahren. Als Leichen auf dem Highway ausgeschwärmt waren, hatten die Fahrer in Panik aufs Gas getreten und waren umso schneller gestorben.

Und nun blockierten die Wracks auch noch diese Fahrspur.

Marco sah sich hektisch um und suchte nach einer Ausweichmöglichkeit. Doch die gab es nicht. Auf dem ganzen Highway standen die Autos Stoßstange an Stoßstange; so dicht, dass das Quad sich nicht an ihnen vorbeiquetschen konnte.

Die einzig mögliche Richtung war … zurück.

Verdammte Scheiße.

Zweihundert Meter hinter ihnen waren die Reiter nun auch auf die Pannenspur abgebogen und fuhren am Geisterstau vorbei. Mit den grünen Helmen und den Motorradbrillen sahen sie aus wie monströse Insekten – ein ganzer Killerschwarm. Sie rasten an Leichen vorbei, die auf der Überholspur herumtobten; die Toten wurden durch die endlose Barriere der Autos zwar aufgehalten, aber es gelang ihnen dennoch, sie zu überwinden: Sie krochen unter den Autos hindurch und stiegen über sie hinweg. Es waren weitaus mehr Leichen, als Marco sich vorgestellt hatte.

Mein Gott, er war direkt an ihnen vorbeigefahren und hatte sie alle aufgeweckt.

»So viele können wir nicht bekämpfen«, sagte er mit düsterer Stimme.

Er spürte das Gewicht einer Kalaschnikow an der Brust – Wu schob ihm die letzte Waffe aus der Waffenhalterung in die Arme. Der Sergeant stand neben dem Quad; die Messer baumelten an seinem Gürtel, und er hatte sich den Rucksack des Reiters über die unversehrte Schulter gehängt.

»Das werden wir auch nicht«, sagte Wu mit scharfem Blick. »Wir hauen ab.«

Und dann lief Wu los, hechtete über die Motorhaube des Cadillac und ließ das Quad zurück. Marco sah ihm perplex nach.

Er hörte ein Grunzen und drehte sich um. Die dicke Trucker-Leiche hoppelte auf ihn zu. Der Stumpf des Beins, an dem der Fuß fehlte, schleifte auf der Straße und zog eine Linie aus öligem Blut hinter sich her.

Marco flankte über den Cadillac und rannte davon.

Es fielen Schüsse, Kugeln schlugen rechts von ihm in die Betonbegrenzung des Highways und rissen Splitter heraus. Wu ging mit einem Hechtsprung zwischen den Autos auf der mittleren Spur in Deckung, und Marco folgte ihm. Mein Gott, Wu! Sind Sie sicher, dass sie nicht auf mich schießen?!?

Er warf einen kurzen abschätzenden Blick zur Seitenbegrenzung, sah aber sofort, dass es keinen Sinn hatte, darüber hinwegzuspringen und den Berg hinaufzuklettern. Da draußen im offenen Gelände wäre er ein leichtes Ziel. Die Reiter feuerten wieder, und ein paar Schritte von ihm entfernt wurde der Asphalt von Kugeln aufgerissen.

Dann verstand er. Meine Beine … Sie wollen mich lebendig erwischen.

Er rannte die mittlere Spur entlang und fühlte sich dabei wie ein Stier, der in ein Gehege gepfercht war, dessen Begrenzung aus leeren Autos bestand. Er sprang über einen toten Teenager hinweg, der gerade unter einem alten Camaro hervorkroch; seine schwarze Lippe war mit einem angelaufenen Silberring gepierct, und er stieß einen bellenden Laut aus und wollte ihn an den Knöcheln packen.

Der vorauslaufende Wu wich wieder nach links aus, als ein Rudel Leichen vor ihm auf der Straße erschien. Marco duckte sich hinter ein umgekipptes weißes Wohnmobil, als die Leichen vorbeirannten, und kroch dann zur anderen Seite. Er stand auf und war zunächst desorientiert – wusste im ersten Moment nicht, ob er sich nach links oder rechts wenden sollte.

Nach rechts.

Er lief los, konzentrierte sich auf den vor ihm laufenden Wu und war entschlossen, Schritt zu halten.

Die Reiter mussten inzwischen die vom Cadillac gebildete Sackgasse erreicht haben, sagte er sich. Richtig vermutet – er hörte plötzlich einen unartikulierten Schrei von den Felswänden widerhallen. Vor seinem geistigen Auge erschien Monsterschädel, wie er seinen mächtigen, unförmigen Kopf, dessen gespannte Haut von der Sonne krebsrot verbrannt war, zornig brüllend zurückwarf. Nun ertönten noch mehr Schreie, die ihm über alle Fahrbahnen hinweg antworteten – Fünf, du nimmst die Mitte! Sechs, du gehst nach links! Beeilt euch! –, als die Reiter ihre Quads ebenfalls stehen ließen und ausschwärmten.

Wie um seine Theorie zu bestätigen, zischte eine Kugel in geringer Höhe an Marco vorbei und durchschlug die Radkappe eines rostigen Volkswagens. Er wirbelte herum. Dort, hundert Meter hinter ihm, hockte der Reiter im Pilotenoverall; der Soldat hatte mit einem schlanken Gewehr auf ihn angelegt und nutzte ein umgefallenes Motorrad als Stütze …

Scheiße!

… doch bevor der Mann erneut abdrücken konnte, sprang eine verweste Biker-Leiche hinter einem Auto hervor, fiel über den Reiter her; der Schuss löste sich und ging in die Luft. Weitere Leichen gesellten sich dazu.

Marco verlor keine Zeit. Er wirbelte herum und rannte den schmalen Korridor zwischen den Fahrzeugen entlang, wobei er sich die Hüfte an Außenspiegeln stieß.

Hinter sich hörte er schrille Schreie und unverständliche Worte, und die Schüsse steigerten sich zu einem panischen Crescendo. Er wurde sich bewusst, dass der Tunnel aus Leichen einstürzte und die Reiter unter sich begrub. Er hatte sie unwissentlich in eine Todesfalle gelockt. Wie Moses und die Ägypter, dachte er schwummrig, als das Rote Meer über der Armee des Pharaos zusammenschlug. Jetzt fehlt mir nur noch ein weißer Bart.

Wu war nirgends mehr zu sehen.

»Wu!«, rief Marco besorgt.

»Hier entlang!«, ertönte Wus laute Stimme von der rechten Fahrspur.

Vor Marco türmte sich wieder eine Barrikade aus Schrottautos auf; diesmal war es ein dreckiger Kleinbus, der sich seitlich verkeilt hatte und ihm den Weg versperrte. Plötzlich wurde die schwarze Tür des Wagens aufgerissen, und sieben oder acht dunkelhaarige Leichen strömten heraus und rannten auf Marco zu. Mist. Er flüchtete sich unter den großen Anhänger eines schweren Lkw. Die Leichen packten ihn an den Beinen, doch er schüttelte sie durch heftige Tritte ab und rollte sich auf die andere Seite, und da war auch schon Wu, der ihn zu sich winkte.

»Hier entlang!«, schrie Wu wieder und deutete nach vorn.

Das Ende des Geisterstaus. Sie mussten noch hundert Meter überwinden. Die Fahrzeuge waren nun weiträumiger verteilt, und die Zwischenräume wurden größer; die Berge traten zurück, und die Straße führte wieder in eine braune Ebene, eine trostlose Landschaft fast ohne jede Vegetation. Marco wippte auf den Zehenballen und rannte los. Seine Lunge schmerzte und flehte ihn an, endlich stehen zu bleiben, doch die Schreie der Reiter, die bei lebendigem Leib gefressen wurden, trieben ihn an. Er gewann das Rennen.

Schließlich erreichte er das Stauende, das von einem auf dem Dach liegenden Einsatzfahrzeug der Polizei gebildet wurde. Es war wahrscheinlich beim vergeblichen Versuch umgekippt, während der Evakuierung die öffentliche Ordnung wiederherzustellen; stattdessen hatte der Beamte nur den Verkehr auf mehreren Kilometern zum Erliegen gebracht. Eine skelettierte Hand baumelte auf der Fahrerseite aus dem Fenster, eine makabre Begrüßung auf dem blockierten Highway.

Hinten im Geisterstau fielen in schneller Folge Schüsse, als ob Feuerwerkskörper gezündet würden. Ein kollektiver qualvoller Schrei, als mehrere Männer zugleich starben, hallte von den Wracks wider und bohrte sich förmlich in Marcos Gehirn, bis er schließlich in einem feuchten Gurgeln erstarb.

Noch ein Soundeffekt für seine Albträume.

Er rannte weiter, eine Schrittlänge hinter Wu – rang den höllisch schmerzenden Beinen noch einmal fünf Schritte ab, dann noch einmal fünf Schritte und noch einmal fünf Schritte …

Schließlich fielen keine Schüsse mehr. Alle waren tot.

Die Wüste lag wieder still da.

Wu blieb stolpernd stehen. »Das ist weit genug«, sagte er keuchend. »Pause.«

Marco drehte sich um und staunte, wie weit er gerannt war; Angst und Adrenalin hatten sein Entfernungsgefühl durcheinandergebracht. Das umgestürzte Polizeiauto war über anderthalb Kilometer entfernt und nur noch als Punkt in der flimmernden Hitze zu sehen. Die anderen verrosteten Fahrzeuge waren nur noch in groben Umrissen zu erkennen und verschmolzen mit der Umgebung.

Von hier aus schien alles ruhig, und es gab keinerlei Anzeichen für die Fressorgie, die dort stattfand.

Die beiden Männer standen da und warteten.

Es tat sich nichts.

»Die Reiter?«, fragte Marco.

Wu zuckte die Achseln und ging weiter. »Fürs Erste sind wir sicher.«

»Tod im Geisterstau«, sinnierte Marco.

»Wollen wir’s hoffen«, sagte Wu, obwohl er nicht allzu optimistisch klang. »Jetzt müssen wir zu Fuß nach Sarsgard gehen. Und wir sind irgendwo am Arsch der Welt.«

Das öde Terrain erstreckte sich von der Interstate nach Osten und Westen; es gab nichts außer Gestrüpp und vereinzelten Brittlebrush-Sträuchern, die in der Abendsonne lange Schatten warfen.

»Ich habe die Landkarte dabei.« Marco klopfte auf seine Gesäßtasche. »Aber ich weiß nicht, ob wir sie überhaupt noch brauchen – wir sind wahrscheinlich schon fast da.«

Er deutete auf ein einsames weißes Straßenschild vor ihnen; es war das einzige von Menschenhand geschaffene Objekt weit und breit. Schwarze Lettern verkündeten eine deutliche Warnung:

Strafanstalt IM UMKREIS

Keine Anhalter mitnehmen

Wu rückte den Rucksack auf seiner Schulter zurecht. »Sehr ermutigend.«

»Ja. Das nenne ich mal einen guten Rat.« Marco warf einen letzten Blick auf die Berge. Es war niemand zu sehen. Doch die Sonne sank stetig. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und den Augenbrauen. »Wir sollten uns lieber beeilen.«

Wu übernahm die Führung und marschierte zügig weiter. Seine Schulterblätter bewegten sich beim Gehen so geschmeidig wie die eines Raubtiers auf der Pirsch. Fliegen umschwirrten summend den verschmutzten Verband. Er verjagte sie alle paar Dutzend Schritte.

»Zu dumm, dieses Verbot, Anhalter mitzunehmen«, sagte Marco trocken. »Wir brauchen nämlich eine Mitfahrgelegenheit, wenn wir hier fertig sind. Zu Fuß wäre es ein weiter Weg nach Arizona.«

»Alles der Reihe nach, Doktor«, sagte Wu, ohne sich umzudrehen. »Vielleicht leben wir gar nicht mehr lang genug, um mit diesem Problem konfrontiert zu werden.«

Marco sagte nichts. Seine Füße schmerzten, und er spürte eine nässende Blase am großen Zeh, die beim Marschieren am Stiefel scheuerte. Am östlichen Horizont sah er Gebäude und ein Hinweisschild für eine Tankstelle, doch die Straße schlängelte sich weiter dem Sonnenuntergang entgegen. Ein zimtfarbener Habicht flog auf der Suche nach Kaninchen und Erdhörnchen über sie hinweg. Wenigstens sind die Kaninchen so schlau, sich zu verstecken, sagte Marco sich. Nicht wie wir Idioten, die weithin sichtbar mitten durch Leichenland, den neuen Bundesstaat der USA, streifen. Wir sind eine leichte Beute. Er konzentrierte sich auf den lädierten Zeh. Autsch. Autsch. Autsch. Wenigstens war dieser Schmerz noch erträglich und lenkte ihn von schwerwiegenderen Problemen ab.

Zwanzig Minuten vergingen und dann dreißig. Keiner der beiden Männer sagte etwas. Es gab auch nichts zu sagen. Sie waren erschöpft und zerschlagen und marschierten schnaufend weiter.

Schließlich brach Wu das Schweigen.

»Da ist es«, sagte er feierlich. »Sarsgard.«

10.3

Als Marco auf der Kreuzung von zwei Wüstenstraßen stand und den großen Komplex des Gefängniskrankenhauses von Sarsgard betrachtete, erinnerte er sich daran, wie er zum ersten Mal den Grand Canyon gesehen hatte. Es war eine Tagesfahrt zum Südrand gewesen; in dem Sommer, als Danielle und er nach Arizona gezogen waren. Nichts hatte ihn auf diesen Anblick vorbereitet – keine Bildbände, keine Dokumentationen, auch nicht die abstrakten Entwürfe seiner Fantasie. Er hatte dann am Geländer des atemberaubenden Abgrunds gestanden, nachdem fünf Stunden Autofahrt ihn irgendwie auf einen anderen Planeten befördert hatten, der aus unzähligen Schichten von rotem und goldenem und grünem Gestein geformt war. Noch nie hatte er sich so winzig gegenüber der Natur gefühlt, so machtlos und außerstande, den Lauf der Welt zu ändern. Sechs Millionen Jahre, hatte er sich gesagt. So lang hat es gedauert. Danielle hatte sich bei ihm untergehakt, und sie hatten sich eine Erdbeereiswaffel geteilt und den Anblick förmlich eingesogen. Und es war ihm in den Sinn gekommen, dass in geologischen Zeiträumen seine Existenz auf der Erde genauso flüchtig wäre wie Hannahs – so schnell vorbei, dass man fast darauf hätte verzichten können, überhaupt geboren zu werden. Er war errötet, hatte Tränen unterdrückt und den Gedanken für sich behalten. Danielle wäre damit überhaupt nicht einverstanden gewesen.

Und nun wurde er wieder von diesem Gefühl überwältigt. Das Gefängnis war ein Moloch, und er war eine winzige Milbe. So klein und schwach. Er starrte schon wieder in einen Abgrund.

»Die Anlage ist doch viel zu groß«, sagte er zu Wu. »Wie zum Teufel sollen wir Roger denn da drin finden?«

Der Gefängniskomplex umfasste etwa zweihundertfünfzig Hektar Wüste, eine imposante Metropole aus roten quaderförmigen Gebäuden, die von einer hohen Betonmauer umgeben wurden. Er dräute am nördlichen Horizont wie eine mächtige Ruine, die durch eine archäologische Grabung wieder das Licht der Welt erblickt hatte – trist und bedrohlich. Auch wenn sie dem Schoß der Erde wieder entrissen worden war, war sie eindeutig tot. Daran gab es keinen Zweifel. Es kreisten so viele Geier über den Schieferdächern, dass der Himmel schwarz von ihnen war. Marco verspürte ein mulmiges Gefühl.

Weiß Gott, was hinter dieser Mauer auf sie wartete.

Wu nahm den letzten Schluck aus der Feldflasche und schielte zu Marco. Sie waren noch etwa achthundert Meter vom Haupttor entfernt und wurden langsamer. Marco registrierte ihren zögernden Gang – wie Boxer, die sich in der letzten Runde umkreisten und darauf warteten, den entscheidenden Treffer zu landen. Die Sonne schrammte über die Berge im Westen, und der Himmel verfärbte sich plötzlich wie ein Bluterguss. Als hätte man auch ihm den Arsch versohlt.

In spätestens einer Stunde würde die Sonne untergehen. Vor ihnen erstreckte sich die lange Zufahrt zum Gefängnis und endete schließlich vor einem massiven Eisentor mit Gitterstäben.

Selbst aus der Ferne erkannte Marco, dass das Tor geschlossen war.

»Wir sollten nicht herumtrödeln«, sagte Wu. »Wir müssen noch einen Weg hineinfinden.«

»Osbourne sagte etwas von einer Bresche«, erinnerte Marco sich. »Es muss irgendwo ein Loch geben. Wenn wir hier keins sehen, ist es vielleicht an einer anderen Seite.«

Je näher sie dem Haupttor kamen, desto nachdenklicher wurde Marco. Er stellte sich vor, wie neue Gefangene auf dieser Straße nach Sarsgard gebracht worden waren. Sie mussten sich gefragt haben, ob das wohl das Letzte war, was sie von der Welt da draußen zu sehen bekamen. Die Straße führte zwar hinein, aber sie führte nicht für jeden wieder heraus. Ich werde da drin sterben, dachte er und wies den Gedanken sogleich von sich.

Hör auf mit dem Scheiß. Du wirst Roger finden und ihn zurückgeben. Soll Wu doch seine Blutprobe nehmen. Und dann spazierst du als freier Mann wieder raus.

Er erinnerte sich an Osbournes Video und wurde blass. Tausende revoltierende Leichen.

Natürlich – gar kein Problem.

Das Haupttor war verschlossen, was auch zu erwarten gewesen war. An den dicken Eisenstäben blühte tumorartiger orangefarbener Rost. Und die Mauer – die Mauer degradierte Marcos Barrikade zu einem kleinen Mäuerchen. Sie war beinahe fünf Meter hoch und wurde von rasiermesserscharfem NATO-Stacheldraht gekrönt. Sie war unüberwindlich, selbst wenn Wus Schulter unverletzt gewesen und Marcos Hände nicht von Brandwunden übersät gewesen wären.

Die Mauer erstreckte sich hundertfünfzig Meter in Richtung der untergehenden Sonne, knickte dann im rechten Winkel ab und schloss das Gefängnisgelände ein. Auf der anderen Seite erhob sich ein einschüchternder Wachturm. Er bestand aus eisernen Stelzen mit einer rechteckigen Plattform, auf die ein kastenförmiger Aufbau gesetzt war. Eine weiße Sirene hockte wie eine dicke Möwe auf dem Dach.

Und dann sah Marco plötzlich eine Leiche auf der Plattform auftauchen – ein toter Wachposten. Seine blaue Uniform war zerlumpt, und die toten Augen lagen tief in den Höhlen. Der Mann musterte sie mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck. Er hatte ein Gewehr in den Armen, das schräg nach oben ragte.

»Hoffentlich weiß er nicht, wie man dieses Ding benutzt«, sagte Marco. »Lassen Sie uns in diese Richtung gehen. An der Mauer entlang.« Er deutete auf die Stelle, wo die Mauer im rechten Winkel abknickte.

»Wir haben aber keine Zeit, um die ganze Mauer herumzugehen. Das schaffen wir nicht vor Einbruch der Dunkelheit.«

»Wir haben wohl keine andere Wahl. Kommen Sie.«

Sie hielten sich dicht an der Mauer, um nicht ins Schussfeld des Wachturms zu geraten. Sogar ein Schimpanse konnte einen Abzug betätigen, sagte Marco sich, und vielleicht verfügte der tote Wachposten noch über ein so gutes Muskelgedächtnis, um einen Schuss ins Blaue abzugeben. Als sie unterhalb des Turms vorbeigingen, ertönte plötzlich auf der anderen Seite der Mauer ein dumpfes Geräusch. Marco trat einen Schritt zurück und legte den Kopf in den Nacken. Der Turm war leer. »Ich glaube, der Wachposten ist runtergefallen«, sagte er.

»Höhenangst kannte er wohl nicht«, bemerkte Wu. »Hat sich zu weit hinausgelehnt.«

Vorsichtig gingen die beiden in westlicher Richtung an der Mauer entlang. Wu hatte recht damit gehabt, dass die Strecke nicht zu schaffen war. Um den gesamten Komplex zu umrunden, hätten sie Stunden gebraucht.

Doch zu Marcos Erleichterung wurden sie schon nach zehn Minuten fündig. Als sie um die Ecke gebogen waren, dauerte es nicht mehr lange, bis sie auf eine Reihe olivgrüner Militär-Lkw stießen. Es handelte sich um vier bullige, gepanzerte Siebentonner mit sechs angetriebenen Rädern, die für den Transport von Truppen und Waffen durch die Wüste dienten. Alle Fahrzeuge waren leer.

»MTVR«, sagte Wu. »Medium Tactical Vehicle Replacement.«

Der neuste Truck des US Marine Corps.

»Cool«, sagte Marco.

Hinter den Lkw klaffte ein großes Loch in der Wand. Es war etwa drei Meter breit. Der Erdboden war mit melonengroßen Trümmerstücken übersät, und Stangen aus vergütetem Stahl ragten wie Spinnenbeine aus dem gesprengten Beton. Da war wohl Dynamit zum Einsatz gekommen, sagte Marco sich.

»Das erste AAE-Kommando hat dieses Loch in die Mauer gesprengt, um Roger rauszuholen«, sagte er. »Das hat aber nicht hingehauen. Wenigstens haben sie eine schöne neue Tür reingesprengt.«

Er zog die Automatik und ging vorsichtig zur Bresche.

Dann steckte er den Kopf hindurch … Er rechnete fast damit, dass tote Hände nach ihm griffen, ihn festhielten und sein Gesicht auf den freiliegenden Stahlstangen aufspießten.

Doch im Inneren des Komplexes war alles ruhig. Nichts regte sich. Er drehte den Kopf, suchte die Mauer nach einem Hinterhalt ab und machte sich schnell ein Bild von der Anordnung der riesigen Gefängnisanlage. Zumindest soweit er sie zu überblicken vermochte. Alle paar Hundert Meter ragten Wachtürme über die Mauer empor; zur Rechten sah er in der Ferne den vom Turm gefallenen Wachposten auf sich zuwanken. Er ging quälend langsam und stützte sich mit der Hand an der Wand ab. Das Gewehr war verschwunden.

Ein breiter Streifen Niemandsland aus staubigem Gelände trennte Marco von den ersten Gebäuden – drei düstere, hundert Meter entfernte Blöcke. Sie ähnelten eher alten Fabrik- als Gefängnisgebäuden; die Fenster waren schmutzig und zerbrochen, und kegelförmig gemauerte Schornsteine ragten in die Höhe. Ein schmaler Betriebsweg führte von den Fabrikgebäuden zu einer kleinen Tankstelle und einem Wasserturm, der ein Leck zu haben schien. Hinter dem letzten Gebäude lag ein Sportplatz. Das Spielfeld war mit Steinen und struppigen Grasbüscheln übersät.

Und dahinter befand sich wiederum der Hauptkomplex – offenbar ein vorgelagertes Verwaltungsgebäude und das Gefängnis selbst.

Die Zellenblöcke. Die mächtigen roten Gebäude, die er von der Hauptstraße aus gesehen hatte. Drei lange Gebäude, jedes vier Stockwerke hoch. Die Fenster waren mit schwarzen Stahlstäben vergittert. Die Gebäude waren hufeisenförmig um einen mit Unkraut überwucherten Hof angeordnet. Die offene Seite wurde durch einen Maschendrahtzaun begrenzt. Die ganze Anlage erinnerte Marco an einen Hundezwinger. Und hinter diesem Zaun …

Leichen. Wie Tiere in einem Käfig. Dunkle Gestalten schlurften hinter dem Maschendrahtzaun umher, rempelten sich an, wurden in Handgemenge verwickelt und stießen bellende Laute aus. Marco biss sich auf die Lippe.

Bist du irgendwo da drin, Roger?

Nervös studierte er den Zaun. An einem Ende hing er herunter; da war ein Riss im Drahtgeflecht. Doch die Leichen schienen das nicht zu bemerken. Sie wuselten unablässig herum, ohne diesen Fluchtweg zu nutzen. Sie hatten wohl auch keinen Grund, den Gefängnishof zu verlassen, dachte er. Sie waren daran gewöhnt. Er war ihre Heimat.

Hinter sich hörte er ein röchelndes Motorengeräusch. Er drehte sich um.

Wu hatte auf dem Fahrersitz des nächsten MTVR Platz genommen. Der Sergeant runzelte die Stirn angesichts der Startschwierigkeiten. Der Kraftstoff war schon alt und oxidiert. Er versuchte es wieder und dann ein drittes Mal. Beim vierten Versuch sprang der Motor schließlich an. Er beugte sich aus dem Fenster. »Steigen Sie ein«, sagte er.

»Sind Sie auch sicher, dass Sie damit klarkommen? Den letzten Lkw haben Sie schließlich geschrottet.«

Wu schien das nicht lustig zu finden. »Es wird dunkel, Doktor.«

»Schon gut, schon gut.« Marco setzte sich auf den Beifahrersitz. »Gute Idee. Ich würde mir die Anlage sowieso lieber aus einem fahrenden Fahrzeug heraus ansehen. Die Besichtigungstour zu Fuß wäre mir zu riskant.«

Wu steuerte den Lkw durch die Bresche, und sie rumpelten über das Geröll hinweg. Dann bog er links ab und fuhr an der Innenseite der Mauer entlang. Die Sonne war bereits untergegangen, und die Details des Gefängnisgeländes verschwammen zu einem diffusen Grau. Am östlichen Himmel war schon die fahle Mondsichel zu sehen. Sogar die Geier waren verschwunden und hatten sich zur Nachtruhe in ihre Nester zurückgezogen. »Es ist schon zu spät, um die Gefängnisblöcke zu durchsuchen«, sagte Wu. »Das hätte nachts keinen Sinn – es gibt dort kein Licht. Das wäre Selbstmord.«

»Und ich dachte, wir wären schon dabei, Selbstmord zu begehen.«

Wu ignorierte das. »Machen Sie sich keine Sorgen, Doktor. Es gibt auf der Ladefläche jede Menge Waffen. Und Lebensmittelvorräte. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie genauso hungrig sind wie ich.«

»Sie wollen doch hoffentlich nicht hier draußen übernachten? In diesem Lkw?«

»Nein. Dort oben.« Wu bremste den Lkw am Fuß eines anderen Wachturms ab. Er war unbemannt. »Hier sind wir für die Nacht sicher.«

Marco legte den Kopf in den Nacken und warf einen Blick auf die Leiter. Die Luke stand einladend offen. »Soll mir recht sein«, meinte er. »Aber dieser Kerl hat keinen Zutritt.«

Er deutete auf den Außenspiegel. Der tote Wachposten vom ersten Turm wankte noch immer quälend langsam in ihre Richtung.

»Er wird einen Massenauflauf unter uns organisieren«, gab Marco zu bedenken. »Da ist ein Riss im Zaun des Gefängnishofs. Wenn wir ihre Aufmerksamkeit erregen, werden die toten Häftlinge einen Gefängnisausbruch starten.«

Wu biss sich auf die Lippen. Nach kurzer Überlegung legte er den Rückwärtsgang ein, und sie ratterten über den steinigen Erdboden ein paar Meter zurück.

Ein dumpfer Schlag ertönte.

Wu fuhr wieder ein Stück vor. Marco warf einen Blick in den Spiegel. Der Wachposten lag auf dem Boden. Die hintere Stoßstange hatte ihm auf Kniehöhe die Beine gebrochen. Er schlug mit einer faulig verfärbten Hand auf den Boden wie ein unterlegener Ringer, der um den Abbruch des Kampfs bat.

»Damit hat sich das wohl erledigt«, sagte Wu. Er parkte unter dem Turm und stellte den Motor ab. »Nehmen Sie sich, was Sie brauchen, und dann gehen wir.«

Auf der Ladefläche fand sich ein reichlich bestücktes Waffenarsenal – M16-Gewehre, M4-Karabiner, HK416 und Pistolen, darunter auch filigrane Kohlefaser-Modelle, die Marco noch nie gesehen hatte – alles griffbereit. Eine kurzläufige Schrotflinte stach ihm ins Auge. Er hatte keine Ahnung, was das für ein Modell war; aber verdammt noch mal, es schien eine Wumme mit ordentlich Bums zu sein. Also schnappte er sie sich und steckte sich auch noch eine Pistole in den Gürtel. Er spürte Wus Missbilligung, als er sich so massiv bewaffnete, doch das war ihm scheißegal. Scheiß auf Wu. Feuerkraft war Trumpf. Und Proviant. Er klemmte sich so viele EPAs unter die Arme, wie er nur konnte.

Mit vollen Händen erklomm er unbeholfen die Leiter. Von oben warf er einen Blick auf den toten Wachposten, der verkrümmt im Dreck lag. Er hatte ein runzliges, eingefallenes Gesicht, und die Beine waren grotesk abgespreizt. Sie verströmten eine zähe Flüssigkeit, die eklige schwarze Pfützen bildete.

Ich weiß, wie du dich fühlst, Kumpel, dachte Marco. Seine Muskeln taten beim Klettern weh; aus jeder Wunde fuhr stechender Schmerz durch seinen Körper. Ich fühle mich nämlich genauso.

Als ob ich von einem Lkw überfahren worden wäre.

10.4

Marco regte sich in der Dunkelheit. Sein Kopf lag unbequem auf einer gesteppten Wolldecke. Die hatte er gefunden, als er noch einmal zurück zum Lkw gegangen war, um sich mit weiteren Vorräten einzudecken. Der Mond schien wie ein großer runder Suchscheinwerfer über ihm – als wäre er über dem Wachturm aufgehängt, auf dem er schlief. Das heißt, auf dem er zu schlafen versuchte. Er fühlte sich wie ein Gefangener in der Todeszelle, der die letzte Nacht vor der Hinrichtung verbrachte. Die hölzerne Plattform war hart und rau, und ihm fror trotz der Decke fast der Hintern ab. Die Nachtluft war kalt, und die Wolldecke, in die er sich gewickelt hatte, durch den kondensierten Atem feucht geworden. Unsichtbare Insekten schwirrten unter den Dachlatten umher und stimmten ein gespenstisches Zirpen an. Einmal spürte er sogar, wie eine Spinne ihm über den Arm krabbelte, und er geriet für einen Moment in Panik. Und jetzt juckte der Arm auch noch wie verrückt.

Wu zeichnete sich als eine stille dunkle Masse auf der Plattform ab. Vielleicht döste er, vielleicht auch nicht.

Wie er hier oben mit verkrampften Beinen und schlaflos auf dem Turm lag, erinnerte Marco sich an den Ansitz, den er fast zweitausend Kilometer entfernt auf dem Baum in Montana errichtet hatte – der Roark-Auftrag, Andrew und Joan. Wie lange war das nun schon her? Eine Woche? Er schüttelte den Kopf. Unmöglich. Er rechnete noch einmal zurück. Doch. Eine Woche.

Heilige Scheiße.

Es kam ihm wie ein ganzes Jahr vor. Er dachte an Joan Roark und fragte sich, wie es ihr wohl ging. Und wie ihre Woche gewesen war? Ob sie ihren Freunden gesagt hatte, dass Andrew tot war – wirklich tot? Vielleicht war ihr Schuldgefühl aber auch zu stark gewesen, und sie hatte sich geschämt, jemandem zu erzählen, dass sie Marco angeheuert hatte.

Er hoffte, dass sie sich nicht schämte. Er hoffte, dass es ihr gut ging.

In den entfernten Gefängnisgebäuden stieß eine Leiche ein Heulen aus – lang gezogen und traurig wie das Geheul eines einsamen Wolfs. Marco schauderte und presste das Ohr auf die Decke, um den Laut zu dämpfen. Er wollte nicht von Albträumen heimgesucht werden. Nicht in dieser Nacht.

Von Joan Roark wanderten seine Gedanken zu Benjamin. Wie mochte Ben es wohl ergangen sein, der in seinem Haus in Pittsburgh Owen Osbourne als ungebetenen Gast hatte? Und die Riesenbabys vom Heimatschutz? Armer Ben. Wurde von diesen Arschlöchern in seinem eigenen Haus herumgeschubst. Osbourne fraß ihm den Kühlschrank leer und schiss in seine Toilette.

Marco zuckte zusammen. Osbourne hatte damit gedroht, Benjamin zu töten.

Bitte, sagte er sich. Hoffentlich geht es Ben auch gut.

Der Schrei aus dem Gefängnis verstummte, und die Leiche fiel wieder in die Leere zurück oder was auch immer die Nacht für sie bereithielt. Ob die Toten träumen?, fragte Marco sich. War das möglich? Glich eine auferstandene Leiche einem Schlafwandler, der wie in Trance eine Szene aus seinem ruhelosen Unterbewusstsein nachstellte? Ein niemals enden wollender Albtraum von einem Schlachtfest …

Marcos linker Arm war unter dem Oberkörper eingeklemmt gewesen und kribbelte nun; er drehte sich auf die andere Seite und spürte, wie der Blutfluss wieder in Gang kam. Das Holz war verdammt hart. Er freute sich schon darauf, sich morgen die Beine zu vertreten.

Nun drangen noch mehr stöhnende Geräusche aus dem Gefängnis – lauter diesmal. Das ganze Rudel stimmte mit ein.

Diese schrecklichen, gequälten Stimmen …

Ob eine von ihnen Roger gehörte?

Seufzend schloss Marco die Augen. Er stellte sich das Gefängnis aus der Vogelperspektive vor, so wie die Geier es sahen. Das war also aus ihm geworden – ein Geier, der sich über die Toten hermachen wollte. Suche Roger, stoße hinab und schieß ihm eine Kugel in sein verrottetes Gehirn.

Doch was, wenn er ihn nicht finden konnte? Was, wenn Ballard sich überhaupt nicht mehr in diesem Höllenloch befand und alle Anstrengungen hierherzugelangen, völlig umsonst gewesen waren? Bei dieser Vorstellung überkam Marco eine starke innere Unruhe. Wo sollen wir es dann als Nächstes versuchen? Mein Gott, ich weiß es nicht. Im Cedars-Sinai?

Er dachte angestrengt nach, tastete sich in die Vergangenheit zurück und versuchte, sich an alle Details von Rogers Privatleben zu erinnern. Auch wenn sie noch so belanglos erschienen. Vielleicht irgendein abgeschiedenes Café oder ein stiller Buchladen. Hatte Roger solche Orte jemals erwähnt?

Nein. Cedars-Sinai. Mehr Anhaltspunkte habe ich nicht. Da arbeitet man nun drei Jahre Seite an Seite, und ich habe den Typen kaum gekannt. Als ob er überhaupt kein Leben außerhalb der Arbeit gehabt hätte. Super, Henry. Du bist wirklich ein guter Freund.

Er seufzte. Aber was spielt das noch für eine Rolle? Wenn Roger nicht mehr hier ist, sind wir sowieso angeschissen. Wu und ich sind schon halb tot. Wir haben nicht mehr die Kraft, weiter nach ihm zu suchen. Ich bezweifle, dass wir es überhaupt noch bis nach Los Angeles schaffen würden.

Nur gut, dass ich Osbourne keine Geld-zurück-Garantie angeboten habe.

Vor einer Stunde hatten Marco und Wu sich auf die Plattform des Turms gehockt und kaltes Trockenfleisch zu Abend gegessen. Schweigend – sie waren zu erschöpft, um etwas anderes zu tun, als Nahrung in ihre leeren Mägen zu schaufeln. Wu kaute langsam. Seine Augen waren unfokussiert und schienen in die Ferne zu schweifen. Schließlich schob er sich den letzten Bissen Trockenfleisch in den Mund und öffnete eine Reißverschlusstasche am Hosenbein.

Er zog ein Foto heraus und warf es Marco wie eine Frisbee-Scheibe vor die Füße.

»Was ist das?«, fragte Marco.

»Sarsgard.«

Marco wischte sich an seinem blutverschmierten Hemd die Finger ab und hob das Foto auf. Es war eine körnige Schwarz-Weiß-Aufnahme des Gefängniskomplexes – die rechteckigen Zellenblöcke waren hufeneisenförmig um den Gefängnishof angeordnet. Das Bild war aus großer Höhe aufgenommen worden.

»Ein Satellitenbild?«

Wu nickte.

Marco blinzelte im schwindenden Licht und hielt sich das Foto dicht vor die Augen. Das Gelände zwischen den Gebäuden schien von schwarzen Punkten nur so zu wimmeln. Leichen.

»Wie sind Sie denn da drangekommen«, fragte er.

»Beim Briefing.«

»Und welcher von diesen Punkten ist Roger – falls er überhaupt dabei ist?«

Wu zog eine Augenbraue hoch. »Sollten Sie das nicht eher mir sagen?«

»Schon gut, entspannen Sie sich. Wo ist hier das Krankenhaus?«

»Es schließt sich an die Zellenblöcke an. Unten im Bild.«

Marco berührte das Foto mit einem Finger. Ein separates rechteckiges Gebäude war durch einen langen Verbindungstunnel mit den Zellenblöcken verbunden. Das Krankenhaus. Es befand sich auf der anderen Seite des Hufeisens, war dem Gefängnishof also abgewandt. Deshalb hatte er es von seinem vorherigen Beobachtungspunkt an der Gefängnismauer auch nicht gesehen. Er tippte zweimal darauf.

»Ich nehme an, dass Roger dort gearbeitet hatte?«

Wu nickte wieder.

»Falls er sich also irgendwo an diesem gottverdammten Ort befindet, dann wird er genau dort sein«, erklärte Marco. »Da wären Sie auch ohne meine Hilfe drauf gekommen.«

Wu zuckte die Achseln. »Ich wollte nur sicher sein, dass wir einer Meinung sind. Die Krankenstation.«

»Roger hat rund um die Uhr gearbeitet, als er noch lebte. Also müsste er sich nun dort aufhalten. Und so, wie ich Roger kenne, werden wir seine Leiche dabei beobachten, wie sie die Skalpelle der Größe nach sortiert.«

»Ihn rauszuholen dürfte aber schwierig werden«, gab Wu zu bedenken. »Der einzige Weg zur Krankenstation führt durch den Eingang des Haupttrakts.«

»Mit anderen Worten, vorbei an hundert Leichen.« Marco warf den Rest seines Trockenfleischs über den Rand der Plattform. Ihm war der Appetit vergangen.

Er studierte das Foto. »Der Sportplatz ist mit dem Haupttrakt verbunden. Wir könnten den Lkw nehmen, auf den Hof brettern und dann reinstürmen.« Er seufzte. »Zu schade, dass Roger kein Basketball spielte. Es wäre viel einfacher, wenn er draußen ein paar Körbe werfen würde.«

Der Scherz kam bei Wu nicht an. Der Sergeant musterte ihn nur ausdruckslos. »Wir sollten uns etwas ausruhen«, sagte Wu. »Wir werden im Morgengrauen reingehen. Vielleicht kommen wir sogar an der Menge vorbei, bevor sie noch richtig wach ist.«

»Ja, aber auch die besten Pläne können scheitern. Ich würde mich nicht darauf verlassen.«

Nun lag Marco auf dem Boden, und sein Arm wurde schon wieder taub. Er wickelte sich die Decke noch etwas fester um die Schultern, legte sich auf das provisorische Kissen und schaute über den Rand der Plattform. Von der Seite gesehen glich die Szene beinahe einem Vexierbild. Die Zellenblöcke auf der anderen Seite des Gefängnisgeländes zeichneten sich als schwarze Silhouetten am nächtlichen Himmel ab. Der Himmel war pechschwarz bis auf ein kaum merkliches Glühen irgendwo hinter dem Hauptgebäude. Ein schwaches Leuchten wie ein zweiter Mond, der sich den Blicken entzog – kam die Morgendämmerung denn schon so schnell? Mein Gott, er hatte überhaupt nicht geschlafen.

Beim Ausatmen stieß er weiße Wölkchen aus, die wie traumartiger Nebel vor seinen Augen waberten und sich dann auflösten. Und wieder von vorne. Er sah die Wölkchen in einem hypnotischen Kreislauf kommen und gehen. Als Kind hatte dieses Phänomen ihn an kalten Tagen in Philly fasziniert – nicht so sehr wegen der winterlichen Ästhetik, sondern wegen der Erkenntnis, dass das die ganze Zeit geschah, ob er es nun sah oder nicht. Luft, die in seinem Körper gewesen war – durch die Lunge geströmt war! –, wurde jedes Mal ausgestoßen, wenn er das Zwerchfell anspannte, und die Kälte war wie eine spezielle Linse, die ihm den Anblick des eigentlich Unsichtbaren ermöglichte. An warmen Sommernachmittagen hatte er den Blick manchmal auf die Nasenspitze gerichtet und sich die wirbelnden Wölkchen dort vorgestellt: sein Atem, der unsichtbar in die Welt geblasen wurde.

Bevor wir sie in uns aufnehmen, ist Luft nur Luft, hatte Danielle gesagt, als sie ihn an einem Sonntagmorgen in L.A. in Yoga unterwies. Die Matten hatten sie auf dem von der Sonne beschienenen Fußboden ausgerollt. Doch dann verwandeln wir sie in Atem. Atem ist Leben. Der Atem ist du. Atme aus, und das Universum saugt dich ein.

Ich will aber nicht eingesogen werden, hatte er eingewandt.

Sie hatte liebevoll gelacht. Zu spät, Henry. Das Universum hat dich schon vereinnahmt.

Und da war er nun, in dieser gefrorenen, dunklen Ecke des Universums, und verzehrte sich vor Sehnsucht nach ihr. Er sah zu, wie seine Lunge ihn über das Gefängnisgelände verteilte.

Atem ist Leben, nicht wahr? Dann bin ich also immer noch am Leben.

Fürs Erste.

Ihm fielen die Augen zu. Der Boden unter ihm schien aufzuweichen, als ob das Holz unter seinem Gewicht zerfiel und er seine Konturen in die Bretter drückte.

Lautlos drang ein unheimliches Bild aus seinem Unterbewusstsein nach oben.

Das Kind auf dem Autositz. Es schwebte mit aufgerissener Kehle in der schwarzen Leere, und die Luftröhre peitschte wie ein loser Schlauch gegen die blutige Brust. Es streckte die Arme nach ihm aus; wie am Abend, als er auf dem Highway an dem Kind vorbeigefahren war.

Nur ein kleiner Junge. Ein Kind, das nicht einmal wusste, wie man den Sicherheitsgurt löste, und das schon gar nicht die Tragweite seines Todes zu erfassen vermochte.

Ich hätte dich zurückgeben sollen, dachte Marco. Es tut mir leid.

Das Gesicht des Jungen veränderte sich. Durchlief eine Verwandlung. War jetzt ein Mädchen.

Und Marcos Herz sprühte Funken wie eine durchgebrannte Sicherung, denn irgendwie wusste er, dass dieses Mädchen Hannah war – so hätte Hannah ausgesehen, wenn sie ein paar Jahre älter geworden wäre. Ein schönes kleines Mädchen mit kastanienbraunem Haar und magisch leuchtenden Augen, genauso wie Danielle.

Bist du das etwa?, fragte er. Du in diesem Auto?

Hannahs Leiche starrte ihn nur an mit Augen wie geronnene Milch. Er sah, dass sie unter einer Kühldecke lag und an das Blanketrol-System angeschlossen war, das man im Cedars-Sinai verwendet hatte. Ein Intubations-Thermometer ragte aus ihrem Hals, und Infusionsschläuche schlängelten sich über ihre Ärmchen. An ihrem Fußknöchel zeigte ein rotes Blinklicht die Sauerstoffkonzentration in ihrem Blut an.

Fast hätte er erschrocken geschrien – es erschütterte ihn zutiefst, sie wieder so daliegen zu sehen. Sein kleines Mädchen, das mit Schläuchen, Manschetten und Kabeln gespickt war und um sein Leben kämpfte. Er wollte sie halten, sie trösten und ihr versichern, dass diese elende, furchtbare Scheißwelt doch auch irgendwie ihr Gutes hätte …

Er blinzelte. Ich bin froh, sagte er. Ich bin froh, dass du heute nicht da bist.

Er hielt inne, erschrocken über seine eigenen Worte. Dann fuhr er zögernd fort:

Ich bin froh, dass du verschont wurdest. Denn das … ist schlimmer, als tot zu sein.

Und dann verlor er doch die Fassung, und er brach in Tränen aus.

Ich liebe dich

Der Autositz schwebte näher heran, Hannah streckte die Hand nach ihm aus, und er nahm sie. Ihre Finger waren steif und eiskalt. Sie drehte sich um, und er verstand. Er wurde sozusagen an die Hand genommen. Gemeinsam stiegen sie ins Reich des Schlafes hinab, und sie bettete ihn dort …

Und dann schlief er erschöpft ein, vielleicht zum letzten Mal in seinem Leben – losgelöst von der Kälte der Nacht, dem harten Holzboden und dem Stöhnen der Verdammten, und Gott sei Dank hatte er keine Albträume.

Er schlief.

Die Nacht verging.

In der Dämmerung schreckte er aus dem Schlaf, und das Herz schlug ihm bis zum Hals …

Er hörte ein beunruhigendes Rattern.

Wu war schon auf und suchte die Ausrüstung zusammen. Er versetzte Marco einen derben Tritt.

»Reiter!«, rief Wu. Seine Stimme klang schrill wie eine ferne Sirene und wurde von den ohrenbetäubenden Schüssen und dem Brüllen der sich nähernden Quads beinahe übertönt. Dann stieg er die Leiter hinunter.

10.5

Das Gefängnisgelände glich einem Hexenkessel – hundert tote Häftlinge in orangefarbenen Overalls wankten mit verzerrten roten Lippen und kalkweißen Wangen wie Clowns, die aus einem Albtraum entsprungen waren, über das ausgedörrte Feld. Die Luft vibrierte förmlich, als drei Reiter-Quads in einer todesmutigen Aktion mit schwarzen Abgaswolken und brüllenden Motoren im Zickzack durch die Menge rasten und auf die Zombies schossen. Die kühnen motorisierten Kavalleristen mähten die Leichen zur Linken, zur Rechten und vor sich nieder. Ein Häftling mit einem langen, dünnen Pferdeschwanz schlug einen Salto wie ein Akrobat, als eine Kugel in sein verrottetes Gehirn eindrang.

Dann haben die Reiter also überlebt, dachte Wu. Nicht dass ihn das überrascht hätte.

Zumindest ein paar waren durchgekommen. Zwei standardmäßige »Eber«-Quads und das Zweimann-Quad mit dem Geschützturm. Der riesige Kommandant Monsterschädel hatte überlebt … Sein muskulöser Körper ragte hinter der Browning auf, und mit einem spöttischen Gesichtsausdruck ballerte er wie ein Wahnsinniger in der Gegend herum. Blut spritzte aus den Köpfen der Toten, und sie gingen reihenweise zu Boden. Die Quads zogen kreisrunde Furchen in den Schmutz, wenn die Räder blockierten, die Fahrzeuge sich fast auf der Stelle drehten und in entgegengesetzter Richtung weiterfuhren. Leichen strömten in Wellen aus den Zellenblöcken, um die Gefallenen zu ersetzen – sie wankten durch den eingerissenen Zaun, wälzten sich über den Hof, das schmutzige Schlachtfeld und die Straße zwischen den Gebäuden. Mehr Leichen, als Wu jemals auf einmal gesehen hatte.

Seine Fingerspitze berührte den Starterknopf des MTVR.

Und er wartete.

In seinem Leben hatte er schon oft Schlachtfelder mit zahlenmäßig überlegenen Feinden überblickt. Kein einziges Mal hatte er gezögert anzugreifen. Kein einziges Mal hatte er daran gezweifelt, dass er gewinnen würde.

Doch diesmal

Er verspürte einen Stich im Herz und eine plötzliche Sehnsucht nach seinem Onkel Bao Zhi – ein Gefühl, das er seit Jahren nicht mehr empfunden hatte. Zugleich erinnerte er sich an sich selbst als acht Jahre alter Junge. Wie er in Qinghai im Schneidersitz auf dem Boden gesessen und die Schuhe bewundert hatte, die Bao Zhi für ihn angefertigt hatte. Auf jeden kleinen Schuh war mit orangefarbenem Garn ein Tiger gestickt worden, um böse Geister zu verscheuchen.

Bao Zhi hatte gewusst, wie man mit den Toten umgehen musste.

Bao Zhis Hand würde nun nicht zittern …

Bum! Ein Schuss riss Wu unsanft aus seinen Gedanken.

»Beeilung«, rief er knurrend die Leiter hinauf. Was machte der Amerikaner da oben?

Die Reiter rasten am Lkw vorbei; sie hatten Wu noch nicht auf dem Fahrersitz gesehen, doch das war nur eine Frage der Zeit.

Er sah ihnen mit grimmigem Respekt nach, als sie verschwanden. Diese Milizionäre waren zähe Burschen, und er … er war viel zu blauäugig gewesen. Der Angriff der Leichen auf dem Highway hatte den Vormarsch des Feindes lediglich verlangsamt. Sie waren wahrscheinlich umgekehrt und hatten die Berge umfahren. Ja, er hatte sich schon gedacht, dass sie nicht aufgeben würden – aber dieser Überfall kam nun doch unerwartet. Das war eine aggressive Strategie im Zwielicht vor der Morgendämmerung. Er stellte sich vor, wie sie sich letzte Nacht vorsichtig mit den Quads genähert und vor der Gefängnismauer campiert hatten. Wie sie mit unglaublicher Geduld in der Kälte ausgeharrt und die Minuten bis zum Tagesanbruch gezählt hatten. Und dann hatten sie zugeschlagen. Wie eine Katze, die Mäuse fängt.

Mit grimmigem Gesichtsausdruck drückte Wu auf den Starterknopf. Der Lkw sprang mit einem lauten Keuchen an, das von hundert Leichen gehört wurde. Die Menge teilte sich, und eine riesige Horde drehte sich um und rannte auf ihn zu. Er spürte förmlich, wie sie ihn mit ihren kalten Augen streiften, und er bekam eine Gänsehaut.

In fünfzig Metern Entfernung drehte der Reiter auf dem nächsten Quad den behelmten Kopf zum Lkw mit dem brummenden Motor herum. Reflexartig riss der Fahrer den Arm herum und gab aufs Geratewohl zwei ungezielte Schüsse ab. Neben dem Lkw sprühte eine Leitersprosse mit einem metallischen Ping Funken, und Wu hörte, wie die zweite Kugel hoch oben von der Sirene des Wachturms abprallte.

Im nächsten Moment ertönte Marcos Stimme: »Scheiße!«

Wu legte in dem Moment den Gang ein, als der Amerikaner hastig die Leiter herunterstieg. Er rutschte fast die Sprossen herunter; das Pistolenholster hatte er sich über den Ellbogen gehängt.

Das eine Quad hatte sich von den anderen beiden abgesetzt. Die Reifen wirbelten Staubwolken auf, als es eine enge Kurve fuhr.

Und sich zu Wu und Marco ausrichtete.

»Einsteigen«, sagte Wu schroff. Er packte das Lenkrad …

Au!

… und ließ es mit einem verschämten Schrei wieder los. Die verwundete Schulter war über Nacht verkrustet. Die Haut hatte sich gerötet, der Wundkrater war infiziert, und nun war der Schmerz so stark, dass er den Arm nicht einmal mehr zu heben vermochte. Er verzog das Gesicht und rutschte auf den Beifahrersitz. Als Marco die Beifahrertür aufriss, packte Wu den Türgriff und zog sie wieder zu.

»Sie fahren«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Marco sprintete auf die Fahrerseite. »Danke, Paps. Ich verspreche dir auch, dass ich vorsichtig …«

Eine Kugel durchschlug die Frontscheibe und schlug in den Sitz zwischen ihnen ein.

»Ach du Scheiße«, sagte Marco atemlos. »Sie haben es noch immer nur auf Sie abgesehen, nicht wahr?«

»Fahren Sie schon.«

Das Reiter-Quad schoss wie eine Rakete auf sie zu; es war noch zwanzig Meter entfernt, dann zehn, und der Fahrer hielt die Pistole am ausgestreckten Arm wie eine Lanze und zielte auf Wus Stirn …

»Fahren Sie!«, schrie Wu.

Marco trat aufs Gas, und mit dem lauten Quietschen von Gummi auf harter Erde schoss das MTVR vorwärts und wie ein wilder Stier auf das Quad zu. Wu drückte die Beine durch und bereitete sich auf den Aufprall vor – doch der Fahrer wich im letzten Moment nach links aus und entging um Haaresbreite einem Zusammenstoß. Das Quad verschwand und tauchte dann gleich wieder im Außenspiegel auf. Es schleuderte Dreck auf, als der Reiter versuchte, das Fahrzeug wieder unter Kontrolle zu bringen. Nach wenigen Sekunden hatte er einen Kreis beschrieben und sich hinter den Lkw gehängt.

»So viel also zum Thema Reinschleichen«, sagte Marco. Seine Knöchel traten am Lenkrad weiß hervor.

»Wieso hatte das so lange gedauert?«, fragte Wu ungehalten. »Auf dem Turm?«

Der Amerikaner schien peinlich berührt. »Ich habe meine Waffe gesucht.«

»Aufpassen!«, rief Wu.

Sie trafen nun auf die erste Angriffswelle der Leichen, die Vorhut einer riesigen Armee. Maskenhaft starre Gesichter blickten Wu durch die zerschossene Frontscheibe tückisch an, als Marco das Lenkrad verriss. Der Lkw geriet in Schräglage und fuhr auf den linken Rädern weiter; einen quälend langen Moment, in dem der Wagen sich zu fragen schien, ob er nun umkippen oder sich doch wieder aufrichten sollte, erkannte Wu individuelle Merkmale in der Menge.

Einen traurig schauenden Mann mit einer verbogenen Brille und leeren purpurfarbenen Augenhöhlen …

Eine skelettierte schwarze Leiche mit Dreadlocks, deren knochige Handgelenke mit Handschellen gefesselt waren …

Ein pockennarbiges Gesicht mit einem Hakenkreuz-Tattoo auf dem kahl rasierten Schädel …

… und dann knallte der Lkw auf den Erdboden, alle sechs Räder hatten wieder Bodenkontakt, und Marco fluchte laut und riss Wu aus seinen Betrachtungen.

Der Lkw schwenkte nach Osten und rutschte über den Dreck, doch der Mob folgte ihm schnell und schloss ihn in einem immer größeren Kreis ein. Hinter Marco hatte das Reiter-Quad aufgeholt und lag nur noch ein paar Meter zurück – und noch schlimmer, die anderen zwei Quads hatten sich dem Angriff inzwischen angeschlossen. Sie hatten schlitternd gewendet und rasten nun diagonal über das Feld, um den Lkw abzufangen. Monsterschädel stand mit dem Finger am Abzug auf dem Geschützturm.

Marco musste aufpassen, dass ihm nicht das Lenkrad aus der Hand gerissen wurde. Der Lkw brach nach links aus und schlug eine Schneise durch die toten Männer; der Außenspiegel knackte in schneller Folge neun oder zehn Köpfe.

Es ertönte ein anhaltendes Rattern.

»Wohin fahren Sie?«, wollte Wu wissen.

Marco antwortete mit einem verstärkten Tritt aufs Gas, und das Brüllen des Motors wurde noch lauter.

Fump. Das Geräusch einer Kugel, die im Heck des Lkw eingeschlagen hatte. Wu warf einen Blick in den Außenspiegel. Der Reiter war direkt hinter ihnen. »Er setzt sich neben uns!«

Wu richtete den Blick wieder nach vorne – und ihm stockte der Atem. Die beiden anderen Quads waren nun direkt vor ihnen und versuchten, dem Lkw den Weg abzuschneiden; Monsterschädel gab mit Gebrüll Feuer, und eine Geschossgarbe perforierte die Motorhaube. Dann zielte er höher und zerschoss die Frontscheibe. Marco und Wu duckten sich. Scharfkantige Glassplitter regneten wie Konfetti auf sie herab, und die Schüsse dröhnten ihnen in den Ohren.

»Scheiße!«, schrie Marco und riss am Lenkrad. Das MTVR brach nach rechts aus, Wu wurde auf dem Sitz herumgeschleudert …

… und hörte ein hohles metallisches Knirschen, das vom durchdringenden Kreischen eines Motors unter dem Fenster untermalt wurde …

… und sah, dass das dritte Quad unter den Lkw geraten war. Die vordere Ecke war hinter dem Radkasten eingeklemmt, und die Räder drehten qualmend durch. Rauch quoll durch die Augenhöhlen des am Kühlergrill befestigten Pferdeschädels; der Lkw hatte den Reiter abgedrängt, und Wu sah die verblüfften Augen hinter der Motorradbrille des Fahrers, als Marco voll auf die Bremse trat. In einer Staubwolke drehten die verkeilten Fahrzeuge eine Pirouette, als ob sie miteinander tanzten. Der Lkw schleuderte um 180 Grad herum und knallte mit der Breitseite – mit der Seite, an der das Quad hing – in die Horde der revoltierenden Leichen. Der Mann schrie auf, als die Toten über ihn herfielen.

Fünfzig klauenartige Hände griffen nach dem Reiter, der sich mit Händen und Füßen gegen sie wehrte, und zerrten ihn vom Sitz herunter. Im Spiegel sah Wu, wie eine dicke haarige Leiche dem Soldaten in die Wange biss, dann war der Mann verschwunden – begraben unter einem Chaos aus zuckenden Leibern und gierigem Grunzen.

Marco und Wu sahen sich mit großen Augen an. Sie waren entsetzt.

Wu fand als Erster die Sprache wieder. »Ein raffiniertes Manöver, Doktor.«

»Danke«, sagte Marco atemlos. »Obwohl das eigentlich nicht geplant war.«

Die Leichen erklommen das Quad und bildeten eine Art Pyramide. Eine blutige Hand schlug auf Wus Seite gegen das Fenster und hinterließ einen Handabdruck ohne Daumen.

»Wir sollten verschwinden«, sagte Wu in eindringlichem Ton.

»Alles klar!« Marco trat aufs Gas, und der Lkw bewegte sich träge zehn Meter vorwärts. Er wurde durch die Körper gebremst, die am Fahrzeug hingen, und durch das Quad, das unter dem Fahrzeugboden mitgeschleift wurde; doch dann brach das schabende Geräusch im Radkasten schlagartig ab, und der Lkw nahm Fahrt auf.

Wu drehte sich um. Die Leichen hatten das Quad unter dem Lkw hervorgezogen, es umgedreht und schnappten in blinder Gier nach den qualmenden Reifen und der ramponierten Karosserie. Es kümmerte sie nicht, dass ihnen die Haut von den hungrigen Mündern geschält wurde und am heißen Metall kleben blieb.

»Die sollte man bei der Formel Eins als Boxencrew einsetzen«, sagte Marco, als der Lkw davonraste.

»Wo sind denn die anderen? Die Quads und Monsterschädel?«

Marco schielte in seinen Außenspiegel. »Hmm. Sehe sie nicht.«

»Sie müssen in diese Richtung verschwunden sein, an den Gebäuden vorbei. Zu den Zellenblöcken.«

»Ein Satellitenfoto werden sie wohl nicht haben – das ist nämlich ein Umweg.« Er ließ den Blick schweifen und fand schließlich, wonach er gesucht hatte. »Dort. Der Betriebsweg.«

Der Lkw vollführte eine enge Wende und hoppelte auf den einspurigen asphaltierten Weg. Leichen stellten sich ihnen in den Weg; Marco hielt direkt auf sie zu und räumte sie wieder mit diesem Rattern aus dem Weg, sodass schwarzes Blut auf die Motorhaube spritzte. Ein toter Mann mit Hemd und Krawatte, wahrscheinlich von der Gefängnisverwaltung, wurde vom Metallbügel am Kühlergrill weggeschleudert. Goldgelbe Funken stoben wie aufplatzendes Popcorn, begleitet von einem lauten metallischen Kreischen.

»Der Stoßfänger hat sich gelöst«, sagte Wu warnend. »Sie müssen doch nicht jede Leiche umfahren, Doktor. Der Lkw muss noch halten, bis wir am Ziel sind.«

»In Ordnung. Wenn Sie einen Weg ohne tausend tote Bremsschwellen sehen, sagen Sie mir Bescheid.«

Ka-wumm!

Der Lkw raste zwischen den zwei nächsten Gebäuden hindurch, monströse Ziegelstein-Quader mit dem morbiden Charme stillgelegter Fabriken. Vocational Industries stand auf einem weißen Schild. In der Durchfahrt lag ein umgekippter Container und etwas, das wie ein Brustkorb aussah, der an einem Rückgrat hing.

Marco bremste nicht, sondern fuhr um den Container herum, und nach wenigen Sekunden führte der Betriebsweg wieder ins Freie.

Die Zellenblöcke lagen direkt vor ihnen.

Der Lkw hielt auf das offene Ende des Hufeisens zu, den Gefängnishof. Wu riss die geschwollenen Augen auf. Unmöglich, sagte er sich. Auf dem Hof schien es von Toten nur so zu wimmeln – er war bis zum Bersten mit krakeelenden, hungrigen, verrotteten Körpern angefüllt. Eine kompakte Masse, die gegen den Maschendrahtzaun drückte. Nacheinander drängten die Leichen sich durch die schulterbreite Lücke im Zaun, während die anderen Gefangenen tobten und so heftig am Metallzaun rüttelte, dass Wu das Geräusch sogar trotz des dröhnenden Lkw-Motors hörte. Hinter den Toten, am anderen Ende des Hofs, standen die Gefängnistüren weit auf – ein dunkler Schlund öffnete sich, wo das amerikanische Einsatzkommando sich einen Weg ins Innere gesprengt hatte.

Es sind einfach zu viele Leichen, sagte er sich. Unmöglich, da durchzukommen.

Hundert Meter vor ihnen, wo die Straße zum nördlichen Abschnitt des Geländes abbog, erschien plötzlich der schwarze Umriss von Monsterschädels zweisitzigem Quad, gefolgt von dem »Eber«, der noch übrig war.

»Sehen Sie?«, sagte Marco. »Wir haben die Abkürzung genommen.«

»Beeilung«, sagte Wu. »Sie sind ziemlich schnell.«

»Keine Sorge, wir schaffen das schon.«

»Wie denn? Über den Hof zu fahren wäre reiner Selbstmord. Wir müssen einen anderen Weg finden.«

Er hatte den Satz kaum vollendet, als das MTVR auch schon beschleunigte. Die Nadel des Tachometers kletterte auf über fünfzig Stundenkilometer, über fünfundsechzig, über achtzig, und Wus Herz raste wild. Er warf einen Blick auf den Amerikaner – die unterernährte Gestalt hatte sich übers Lenkrad gebeugt, die Stirn zerfurcht und blutig, die Haut dick mit Schmutz, Blut und Schweiß verkleistert –, und in diesem Moment wurde Wu klar, dass Henry Marco der kaltblütigste Mensch war, dem er bisher begegnet war.

»Was machen Sie da?«, fragte Wu leise, aber bestimmt.

Marco ignorierte ihn.

»Doktor.«

»Ich breche ins Gefängnis sein. Was denn sonst?«

Der Hof raste mit irrwitziger Geschwindigkeit auf sie zu …

… und es fielen wieder Schüsse, als Monsterschädel und der andere Reiter aus nördlicher Richtung angriffen und Marco das Gaspedal bis zum Boden durchdrückte und die toten Häftlinge hinterm Maschendrahtzaun den Lkw mit gefletschten Zähnen einluden, doch bitte näher zu kommen, und Wu dachte Nein!

… und dann setzte sein Gehirn aus, als der Lkw mit fast hundert Kilometern pro Stunde den Zaun durchbrach.