Geschichte einer Begegnung

5.1

Marco war Danielle zum ersten Mal vor neun Jahren begegnet, als er am Retouren-Schalter von Tech Town angestanden hatte. Es war an einem Samstag im November gewesen, einen Monat nach seinem Geburtstag; und er hatte es endlich einrichten können, das Geschenk zurückzugeben, das seine Mutter ihm geschickt hatte: ein topaktuelles Handy, ein schickes silberfarbenes Gerät mit Touchscreen und gestochen scharfer Grafik. Aber er verspürte absolut kein Verlangen, es zu behalten. Obwohl er wahrscheinlich der letzte Mensch in Kalifornien war, der noch kein Mobiltelefon besaß, vermochte er seine Abneigung gegen diese verdammten Dinger einfach nicht zu überwinden. Fast Food der Kommunikation, dachte er oft verdrießlich. Nichtiges Geschwätz – Leute, die sich laufend anrufen, ohne dass sie sich wirklich etwas zu sagen hätten. Einfach nur, weil sie es können. Um Gottes willen, das Letzte, was er wollte, war ein ausuferndes Sozialleben und schon gar kein mobiles. Also hatte er sich geschworen, sich nie ein Mobiltelefon anzuschaffen, auch wenn die Leute immer komisch reagierten, wenn er ihnen keine Handynummer geben konnte. Sie schnauften verblüfft und machten große Augen. Als wäre er ein bizarrer Sonderling, der sich nicht die Fingernägel schnitt und in Einmachgläser pinkelte.

»Ich bin täglich sechzehn Stunden im Krankenhaus«, ließ er neue Bekanntschaften wissen und erfreute sich insgeheim an ihrer Irritation. »Wenn ihr mich erreichen wollt, dann müsst ihr euch nur mit einem Aneurysma einliefern lassen.«

Und doch musste seine Mutter geglaubt haben, das Gerät sei so fantastisch, dass er seine Meinung änderte. Aber er hatte es noch nicht einmal aus der Verpackung genommen. Bei dem Geschenk lag ein Zettel mit der Aufschrift Für meinen Einsiedler und einem aufgemalten Smiley sowie ihrer Telefonnummer darunter.

Drei Wochen hatte er mit sich gerungen, ob er es doch behalten und die Rufnummer aktivieren lassen sollte, nur um sie glücklich zu machen; auch wenn er nicht vorhatte, es zu benutzen. Aber er war eben stur, und zu allem Überfluss wurde er eines Nachts durch die Vorstellung um den Schlaf gebracht, sich noch eine Telefonnummer merken zu müssen – als ob zusätzliche sieben Ziffern sein Gehirn überlastet hätten. Also hatte er schließlich den Entschluss gefasst, das gottverdammte Ding zurückzugeben. Er würde sich das Geld geben lassen und seiner Mutter davon zu Weihnachten eine schöne Vase mit Poinsettien bestellen.

Er hatte zwar keine Ahnung, wo sie das Telefon gekauft hatte, doch Tech Town schien ihm eine gute Anlaufstelle zu sein. Zumal er wusste, dass es einige Filialen in der Nähe ihrer Wohnung in Philly gab. Der Markt, der für Marco am nächsten war, befand sich in Glendale. Also absolvierte er an jenem Samstag ein schnelles Training auf der Rudermaschine im Fitnesscenter, und weil er sich selbst unter Zeitdruck gesetzt hatte, verkürzte er die übliche Duschzeit auf unbefriedigende drei Minuten. Dann setzte er sich ins Auto, wobei er das unvollständig ausgespülte Pfefferminz-Shampoo roch, und verließ die Garage in westlicher Richtung. Er ärgerte sich über den Verlust von einer Stunde an seinem einzigen freien Morgen in dieser Woche.

Der Parkplatz von Tech Town war ein klaustrophobischer Hexenkessel aus im Schritttempo fahrenden Pkw und SUV, die sich wie Haifische in einem Aquarium umkreisten. Er hatte den Andrang zum Ferienbeginn gar nicht berücksichtigt. Doppelt verärgert raste er mit seinem Audi auf die erste Parklücke zu, die er sah.

Der Angestellte am Retouren-Schalter war ein molliger junger Mann Anfang zwanzig mit strubbeligem blondem Haar und nachlässig gebundener Krawatte. Er sah Marco an, als der auf ihn zukam.

»Hi«, sagte Marco und legte das Handy in der Plastikverpackung auf die Theke.

»Hallo, Sir.« Die weichen Wangen des Jungen waren rosig und zeigten Hautirritationen durch die Rasur. Er hatte sich ein Namensschild – allerdings ohne Namen – an die blaue Weste gesteckt. Hallo, ich bin’s, schien es zu sagen. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe das geschenkt bekommen«, sagte Marco. Er roch nach Pfefferminze und wurde sich peinlich berührt bewusst, dass dieser Geruch von seinen Haaren ausging. Er wich einen Schritt zurück. »Ich würde es gerne umtauschen, bitte.«

»In Ordnung, kein Problem«, sagte der junge Mann. »Haben Sie denn den Kassenbon dabei?«

Marco zögerte. »Äh, nein. Es war doch ein Geschenk.«

»Ach«, sagte der Junge. Er klang bitter enttäuscht. »Sie brauchen aber einen Beleg.«

Scheiße, sagte Marco sich. »Sogar für Geschenke?«

»Ja. Tut mir leid.« Der Junge zeigte hinter sich; wahrscheinlich auf ein Schild, das irgendwo außerhalb von Marcos Blickfeld angebracht war. »Eine Warenrückgabe ist nur gegen Kassenbon möglich.«

»Sogar bei Geschenken?«, wiederholte Marco. Er dachte, der Junge habe ihn vielleicht nicht richtig verstanden. »Das kann nicht sein. Die Leute tauschen doch ständig Geschenke um.«

»Tja …!«, sagte der Junge, und die Hautirritationen auf der Wange traten noch deutlicher zutage. »Hören Sie, diese Vorschrift gilt nur für Mobiltelefone. Weil wir nämlich nicht wissen, ob sie auch hier gekauft wurden.«

»Aber Sie verkaufen sie doch, oder?«

»Ja.«

»Dann dürfte es doch eigentlich keine Rolle spielen.«

Der Junge schob nachdenklich das Handy über die Theke. »Also, Sie gehören bestimmt nicht zu dieser Sorte«, sagte er wohlwollend. Marco begriff, dass der Junge nur höflich sein wollte. »Es kommt nämlich oft vor, dass die Leute einfach etwas aus dem Regal nehmen und es dann hier zurückgeben wollen.«

Marco holte tief Luft. Die Pfefferminze befreite die Atemwege. »Und was ist nach Weihnachten?«, konterte er. »Dürfen die Leute denn keine Geschenke zurückgeben, die ihnen nicht gefallen?«

Der Junge überlegte. »Hm … ich habe während des Weihnachtsgeschäfts noch gar nicht hier gearbeitet.«

»Gut«, sagte Marco. Das habe ich mir schon gedacht. »Ob der Abteilungsleiter mir vielleicht weiterhelfen könnte?«

Der Junge hob leicht die Hand. »Ich bin sein Stellvertreter.«

»Gut«, sagte Marco wieder. »Ist der Abteilungsleiter auch hier?« Die Frage klang schärfer, als er es eigentlich beabsichtigt hatte, und er sah, wie der junge Mann sich versteifte. Mist. Jetzt brauche ich auf Kulanz nicht mehr zu hoffen. Der junge Mann – der stellvertretende Abteilungsleiter ohne Namen – lächelte nun nicht mehr. Er griff zu einem Telefon, das hinter der Theke stand. Er drückte ein paar Tasten und wartete. Marco wartete auch und kam sich blöd dabei vor. Er hörte, dass die ganze Batterie von Fernsehgeräten in der angrenzenden Abteilung auf den Sportkanal eingestellt war.

»Hallo«, sprach der Junge ins Telefon. »Ist Mr. Lang da? Ich brauche ihn für eine Rückgabe.«

»Vielen Dank«, sagte Marco, als der Junge den Hörer wieder auflegte. Er hatte den vagen Verdacht, einen Fehler zu machen. Was, wenn seine Mutter das verdammte Ding gar nicht bei Tech Town gekauft hatte? Er wandte sich von der Theke ab, um den Jungen nicht sehen zu müssen, während er im Geiste seine Argumentation für Mr. Lang probte.

Es verging mindestens eine Minute, bevor Marco in drei Metern Entfernung eine Frau sah, die hinter ihm am Retouren-Schalter anstand. Als Erstes fiel ihm ihr extravaganter Hut ins Auge – ein Strohsonnenhut mit breiter Krempe und einer auffälligen pinkfarbenen Blume an der Seite. Der Hut zeigte erste Auflösungserscheinungen; an manchen Stellen stachen spitze Strohhalme hervor. Achtung, Verletzungsgefahr! Er vermochte sich nicht zu entscheiden, ob sie nun eine größere Ähnlichkeit mit einem Hobbygärtner oder mit Huckleberry Finn hatte. Die Krempe verbarg ihre Augenpartie und gab den Blick nur auf einen mit Lipgloss überzogenen Mund und ein fein geschnittenes Kinn frei. Sie trug einen weißen Rock und eine gelbe Rüschenbluse, unter der die kleinen Brüste sich ebenso züchtig wie verführerisch abzeichneten.

Sie hob den Kopf, und als der Hut sich dabei verschob, sah er, dass sie ihn beobachtete.

Sie war ausgesprochen attraktiv. Mit ihren intelligenten Augen schien sie ihn neugierig zu mustern, als hätte er gerade eine faszinierende philosophische Feststellung getroffen. Sie hatte eine dezente zartlila Wimperntusche mit dem Hauch eines Perleffekts aufgetragen. Ihr Gesicht war das eines Models, eine perfekte Vorlage für einen Künstler: eine schmale Nase, hohe Wangenknochen und kurzes kastanienbraunes Haar. Drei kleine Jade-Ohrringe zierten jedes Ohr.

»Hi«, sagte sie zu seiner Verblüffung. Er blinzelte ein paarmal reflexartig, als hätte sie ihn mit einer Lampe angestrahlt, bevor er überhaupt etwas erwidern konnte.

»Hi«, sagte er. Soviel also zum Thema fantastische Philosophie. Er fragte sich, womit er sich mehr zum Narren machen würde – wenn er sich wieder dem Tresen zuwandte und verkrampft dort wartete oder wenn er sich auf diese Frau einließ, die ihn dermaßen aus dem Konzept gebracht hatte. Er wünschte sich, Mr. Lang würde endlich seinen Arsch hierherbewegen.

»Ich habe gehört, was Sie sagten«, sagte die Frau. »Wegen Ihres Telefons.« Der Hut fiel ihr auf die Schultern, und sie lächelte verlegen. »Entschuldigung, ich muss einfach immer mithören.«

»Ach so«, sagte er und drehte sich um. Der Junge war mit seiner Tastatur beschäftigt und achtete nicht auf sie. Da er nun eine Sympathisantin gefunden zu haben schien, wurde Marco mutiger und wandte sich wieder der Frau zu. Ja, sie war wirklich attraktiv. Ihr Gesicht hatte eine feenhafte Anmutung mit rosigen Wangen und einer kecken Stupsnase. Obwohl sie Mitte dreißig war, strahlte sie noch immer das Leuchten der Jugend aus. Und ja, die Wimperntusche hatte einen Perleffekt, ein dezentes Glitzern, das er bei jeder anderen Frau als nuttig empfunden hätte – doch bei ihr fand er es irgendwie charmant. Als ob sie ihn mit ihrem Feenstaub bestäubt hätte.

»Sie wollen es nicht wieder zurücknehmen«, sagte sie, als ob sie die Situation klären wollte.

»Ja, anscheinend nicht«, bestätigte er. »Nicht ohne einen Beleg. Dabei war es ein Geschenk.«

»Es ist aber ein schönes Geschenk«, sagte sie, und im ersten Moment fühlte er sich verraten – als wollte sie ihn überzeugen, das Telefon doch zu behalten. Vielleicht hatte sie das Zucken seiner Lippen bemerkt, denn sie fügte sofort hinzu: »Eigentlich bräuchten Sie gar keine Quittung. Das wird heutzutage doch kaum noch verlangt.«

»Das habe ich ihm auch schon gesagt«, sagte er wieder versöhnt. »Wenn ich Sie als meine Zeugin benennen dürfte?«

Sie ermutigte ihn mit einem Lächeln. »Genau das wollte ich Ihnen auch schon vorschlagen. Ich habe direkt hinter Ihnen gestanden und es mit angehört. Unglaublich. Ich habe erst letzte Woche hier das gleiche Telefon gekauft. Exakt das gleiche. Sehen Sie.« Sie griff in ihre Handtasche und holte ein Duplikat heraus.

»Na so was«, sagte er. Er wusste nicht genau, worauf sie hinaus wollte. »Sie wollen es auch zurückgeben?«

»Nein, meins gefällt mir«, erwiderte sie. »Ich bin wegen etwas anderem hier, einer CD. Das Telefon habe ich auch nur deshalb erwähnt, weil ich nämlich noch den Kassenbon dafür habe. Hier in der Handtasche.«

Einen Moment lang überdachte er das stillschweigende Angebot. Sie grinste und biss sich in einer ganz eigenen Art und Weise auf die Unterlippe. Das machte sie immer, wenn ihr der Schalk im Nacken saß – aber das sollte er erst später herausfinden. Doch diese mädchenhafte Unbekümmertheit spürte er sofort. Sie kam ihm vor wie ein Teenager, der sich auf Zehenspitzen zur Hintertür hinausschlich, sobald die Eltern eingeschlafen waren.

»Klasse«, sagte er schließlich. »Das ist wirklich ein cleverer Einfall. Und wissen Sie was, ich glaube sogar, dass es funktionieren könnte. Vielleicht ist es nicht richtig, aber es könnte funktionieren.«

Sie zog eine Schnute und tat, als wäre sie beleidigt. »Es wäre doch richtig«, wandte sie ein. »Sie haben das Handy doch nicht etwa gestohlen, oder?«

»Nein.«

»Na also. Dann ist es nicht falsch. Falls überhaupt, wäre es die Wiedergutmachung für ein Unrecht, das man Ihnen angetan hat.«

Er warf wieder einen Blick auf den jungen Mann. Doch der schenkte ihnen nach wie vor keine Aufmerksamkeit. »Sollten wir nicht etwas leiser sprechen?«

»Ach, der hört doch gar nicht zu«, sagte sie und machte eine abfällige Geste in Richtung Theke. An ihrem Ringfinger steckte ein in Kupfer gefasster Rauchkristall. Die anderen Finger waren unberingt.

»In Ordnung«, sagte Marco. »Ich wüsste das sehr zu schätzen. Aber nur, wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht.«

»Natürlich nicht«, sagte sie. »Ich wollte den Kassenbon schon wegwerfen. Es stehen aber noch ein paar andere Posten darauf. Deshalb sagte ich mir, ich sollte ihn lieber noch aufheben. Jetzt bin ich froh darüber.«

»Ich auch.« Er ließ diese Aussage vielsagend nachhallen und streckte dann verstohlen die Hand aus. »Schnell. Er wird jeden Moment fertig sein.«

Sie lachte und gab ihm einen kleinen weißen Zettel aus ihrer Handtasche. »Sie haben einen Hang zum Dramatischen«, stellte sie fest.« Jetzt sagen Sie nur nicht, dass Sie Schauspieler sind.«

»Mein Gott, nein«, dementierte er etwas zu heftig. Sie hob die Augenbrauen, und er spürte, dass er einen Fauxpas begangen hatte. »Ich wollte damit nur sagen …«, sagte er, doch bevor er die Äußerung abzuschwächen vermochte, ertönte hinter ihm eine Stimme.

»Mein Herr, waren Sie derjenige mit dem Handy?«

»Ja, das bin ich«, sagte Marco und hielt die Quittung hoch – die »Quittung des Schicksals«, wie Danielle sie später nannte – und wedelte damit in der Luft. »Sie werden nicht glauben, was ich gerade gefunden habe.«

Wenige Minuten später hatte er das Geld – fünfundsechzig Dollar. Der junge Mann strich auf dem Beleg das Handy mit einem Rotstift durch, bevor er ihn Marco zurückgab. Marco ging zu der Frau zurück, die noch immer in der Schlange stand.

»Noch einmal vielen Dank«, sagte er zu ihr. »Sie haben etwas gut bei mir.« Dann wollte er ihr die Quittung geben, doch sie drückte sie ihm mit einem Kopfschütteln wieder in die Hand.

»Behalten Sie sie«, sagte sie. »Oh Gott, jetzt wird es aber peinlich.«

Sie verdrehte die Augen und hielt sich lachend die Hand vors Gesicht. »In Ordnung, dann sage ich es Ihnen lieber gleich. Sie haben es nicht bemerkt, aber ich habe meine Telefonnummer auf die Rückseite geschrieben. Während ich noch in der Schlange wartete und bevor ich überhaupt das erste Wort mit Ihnen gewechselt hatte. Das war alles Teil eines raffinierten Plans.«

Marco wurde rot. Die Quittung zitterte in seiner Hand wie ein Zauberkasten-Artikel, der gleich in Flammen aufgehen würde. Er widerstand dem Drang, den Zettel umzudrehen und sich zu vergewissern, dass sie auch die Wahrheit sagte.

»Oh«, sagte er. Sein Herz schlug ein paar Takte schneller. »Danke.« Obwohl er nur Unsinn daherredete, schien sie erfreut. Sie lächelte anmutig, als hätte sie ihr schönstes Gesicht nur für diesen Moment aufgespart, und reichte ihm die Hand.

»Gern geschehen«, sagte sie fröhlich. »Ich heiße Danielle.«

Er steckte die Quittung in die Tasche und ergriff dann ihre Hand. Sie fühlte sich wie ein weiches Blatt an. »Henry«, sagte er.

So hatte er Danielle also kennengelernt. Eine schöne »Kennenlern-Geschichte«, wie sie es nannte. Jede Ehe hat sozusagen ihren eigenen Gründungsmythos, und Danielle wurde nicht müde, den ihren zu erzählen. Sie war, wie er dann erfuhr, eine Schauspielerin und hatte auch schon in Filmen mitgespielt, an die er sich vage erinnerte – Photo Album, Pearls und Next to Nothing –, obwohl er eigentlich kein begeisterter Cineast war. Ihre Hollywoodfreunde waren ein träumerischer Haufen, der immer über das Wunder des Universums staunte. Wenn bei Dinner-Partys das Gespräch auf das Schicksal kam, führte Danielle ihre Begegnung mit Marco als Beweis an, während er sich betont sachlich gab – er wandte dann ein, dass das nur Zufall gewesen sei, worauf er immer ausgebuht und mindestens von einem der Anwesenden mit einem Sofakissen beworfen wurde.

Das war nämlich die Ironie: Er hatte Danielle gegen das Handy eingetauscht, seine lebendige, schöne Live-Verbindung zur Welt. Vor Danielle hat er niemanden gehabt. Ein Einsiedler, so hatte seine Mutter ihn genannt, und damit lag sie wohl auch gar nicht so falsch. Und mit Danielle kamen Freunde, Partys, Pläne für eine Familie … nur, dass er Danielle dann wieder verloren hatte.

Und ohne sie war das Leben die Hölle auf Erden.

5.2

Die silberne Kuppel des Bahnhofs von Maricopa reflektierte das Licht der Morgensonne in einem gleißenden Schein, den Marco schon zwei Straßenzüge entfernt aus seinem Jeep sah. Vor ihm erstreckte sich die Route 347 in flimmernder Hitze. Es war schon am Morgen heiß. Seit den Verhandlungen mit Osbourne waren vierundzwanzig Stunden vergangen; als das Gespräch beendet war, hatte er den Computer ausgeschaltet, war ins Schlafzimmer gerannt und hatte sich aufs Bett fallen lassen wie ein Boxer, der auf die Bretter ging. Er fiel in einen fiebrigen Schlaf, der ihn immer tiefer umfing, je mehr er versuchte, wieder aus ihm zu erwachen – als wäre er in einer Grube mit Treibsand gefangen. Irgendwo in einer anderen, entfernten Realität, die nicht die seine war, hörte er Gewehrschüsse und Explosionen. Er schlief den Nachmittag durch, den Abend und auch die Nacht. Als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug, ging es ihm schon wieder besser. Sein Hals war nicht mehr so wund, die Nebenhöhlen waren nicht mehr verstopft, und er konnte auch wieder durchatmen. Er entspannte sich und wurde sich plötzlich bewusst, dass er sich wirklich Sorgen gemacht hatte; aber es fand definitiv keine Auferstehung in seinem Körper statt. Kein rohes Fleisch für mich.

Also stand er auf. Er erhitzte Wasser über dem Kaminfeuer, und nach einer Katzenwäsche zog er sich an und packte Ausrüstung und Waffen zusammen. Kurz nach sieben verließ er das Haus. Er hatte Osbournes Plan, sich mit der Anti-Auferstehungs-Einheit in der Stadt Maricopa zu treffen – eine Autostunde entfernt im Süden –, schließlich zugestimmt. Widerwillig, aber zugleich auch irgendwie dankbar für die Verstärkung.

Roger Ballard, sagte er sich nun schon zum hundertsten Mal, seit er im Auto saß. Er runzelte die Stirn bei der Erinnerung an letzte Nacht. Dass dieser Name überhaupt zur Sprache gekommen war. Was zum Teufel führte Osbourne im Schilde? Wieso sollte Roger zurückgegeben werden? »Nationale Sicherheit«, hatte Osbourne geraunt.

Da ist irgendwas faul, sagte Marco sich verdrießlich. Ich hätte ablehnen sollen.

Andererseits hätte er sowieso keine Wahl gehabt. Osbourne war ein mieses Arschloch. Die Drohungen waren schon starker Tobak, dachte Marco. Dass er dann aber auch noch Danielle benutzte, um ihn zu manipulieren … ja, er hatte ihn praktisch auf Knien angefleht, ihm den Auftrag zu erteilen. Er verzog das Gesicht bei der Erinnerung an die Fragen, die Osbourne ihm gestellt hatte. Die gleichen grausamen Fragen, mit denen er jeden Tag hier draußen in dieser Ödnis konfrontiert wurde und die ihm genauso zu schaffen machten wie die Sonne.

Weshalb hast du sie nicht gefunden? Weshalb dauert das so gottverdammt lange?

Mein Gott, und wie er es versucht hatte – er hatte an hundert Orten gesucht, an denen sie hätte sein müssen. Die Hochzeitskapelle in Hollywood. Das Ferienhotel in Carefree. In ihrer ersten Wohnung in Los Angeles und im Café, in dem sie sich zum ersten Mal verabredet hatten. Und natürlich hatte er auch darauf gewartet, dass sie im Haus in Arizona, in dem sie vier Jahre lang gelebt hatten, wieder auftauchte. Er hatte überall gesucht, an jedem Ort, der eine Bedeutung für sie gehabt hatte – der eine Bedeutung für sie hätte haben müssen. Es sei denn, er hätte sich komplett getäuscht …

Er verspürte Schmerzen in der Brust. Er wollte nicht an ihr zweifeln.

Vielleicht haben Sie sich das schon einmal gefragt, hatte Osbourne gesagt.

Ja. Vielleicht.

Das Bild ihres leeren Honda erschien kurz vor seinem geistigen Auge, gespenstisch und fragmentiert. In Momenten wie diesen hatte er es oft vor Augen, vor allem wenn er müde und niedergeschlagen war. Und dann folgten immer mehr Bilder, und wenn diese Abfolge erst einmal eingesetzt hatte, war sie kaum noch zu stoppen – er in seinem Audi am ersten Tag der Auferstehung, als er wie ein Verrückter durch die Stadt raste, um Danielle aus dem unglaublichen Chaos aus schreienden Menschen und Trümmern und Krankenwagensirenen und toten Monstern, die ihn jagten, zu retten, und dann trat er plötzlich voll auf die Bremse, und da war ihr Honda, der sich um einen gesplitterten Telefonmast gewickelt hatte; sein Blick fiel auf ihr albernes YINYANG-Nummernschild, als er über die Straße sprintete und Leichen auswich – nein nein nein, sagte er sich – blutverschmierte braune Fingerabdrücke an den offenen Türen, der Motor war noch heiß und zischte – nein nein nein verdammt verdammt verdammt – der Fahrersitz war mit Eingeweiden bedeckt, Darmschlingen, einer abgebissenen halben Leber, die Fußmatten mit Blut getränkt – ihre roten Fußabdrücke vor dem Auto verloren sich in der Wüste, und dann hatte er sie nie mehr gesehen

»Schluss damit!«, sagte er und schlug mit der Faust auf die Hupe. Der laute Hupton verscheuchte den Tagtraum und zerstreute die unerfreulichen Gedanken. »Das reicht jetzt«, sagte er.

Und im nächsten Moment bereute er es schon, so unbeherrscht auf die Hupe gedrückt zu haben. Du verrätst dich noch selbst, du Arschloch, dachte er und zwang sich, die Aufmerksamkeit wieder auf die Straße zu richten. Er hielt Ausschau nach dem, was er als »Frühaufsteher« bezeichnete. Leichen schliefen nicht – doch nach einer kühlen Nacht schien das Sonnenlicht bei manchen die Aktivität zu verstärken. Wahrscheinlich auch ein Nachhall ihres Lebens, der individuellen Persönlichkeit und Gewohnheit geschuldet. Kurz nach Anbruch der Morgendämmerung stieß man mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auf weißhaarige Leichen, die auf Gehwegen entlangtorkelten: Die Alten machten einen frühmorgendlichen Spaziergang. Man sah auch tote Kinder, die wahrscheinlich vom Impuls getrieben wurden, einen Schulbus zu erwischen oder Zeitungen auszutragen. Einmal musste er fluchtartig einer Leiche in einer kurzen Jogginghose ausweichen; die Wadenmuskulatur des rechten Beins war vollständig abgekaut, sodass nur noch der Knochen wie eine graue Stange aus einem schmutzverkrusteten Turnschuh ragte.

Die Frühaufsteher stellten aber keine echte Bedrohung dar, jedenfalls nicht für einen Autofahrer. Dafür waren es zu wenige. Doch wenn er eine Leiche über den Haufen fuhr, würde das vielleicht den Jeep beschädigen und ein Bauteil im Motorraum abreißen. Und das Letzte, was Marco brauchte, war ein Motorschaden.

Sein Plan sah vor, nach Maricopa zum Bahnhof zu fahren und dann, eskortiert vom Lkw der AAE, dem Schienenstrang die ganze Strecke bis nach Los Angeles zu folgen.

Das würde eine ungemütliche Fahrt werden, stellte aber immer noch die sicherste Art und Weise dar, lange Strecken zu bewältigen.

Er hatte sich diesen Trick vor zwei Jahren ausgedacht. Auf den Highways in den Evakuierten Staaten geriet man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit irgendwann in einen »Geisterstau« – Tausende leerer Pkw und Lkw, die während der Evakuierung verlassen worden waren, blockierten die Fahrbahn. Zu Tode erschrockene Fahrer hatten ihre Fahrzeuge verlassen und die Flucht ergriffen, und die Toten waren in Rudeln über die Auffahrt zum Highway ausgeschwärmt und hatten ihnen die Fluchtwege abgeschnitten. Ganze Familien waren so eine leichte Beute geworden.

Das halbe Straßennetz in Amerika wurde inzwischen von kilometerlangen Kolonnen aus rostigen Autowracks und in der Sonne gebleichten Knochen blockiert – da gab es kein Durchkommen mehr. Außerdem wimmelte es auf den Fernstraßen von hungrigen Toten. Einmal hatte er versucht, sich zu Fuß durchzuschlagen. Das war ein großer Fehler gewesen. Zum Glück hatte er es bis zu einer Überführung geschafft und war dann auf der Flucht vor hundert Leichen in einen Fluss gesprungen.

Also waren Bahngleise die Lösung. Dort herrschte kein Verkehr, und man konnte sich auch nicht verirren. Nur eine direkte Verbindung von Punkt A nach Punkt B, durch jedes Gelände. Große Städte, dichte Wälder, hohe Berge – was auch immer. Marco hatte die Tagesetappe auf der Karte abgesteckt, bevor er das Haus verließ. Ab Maricopa den Schienen folgen und ungefähr sechshundertfünfzig Kilometer nach Westen, über die Staatsgrenze von Arizona, und dann weiter Richtung Los Angeles. Er würde dann in ausreichendem Abstand vor der Stadt wieder vom Schienenstrang abweichen, bevor das Gebiet zu dicht besiedelt und damit zu gefährlich wurde.

Der Bahnhof von Maricopa funkelte in der Sonne und kam immer näher. Dort gab es sogar eine Touristenattraktion – einen Panoramawaggon der klassischen kalifornischen Zephyr-Linie, den man abgekoppelt und auf einem Nebengleis der nach Osten verlaufenden Bahnstrecke abgestellt hatte. Da stand er nun als ein stählernes Depot. Er hatte den Bahnhof schon einmal vor der Auferstehung besucht – nicht als Passagier, sondern auf einer selbst organisierten Besichtigungsreise, die er und Danielle vor fünf Jahren unternommen hatten. Gleich, nachdem sie nach Arizona gezogen waren.

An diesen ersten Wochenenden hatten sie Reiseführer gekauft, die Themen- und Panoramarouten erkundet und sich mit den Highlights ihres neuen Heimatstaats vertraut gemacht. Und an diesem besonderen Morgen hatten sie das Gila River Heritage Center besucht, wo Folklore und Mystizismus der amerikanischen Ureinwohner kultiviert wurden. Danielle war davon natürlich begeistert gewesen, während Marco es als eine kitschige Darbietung von üppigem Federschmuck und bunten Perlen abqualifizierte. Dann waren sie der Reiseroute weiter nach Maricopa bis zur berühmten Bahnstation Silver Horizon gefolgt.

Interessant, hatte Danielle kommentiert; eine andere Würdigung war ihr nicht eingefallen. Es war im Grunde auch nichts Besonderes – nur eine alte Metallhülle in der Wüste. Sie waren, ohne anzuhalten, an dem Bahnhof vorbeigefahren und hatten ein paar Straßenzüge weiter in einer schmuddeligen Pizzabude zu Mittag gegessen.

Marco runzelte die Stirn. Die Pizzabude.

Er war nicht mehr weit davon entfernt, höchstens noch zwei Kreuzungen. Ob es Sinn hatte, dort einmal nachzusehen? Aber sie dort zu finden, wäre schon ein sehr großer Zufall – es war nur ein Ort, an dem sie einmal gegessen hatten. Sie hatte sonst keinen Bezug dazu, und er vermochte sich auch nicht daran zu erinnern, dass sie nur ein einziges Mal über diese Pizzeria gesprochen hätten. Andererseits – man wusste nie, auf welche Gedanken die Toten so kamen.

Außerdem wusste er kaum noch, wo er sonst hätte suchen sollen. Vor einem Jahr hatte er sogar dem Gila River Heritage Center noch einmal einen Besuch abgestattet. Es war aber nichts da gewesen außer ein paar Dutzend Leichen von Maricopa-Indianern, die in feuchten Lehmbauten hausten und herausgekrochen waren, um ihn zu fressen.

Von Danielle keine Spur.

Er bog nach links auf den kleinen Parkplatz des Bahnhofs ab, vis-à-vis einem heruntergekommenen Autoteilegeschäft und einem baufälligen mexikanischen Restaurant namens Papi. Es lag ein Gestank nach Exkrementen in der stickigen Luft, und er verspürte einen Brechreiz. Durch die mit Insekten übersäte Frontscheibe fiel sein Blick auf das graue Depot. Es wirkte noch einsamer, als er es in Erinnerung hatte – ein einzelner Waggon, der von seinem Zug geschieden worden war. Sein Blick folgte dem weiteren Straßenverlauf. Irgendwo in dieser Richtung war die Pizzabude.

Er verspürte dieses schwache Ziehen in der Brust, das immer die schwachen Hoffnungsschimmer begleitete und ihn fast unwiderstehlich vorwärtstrieb. Er seufzte. Wenn er dieses Restaurant nicht überprüfte, würde er sich den ganzen nächsten Monat mit der Vorstellung quälen, dass sie dort gewesen wäre, die ganze Zeit auf einem dieser billigen roten Vinylstühle gesessen und auf eine lausige vegetarische Pizza gewartet hätte, die nie serviert worden wäre.

Bei diesem Gedanken umwölkten seine Augen sich.

Und das gab den Ausschlag. Er musste nachschauen.

Er schluckte unbehaglich und wendete den Jeep auf dem Parkplatz. Die Reifen knirschten auf dem Kiesbett. Er würde zum Pizzaschuppen rüberlaufen und wieder zurück sein, bevor die AAE auftauchte.

Er bog wieder auf die Route 347 ein und fuhr einen Straßenzug weiter – vorbei an dunklen Schaufensterfronten und Geschäften mit staubigen Fenstern: ein Installateur-Fachgeschäft, ein Lebensmittelgeschäft, ein Waschsalon. Er versuchte, einen Blick in jedes dieser Geschäfte zu werfen. Er spürte förmlich, wie sein Bewusstsein dem Jeep vorauseilte, und sah sich schon den Pizzaschuppen betreten.

Die Schritte hallen laut im Eingangsbereich. Sprödes Linoleum knistert unter seinen Stiefeln. Er betritt das eigentliche Restaurant, und da ist sie. Danielle an einem runden Tisch. Ihr Gesicht liegt im Schatten, aber er erkennt sie sofort. Ihr Haar ist noch immer kurz, hat noch immer diesen kastanienbraunen Farbton, ist aber steif wie Stroh. Er sagt leise ihren Namen. Sie dreht sich zu ihm um, ein trockenes Geräusch entringt sich ihrer Kehle

Plötzlich ein lautes, durchdringendes Kreischen. Er schreckte auf.

Er schaute gerade noch rechtzeitig in den Rückspiegel, um mitzubekommen, wie ein grüner Lkw hinter dem Jeep über die Kreuzung schlitterte und ungebremst auf den Bahnhof zuhielt.

Das Fahrzeug brannte.

Gottverdammte Scheiße!

Der Lkw – ein Militärtransporter – stand in Flammen. Sie züngelten über die Motorhaube und wallten wie die Mähne eines dämonischen Tieres über der Plane, mit der die Ladefläche abgedeckt war. Schwarze Rauchwolken quollen aus der Kabine. Mit quietschenden Reifen brach der Lkw nach links aus, kollidierte mit dem Bordstein und krachte in ein Transformatorhäuschen neben der Bahnstation. Mit dem unheimlichen Kreischen von Metall, das von anderem Metall aufgerissen wurde, fuhr der Lkw noch kurz auf zwei Rädern weiter und kippte dann um – das Dach wurde eingedrückt, und Funken sprühten, als der Stahlrahmen über den Beton schabte.

Das Fahrzeugwrack walzte noch ein paar braune Dornbüsche nieder und blieb dann fünfzehn Meter vom Bahnhof entfernt liegen. Die Räder drehten sich in der Luft. Die durch die Radkästen schlagenden Flammen setzten den trockenen Busch in Brand, der nun auch rot und orangefarben aufloderte. Dann warfen die Reifen Blasen, und der Rauch wurde noch dichter.

Marco saß wie betäubt da und starrte in den Rückspiegel. Der Unfall hatte sich mit einer solchen Schnelligkeit abgespielt, dass er nicht einmal dazu gekommen war, einen Blick durch die Heckscheibe zu werfen.

Nun drehte er sich mit rasendem Herzen um. Und dann sah er den Mann in dem Fahrzeugwrack.

Er saß kopfüber auf dem Fahrersitz und schlug mit den Fäusten gegen die Frontscheibe.

Er war in der brennenden Fahrerkabine wie in einer Todeszelle gefangen.

5.3

Hilflos beobachtete Marco, wie der Fahrer im Lkw bei lebendigem Leib zu verbrennen drohte. Das Wrack war ein flammendes Inferno, und jeder Rettungsversuch schien hoffnungslos. Doch dann blinzelte er zweimal – ach, zum Teufel, sagte er sich mit dem Achselzucken, einen Versuch ist es auf jeden Fall wert – und riss sich aus seiner Lethargie. Er knüppelte den Rückwärtsgang rein und blickte mit verrenktem Rücken durch die Heckscheibe, während er Gas gab. Mit quietschenden Reifen schoss der Jeep wie ein Torpedo rückwärts die Straße entlang.

Marco hielt direkt auf den brennenden Lkw zu und versuchte, einem Hindernis auszuweichen, das plötzlich aufgetaucht war. Durch die Heckscheibe sah er einen Laternenpfahl auf sich zurasen und verriss das Lenkrad. Der Jeep brach aus und verfehlte knapp den Pfahl und einen Briefkasten, bevor er gegen den Bordstein auf der gegenüberliegenden Seite des Bahnhofs prallte. Marco wurde aus dem Sitz katapultiert und prallte mit dem Kopf gegen die Innenraumbeleuchtung. Seine Zähne schlugen so fest aufeinander, dass er schon glaubte, die Keramikkronen wären zerbrochen.

Mit hämmernden Kopfschmerzen schaltete er in die Parkposition und griff nach seiner Tasche. Gottverdammt. Der gesamte Inhalt hatte sich über die Fußmatte auf der Beifahrerseite ausgebreitet – ein Chaos aus Landkarten, Taschenlampenbatterien, Munition, Frischhaltebeuteln mit gefriergetrocknetem Rindfleisch, Hähnchen und Gemüse. Und seine Waffe, die Glock, war auch irgendwo in dem Durcheinander. Hektisch suchte er den Boden, den Rücksitz und den Spalt zwischen Sitzbank und Seitentür ab.

Keine Pistole. Er konnte die beschissene Pistole nicht finden.

Er hörte einen Schrei aus dem brennenden Wrack des Militärfahrzeugs.

Scheiß drauf, sagte er sich. Keine Zeit.

Er sprang aus dem Jeep und schnappte nach Luft. Selbst hier, zwanzig Meter vom Lkw entfernt, war die Hitze noch mörderisch – als hätte er beim Aussteigen von einer riesigen Hand einen heftigen Schlag ins Gesicht bekommen. Er verengte die Augen zu Schlitzen, um überhaupt etwas sehen zu können. Eine große Wolke aus Feuer und Rauch quoll aus dem umgekippten Lkw, waberte an den Seiten empor und bahnte sich einen Weg durch das freiliegende Gewirr aus Zylindern und Schläuchen. Der Gestank brennender Reifen lag in der Luft, und der Qualm kratzte an seinen Augäpfeln wie Sandpapier.

Er versuchte zu atmen, doch seine Kehle schnürte sich zu und bescherte ihm einen Hustenanfall. Mein Gott. Er zog sein T-Shirt aus und benutzte das weiche Baumwollgewebe als Mundschutz. Dann ging er schwer atmend um den Lkw herum zur Fahrerkabine, wo er den eingeschlossenen Mann gesehen hatte. Er duckte sich, ging noch etwas näher heran und riskierte einen Blick durchs Fenster des Führerhauses.

»Hey!«, rief er.

Durch den Rauchvorhang schlug eine Hand auf das Glas. Eine rosige, blutige Handfläche drückte gegen das Fenster. Dann zog sie sich zurück und schlug wieder dagegen.

»Halte durch!«, rief Marco. Er wickelte sich das T-Shirt um die Hand und griff nach der glutheißen Fahrertür. Der Türgriff ließ sich mühelos bewegen, doch die Tür selbst gab nur ein kleines Stück nach. Durch den Unfall hatten die Türen sich verzogen und ließen sich nicht mehr öffnen. Im dichten Rauch auf der anderen Seite des Fensters zeichnete sich nun ein pulsierendes rotes Glühen ab. Die Sitze hatten Feuer gefangen. Der Mann presste die Hand noch fester gegen die Scheibe. Durch den Qualm erkannte Marco ein entsetztes Gesicht – ein kahlköpfiger schwarzer Mann, der mit schmerzerfüllt geöffnetem Mund um sich schlug.

Marcos Gedanken überschlugen sich. Wenn er die Glock hätte, könnte er die Scheibe mit einem Schuss zertrümmern.

Oder mit einem Radmutternschlüssel. Er hatte einen irgendwo im Jeep; er müsste aber erst danach suchen.

Oder er könnte die Fäuste einsetzen. Oder …

Die Stiefel. Seine schweren Stiefel der Größe 45. Damit konnte man etwas ausrichten – er hatte in den letzten Jahren schließlich schon genug Leichenschädel eingetreten.

Er ging auf die Knie, kroch unter den Motorraum des Lkw und drehte sich auf den Rücken. Dann zog er die Beine an und zielte auf die Frontscheibe, die sowieso schon einen Riss hatte. Die Motorhaube hing bedrohlich über ihm; sie klaffte ein Stück weit auf und zischte zornig – aus dem gerissenen Kühler entwich heißer Dampf. Und es stank überall nach Benzin, eine unsichtbare Zeituhr, die unerbittlich ablief.

Der Tank wird jeden Moment explodieren.

Dann geht der ganze Lkw in einem Feuerball hoch. Und ich mit.

Er trat so fest zu, wie er konnte. Der Schmerz in den Schienbeinen strahlte bis in die Knie aus, aber die Glasscheibe hielt. Er trat noch einmal zu. Diesmal wölbte die Frontscheibe sich nach innen, und es bildete sich ein Dutzend Risse; aber sie zersplitterte immer noch nicht. Salziger Schweiß lief ihm in die Augen, als er ein drittes Mal zutrat. Endlich gab das Glas nach, und der linke Stiefel brach ins Führerhaus.

Er spürte, wie der eingeschlossene Mann seinen Fuß packte und abrutschte.

»Halte durch!«, rief Marco. »Gleich bist du frei!«

Er trat mit beiden Beinen heftig nach, bis das Loch breit genug war: eine gezackte, etwa sechzig Zentimeter breite Öffnung, durch die schwarzer Rauch drang. Die Rauchwolke hüllte Marco ein. Er versuchte, die Rauchschwaden mit den Händen zu teilen, und rang nach Luft; wie zum Teufel konnte der Mann da drin überhaupt atmen?

Kräftige Hände schlossen sich um seine Fußknöchel. Und zogen. Marco rutschte fast einen halben Meter durch die zerbrochene Frontscheibe ins Fahrzeug hinein.

»Hey!«, rief er überrascht.

Der im Rauch verborgene, in Panik geratene Mann zog wieder an ihm.

»Warte …«, sagte Marco, während er ruckartig ins Fahrzeug gezogen wurde und bis zur Hüfte im Loch verschwand. Er spürte, wie seine Baumwollhose sich bauschte und Flammen an den Waden züngelten …

… und kalte Hände seine Schienbeine umklammerten.

Schlagartig aktivierte die vertraute, schockartige Berührung kalter, toter Haut die Nerven in Marcos Beinen, raste als elektrischer Impuls das Rückgrat hinauf und löste schieres Entsetzen aus.

»Verflucht«, stieß er hervor.

Das war kein Mensch im Lkw – sondern eine beschissene Leiche.

Schüttle sie ab! Alle Sehnen in den Beinen spannten sich gleichzeitig, und er trat wild und verzweifelt blindlings um sich. Sein Unterleib war bereits im schwarzen Rauchsturm hinter der Frontscheibe verschwunden; er konnte die Füße nicht mehr sehen und wusste auch nicht, ob er schon in Reichweite der Zähne des toten Mannes war. Er spürte, wie sein Schienbein gegen einen harten Knochen schlug, vielleicht den Kiefer oder die Stirn der Leiche, und stieß einen Schreckensschrei aus. Eine Millisekunde lang war er sich sicher, dass er gebissen worden war. Und dann schlang sich ein muskulöser Arm um sein Knie, und die Leiche zog ihn noch einmal ungefähr zwanzig Zentimeter tiefer in den Rauch hinein.

Die Hitze war schier unerträglich. Flammen züngelten schrecklich pfeifend aus der grün lackierten Motorhaube, nicht einmal einen halben Meter über seinem Gesicht. In wenigen Sekunden würde er entweder verbrennen oder bei lebendigem Leib aufgefressen.

Entschlossen stützte er sich mit den Händen auf der Frontscheibe ab und winkelte die Arme an, um zu verhindern, dass er noch weiter ins Innere gezogen wurde. Das Glas selbst war nun auch zu einem Bestandteil dieses Infernos geworden. Es war glühend heiß. Die Handflächen warfen Blasen, die sofort aufplatzten und Wunden aus rohem, rosigem Fleisch hinterließen. Er schrie auf. Aber er hatte keine Wahl. Er stemmte sich gegen die Frontscheibe, machte einen Buckel und widersetzte sich der verrotteten Masse, die an seinen Beinen hing. Die Arme zitterten schon. Aber es gelang ihm, sich erst drei, dann sogar fünfzehn Zentimeter zurückzuziehen.

Doch dann stach, begleitet von einem animalischen Knurren, eine aschgraue Hand aus dem Rauch und packte ihn direkt oberhalb des Knies; und im nächsten Moment schob sich auch der Kopf der Leiche ins Freie. Die Haare waren am Kopf verbrannt, und die braune Haut war zu weißen, gummiartigen Fetzen geschmolzen. Eine Augenhöhle war leer – die klaffende Wunde qualmte.

Keuchend nahm Marco die Hände von der heißen Frontscheibe und stützte sich auf dem Straßenpflaster ab. Er schrie wieder auf, als sich winzige Splitter des zertrümmerten Sicherheitsglases in die aufgerissene Haut bohrten. Aus dem Fahrzeugwrack fegte ein Feuersturm über das Gesicht der Leiche. Dann rasten die Flammen auch über Marcos nackten Oberkörper hinweg. Befeuert von einem Adrenalinstoß und zusätzlich angetrieben vom Schmerz, robbte er noch etwa einen Meter weiter auf die Straße. Seine Stiefel kamen frei; um die Sohlen waberten ölige, übel riechende Rauchschwaden.

Aber die Leiche wollte einfach nicht locker lassen. Sie ruckte heftig mit dem Kopf wie ein in Panik geratenes Tier, schürzte die Lippen und stieß ein Knurren aus. Dann stieß sie plötzlich den anderen Arm aus dem Fahrzeugwrack, hielt sich am Glas fest und zog sich nach draußen, bis der massige Körper des toten Mannes schließlich auf Marcos Beine fiel und sie einklemmte.

Die Leiche brannte – der Rücken stand in Flammen. Fetzen einer schwarzen Militäruniform klebten an ihren verkohlten Muskeln. Ein Soldat. Mit dem einen Auge fixierte die Leiche Marco, und er spürte, wie sie ihm die Finger immer tiefer in die Kniekehle bohrte. Der Druck wurde stärker, bis er glaubte, die Kniescheibe würde abspringen.

Er ist stark, der Scheißkerl.

Marco kämpfte gegen ihn an und versuchte, die Panik zu unterdrücken, die nun auch in ihm aufstieg. Aber es war zwecklos. Die Leiche lastete nun mit ihrem ganzen Gewicht auf ihm. Der Soldat wog weit über hundert Kilo, ein Berg aus Sehnen und Muskeln. Mit klauenartigen Fingern zog er sich weiter an Marco hinauf, riss den Mund auf und wollte schon zubeißen …

… doch mit einem schnellen Reflex wich Marco der zuschnappenden Leiche aus, stieß ihr kraftvoll den Daumen in die leere Augenhöhle und hakte ihn dort ein. Der Kopf der Leiche war blockiert. Sie schnappte wild in der Luft, war aber nicht mehr in der Lage, Marco ins Bein zu beißen.

Marco stieß den Daumen noch tiefer in die Augenhöhle und spürte, wie er in eine ekelhafte breiige Masse im Schädel eindrang. Schwarze Flüssigkeit spritzte aus dem Loch. Marco krümmte sich. Er wusste aus Erfahrung, dass die Schnitte an den Händen nicht groß genug waren, um sein Blut mit der Auferstehung zu kontaminieren. Er hatte es sich schon vor Jahren abgewöhnt, sich wegen kleiner Kratzer verrückt zu machen, aber er hasste es trotzdem wie die Pest, mit Leichenblut besudelt zu werden.

Komm schon, reiß dich zusammen und konzentriere dich, sagte er sich. Was nun?

Ein erstickter Schrei auf der Straße gab ihm die Antwort.

Er drehte den Kopf und suchte nach der Ursache des Geräuschs.

Vier weitere Leichen waren aus dem Autoteilegeschäft an der Ecke aufgetaucht, schlurften auf ihn zu und gurgelten aus hungrigen Mäulern.

Die brennende Leiche drohte Marco mit ihrem enormen Gewicht zu erdrücken. Mit einer schnellen Bewegung packte sie seinen freien Arm am Handgelenk und schlug ihn aufs Pflaster.

Marco schrie auf. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Als wäre er am Boden festgenagelt.

Die Leichen näherten sich unaufhaltsam ihrer Beute.

5.4

Marco kämpfte verzweifelt um sein Leben. Er bohrte den Daumen noch tiefer in die Augenhöhle des toten Soldaten und versuchte verzweifelt, ihn wegzuschieben. Doch die Leiche hatte ihn fest im Griff – ihre Zähne schnappten schon nach seinem Hals, waren nur noch ein paar Zentimeter von der pulsierenden Schlagader entfernt. Flammen züngelten auf dem Rücken der Leiche. Sie stank aus dem Mund – es war nicht etwa der Atem, sondern ein nach Exkrementen riechendes Gas, das ihr aus der Lunge gepresst wurde, während sie Marco auf den Asphalt drückte. Marco würgte und richtete den Blick wieder auf die Seitenstraße.

Die vier anderen Leichen hatten ihn fast schon erreicht. Sie waren nicht einmal mehr zehn Meter entfernt. Drei männliche Leichen in zerrissenen Mechanikeroveralls und eine weibliche – nein, die Leiche mit dem langen schwarzen Haar war auch männlich, ein nackter Maricopa mit einer Haut wie graues Leder und purpurnen Striemen auf dem Bauch. Sie knurrte Marco an.

Nun waren sie noch sechs Meter entfernt.

Immer näher.

Marco bäumte sich auf, zappelte mit den Beinen, versuchte, den Arm zu befreien und die Leiche von sich herunterzurollen. Vergeblich – das Ding war einfach viel zu stark, und er war auch nicht imstande, den Kopf noch viel länger festzuhalten. Marcos Daumen zitterte und wurde zurückgebogen. Er verspürte einen stechenden Schmerz im Handgelenk.

Gleich wird er brechen, dachte er.

Fetzen toter Haut lösten sich von Armen und Brust der brennenden Leiche und stoben wie Ascheflocken an Marcos Gesicht vorbei. Die Flammen wüteten über ihm und um ihn herum; er schmeckte Salz und Benzin auf der Zunge, und seine Ohren wurden vom Brüllen des Feuers, dem Zischen des zerstörten Motors und dem Grunzen des Monsters auf ihm malträtiert. Das alles stürmte auf ihn ein. Einen Moment lang befürchtete er, von diesem Chaos überwältigt zu werden, und er drohte im Rauch und im Angesicht des Todes in Ohnmacht zu fallen. Dann blinzelte er – und blinzelte noch einmal. Seine Wahrnehmung klärte sich wieder.

»Das war’s dann wohl«, stieß er hervor.

Er schaute auf und sah, dass die anderen Leichen nun angekommen waren. Sie krochen unter der Haube des umgekippten Lkw auf ihn zu. Bösartige, blutverkrustete Fratzen, aus denen schwarzer, zähflüssiger Geifer lief.

Noch vor fünf Minuten hatte er sich in der Sicherheit des Jeeps befunden und an Danielle gedacht. Nun verspürte er wieder ein Brennen in den Augen, und er unterdrückte die Tränen. Tut mir leid, Delle. So hatte er sie immer genannt. Sie hatten immer Witze darüber gemacht: Er hatte nie Zeit, ihren Namen vollständig auszusprechen. Deshalb musste er auf eine Silbe verkürzt werden. Und dann hatte er schon wieder den nächsten Termin, musste weiter zum nächsten Patienten. Tut mir leid, Delle. Schade, dass ich dich nicht gefunden habe.

Aber er hatte zu wenig Zeit für sie gehabt. Wieder einmal.

Mit der Luft, die er noch in der Lunge hatte, stieß er einen Schrei der Frustration aus. Doch der wurde gleich zu einem Keuchen erstickt, als die brennende Leiche ihn am Hals packte und die vier anderen toten Männer sich über ihn beugten. Er wünschte sich, der Tank des Lkw möge jetzt explodieren und dem ganzen Elend ein Ende bereiten …

… und dann änderte ein lautes dumpfes Geräusch alles.

Es geschah so schnell, dass er eine Weile brauchte, um die Situation zu erfassen. Er hatte sich schon mit der ersten Berührung kalter, toter Finger abgefunden, mit dem qualvollen Schmerz, wenn ihm das Fleisch aus dem Körper gerissen wurde, als plötzlich die vier Leichen, die ihn von allen Seiten bedrängten, aufs Straßenpflaster flogen. Sie lagen mit dem Gesicht nach unten da und zuckten, als hätte man ihnen eins mit einer Keule übergezogen – und zwar allen gleichzeitig. Meine Güte, der Lkw war explodiert – nein, nicht explodiert, sondern auf die Leichen gestürzt; nein, nicht der ganze Lkw, nur die Motorhaube, wie er schließlich erkannte. Die schwere Haube war aufgegangen und heruntergeklappt, hatte die Leichen am Hinterkopf getroffen und niedergestreckt. Nur die brennende Leiche auf Marco war so dicht am Boden, dass sie nicht getroffen worden war. Ungerührt schnappte sie nach seiner Schulter. Marco krümmte sich, sodass der Biss ins Leere ging, und konnte kaum fassen, dass er überhaupt noch am Leben war.

Die versengte grüne Metallhaube hing nicht einmal einen halben Meter über seinem Kopf.

Und dann wurde sie wieder angehoben.

Und ordnungsgemäß verriegelt.

Das gibt’s doch gar nicht! Marco reckte den Hals und versuchte, hinter sich zu schauen.

Die um ihn herumliegenden Leichen rappelten sich wieder auf. Sie waren zwar benommen, aber noch lange nicht erledigt.

Am Rand von Marcos Blickfeld dräute eine Gestalt. Noch eine Leiche hatte sich unter den Lkw geduckt. Aber sie wirkte irgendwie anders. Geschmeidig und leichtfüßig. Sie hüpfte zwischen den niedergestreckten toten Männern umher. Dann beugte sie sich über Marco, und er zuckte zurück. Aber die Hände griffen nicht nach ihm. Stattdessen machten sie sich am Soldaten zu schaffen und zogen sich gleich wieder zurück – aber erst, nachdem sie ein weißes Nylonseil am Fußknöchel der Leiche befestigt hatten.

Und dann ein noch größerer Schock …

… eine Stimme, die nahe an Marcos Ohr ertönte.

»Halten Sie durch«, sagte sie. Ein knappes Kommando, das irgendwie eigenartig klang.

»Ich kann nicht …«, sagte Marco.

Zu spät. Der Schmerz in der Hand wurde unerträglich; er keuchte und verlor die Kontrolle. Der Daumen rutschte aus der Augenhöhle des toten Mannes, und die befreite Leiche schnappte nach seinem Hals …

… doch dann wurde sie zurückgerissen, und die Zähne bissen in die Luft. Marco sah, wie die Leine hinter der Leiche sich bis zum Rand seines Blickfelds straffte. Sie zog die Leiche mit sich. Der riesige tote Mann versuchte, dem Zug entgegenzuwirken, und schnappte nach Marcos Brust, Hüften und Beinen, ohne ihn zu erwischen. Doch im letzten Moment streckte er eine starke Hand aus und packte Marcos Stiefel.

Ach du Scheiße, dachte Marco und begab sich auf eine unfreiwillige Rutschpartie.

Zusammen wurden sie unter dem Lkw hervorgezogen, und Marco musste sich winden wie ein Aal, um einer brennenden Öllache auszuweichen, während er und die Leiche über die Straße schlitterten. Er durchlief ein Wechselbad aus Furcht, Erleichterung und Adrenalinstößen. Und Verwirrung. Mit den Augen folgte er dem Verlauf der Leine: In einer Entfernung von fünfzehn Metern schlang sie sich um einen Telegrafenmast, und – bei allen Teufeln der Hölle – da war ein Mensch, mehr Traumgestalt als real, ein schlanker kleiner Mann, der zum Lkw zurücklief. Er hatte sich das Seil um die Schulter geschlungen und zog mit diesem improvisierten Flaschenzug die große Leiche, die doppelt so schwer war wie er.

Schließlich befand der Mann sich wieder auf gleicher Höhe mit Marco. Er war ein Asiat, noch jung, Mitte dreißig. Bekleidet war er mit einer Militäruniform, die um die Schultern und am Oberkörper mit Blut getränkt war. Er nickte Marco zu, doch es lag nichts Freundliches in der Geste; sein Blick war hart und ernst. Er hatte ein automatisches Gewehr umgehängt.

Marco wollte einen Gedanken aussprechen – benutze doch die Waffe! –, doch bevor er ihn zu äußern vermochte, heulte die Leiche auf und schlug nach dem vorbeigehenden Mann. Dabei ließ sie Marco los. Doch der Mann sprang leichtfüßig über die um sich schlagende Leiche hinweg, ging weiter die Straße entlang und zog die Leine nach.

Marco rollte sich zweimal herum und blieb dann keuchend und mit aufgeschürften Schultern auf dem Bauch liegen. Die Leiche wurde weiter weggezerrt, wobei sie wie ein Fisch auf dem Trockenen zappelte und der Straßenbelag ihr verwestes Fleisch wie eine Käsereibe abschürfte. Dann prallte sie gegen den Telegrafenmast, um den das Seil gewickelt war, und an dem lauten Knacken hörte Marco sogar aus der Ferne, dass das Knie des toten Mannes ausgerenkt worden war – das Bein hatte sich am Mast eingehakt, und die Zehen wurden gegen den Oberschenkel gepresst. Die verstümmelte, brennende Leiche wand sich mit lautem Brüllen.

Marco starrte fasziniert dorthin. Dann packte eine Hand seine Schulter.

»Aufstehen«, sagte der Asiat, der nun wieder neben ihm stand. »Da kommen noch mehr.«

Die vier bewusstlosen Leichen waren wieder zu sich gekommen und krochen unter dem Lkw hervor.

»Ich – ich sehe sie«, stotterte Marco. Seine Kehle war heiser von der Grippe, dem giftigen Qualm und dem Würgegriff, in dem die Leiche des Soldaten ihn gehalten hatte. Mühsam kam er wieder auf die Füße.

»Nein«, sagte der Mann. »Nicht die.« Er schlug Marco zweimal fest auf den Rücken und deutete auf das Eisenbahndepot mit der silbernen Kuppel. »Die.«

Dutzende verdreckter Leichen strömten durch die Türen des Bahnhofs und schwärmten über den Parkplatz aus.

»Ach«, sagte Marco. »Die.«

5.5

Wu war nicht sonderlich beeindruckt von Henry Marco – jedenfalls nicht von dem Henry Marco, der halb betäubt hier vor dem Bahnhof von Maricopa stand. Er war nur noch ein Schatten des Mannes, den Wu auf Fotos gesehen hatte. Das nachrichtendienstliche Dossier des MSS hatte auch persönliche Daten beinhaltet, die im defekten Hauptrechner des St. Joseph Medical Center gehackt worden waren. Die Farbfotos, die vor der Auferstehung aufgenommen worden waren, zeigten Doktor Henry Marco als einen stattlichen und gepflegten Mann in einem weißen Arztkittel. Sein Blick war klar und intelligent, und er hatte nur aus Höflichkeit ein verhaltenes Lächeln für die Kamera aufgesetzt. Er hatte einen fitten Eindruck gemacht: ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. »Gerissen«, hatte im Dossier gestanden, »lernfähig« und mit einem »starken Überlebensinstinkt«.

Davon merkte Wu im Moment allerdings nichts.

Dieser Henry Marco war selbst kaum noch mehr als eine Leiche. Sein Gesicht war mit Blut und Asche verschmiert. Öliger Schweiß lief ihm die Stirn hinunter und zog Furchen durch die Asche, bevor er auf die hohlen Wangen tropfte. Die Rippen stachen an den Seiten hervor. Sein Blick war müde, unfokussiert, und er vermochte sich kaum auf den Beinen zu halten. Dieser Henry Marco war schwach. Er wäre gestorben, wenn Wu ihm nicht geholfen hätte.

Wu runzelte die Stirn. Entweder hatte das MSS sich geirrt, oder der jahrelange Aufenthalt in dieser harten Umgebung hatte Marcos Gesundheit ruiniert, ihn all seiner Kraft und Vitalität beraubt, sodass er nun völlig am Ende war.

Von welchem Nutzen sollte dieser Mann wohl noch für die Mission sein?

Er spielte kurz mit dem Gedanken, dem Amerikaner an Ort und Stelle eine Kugel in den Kopf zu schießen, den Auftrag allein auszuführen und den knochigen Kadaver des Doktors hier liegen zu lassen, damit die Toten ihn abnagen konnten. Doch die Vorstellung, dass die ganzen Anstrengungen umsonst gewesen sein sollten, missfiel ihm – die wochenlange Reise nach Arizona, die großen Risiken, die er eingegangen war, um die AAE-Abteilung auszuschalten und Marco hier in Maricopa mit dem brennenden Lkw abzufangen.

Und, was noch wichtiger war, das MSS hatte ihm eindeutige Befehle erteilt. Bringen Sie Doktor Henry Marco ins Gefängniskrankenhaus Sarsgard – lebendig und mit Gewalt, falls notwendig. Wenn das Primärziel – Roger Ballard – nicht wie angenommen in Sarsgard war, dann wäre vielleicht Marcos Wissen über Ballard entscheidend. Wenn er sich des Doktors schon hier entledigte, früher als geplant, wäre das schwerer Ungehorsam und eine gefährliche Dummheit noch dazu. Falls die Mission aus irgendeinem Grund scheiterte und das MSS davon erfuhr, dass Wu die Anweisungen missachtet hatte …

Er erinnerte sich an Agenten, die er in Peking kennengelernt hatte und die wegen Verrats deaktiviert und verurteilt worden waren. Wie sie auf bloßen Knien auf dem Betonfußboden gekniet hatten. Mit Pistolen, die auf ihren Hinterkopf gerichtet waren.

»Gehen wir«, schrie er Marco frustriert an.

Die Leichen vom Bahnhof hatten den gegenüberliegenden Gehweg erreicht. Es war ein stinkender Mob aus Männern in Hemden mit gestärkten Kragen und Frauen in verkrusteten Blusen. Ein blau uniformierter Fahrkartenverkäufer, dem der Unterkiefer fehlte, drängte sich durch die Menge. Die herunterbaumelnde Zunge krümmte sich wie ein dicker Wurm.

Marco blinzelte wie jemand, der aus einer Trance erwachte. »Mein Jeep«, sagte er im Befehlston. Mit diesem autoritären Auftreten hatte Wu nun gar nicht gerechnet, und als Marco sich umdrehte und loslief, zögerte Wu einen Sekundenbruchteil und nahm eine Neubewertung vor. Also … Vielleicht war das doch der Henry Marco, der im Dossier beschrieben wurde. Wu runzelte die Stirn; er war sich nicht sicher, ob er sich über diese Erkenntnis freuen sollte. Dann bückte er sich, hob den Rucksack auf, den er auf der Straße abgelegt hatte, und rannte dem Amerikaner hinterher.

Der orangefarbene Allrad-Jeep stand an der nächsten Ecke, halb auf dem Gehweg. Mit dem Stoßfänger hatte er einen schwarzen Mülleimer eingedrückt. Der Motor lief noch. Ohne zu zögern, setzte Marco sich auf den Fahrersitz und streckte den Arm aus, um die Beifahrertür zu öffnen; Wu hechtete just in dem Moment, als die Leichen den Jeep erreichten, in den Wagen. Der tote Ticketverkäufer schlug auf die Motorhaube, und seine Zunge schlackerte dabei.

Marco packte das Lenkrad und ließ es mit einem Zischen wieder los. »Scheiße«, sagte er und krümmte die Hände. Die Handflächen waren verbrannt und blutig und sahen klebrig aus. »Das tut weh.«

»Ich kann auch fahren«, sagte Wu. Sein Ton war sachlich, nicht etwa mitfühlend.

»Nein«, sagte Marco. »Sie sind der Bordschütze.«

Wu runzelte verständnislos die Stirn. Bordschütze?

»Beifahrer«, sagte Marco, und Wu ärgerte sich darüber, dass der Amerikaner seine Gedanken so leicht gelesen hatte. Aber jetzt war nicht die Zeit, sein verletztes Ego zu pflegen, denn die Leichen umringten den Jeep und drückten von beiden Seiten dagegen, sodass er hin und her schaukelte. Das Fenster auf der Beifahrerseite stand ein paar Zentimeter offen, und nun schoben sich graue Finger durch den Spalt.

»Fahren Sie schon los«, sagte Wu ungehalten. »Sonst kommen sie noch rein.«

Marco quittierte die Aufforderung mit einem heftigen Tritt aufs Gaspedal, und der Motor des Jeeps heulte auf, bis die Reifen schließlich auf dem Asphalt griffen. Mit einem Ruck sprang der Wagen von der Bordsteinkante, schleuderte ein paar Leichen zur Seite und überrollte ein paar andere; der Fahrkartenverkäufer verschwand unter dem Fahrzeug, und Wu hörte das laute Knacken von Knochen, als der Jeep Fahrt aufnahm. Er löste sich mühelos aus der Menge und fuhr schlingernd die Straße entlang, während Marco das Lenkrad mit den verletzten Händen zu halten versuchte. Wu betrachtete ihn neugierig. Der Amerikaner schaute mit schmerzverzerrtem Gesicht stur geradeaus.

Plötzlich ertönte ein Donnerhall, ein Blitz zuckte über sein Gesicht, und der Jeep wurde durchgeschüttelt.

Der Tank des umgestürzten Lkw war explodiert – ein dunkelroter Feuerball stieg wie ein Pilz vom Chassis auf und fegte über die Straße. Die Leichen in unmittelbarer Nähe verschwanden sofort in der Wolke; andere wurden durch die starke Druckwelle vornübergeschleudert. Und im nächsten Moment hatte das Feuer sich auch schon wieder aufgezehrt und spie Leichen aus, die wie lebendige Fackeln hinter dem Jeep herwankten.

»Scheiße!«, schrie Marco.

Er riss am Lenkrad, und der Jeep raste im Zickzack zwischen brennenden Leichen und Körperteilen hindurch, als ob er einen Slalom-Parcours absolvierte. Wu prallte zweimal gegen die Beifahrertür; er verzog das Gesicht, sagte aber nichts. An der nächsten Kreuzung hatten sie schließlich freie Bahn und fuhren in westlicher Richtung eine Nebenstraße entlang, an einem einsturzgefährdeten hölzernen Wasserturm vorbei. Wu beobachtete das hinter ihnen liegende Eisenbahndepot im Außenspiegel und sah den Widerschein der Flammen auf dem Metalldach; auf der Straße standen unglückliche Leichen wie in flammende Gewänder gehüllt. Eine nach der anderen fiel zu Boden und regte sich nicht mehr. Asche zu Asche.

Wu entbot ihnen einen stummen Abschiedsgruß.

Bisher war sein Plan aufgegangen, stellte er erleichtert fest. Noch vor zwanzig Stunden war er auf dem Bergpfad gewandert und hatte an seinem Ausguck über die Wüste von Arizona gestanden, beflügelt durch die Ausschaltung des amerikanischen Special-Forces-Teams. Ein paar Meter hinter ihm hatte der gelähmte schwarze Soldat wie am Spieß geschrien, während die Leiche der alten Frau ihm das Gesicht zerbiss. Wu konzentrierte sich und verdrängte die Schreie. Das umgehängte Gewehr war ihm eine schwere Bürde – genauso wie sein Gewissen. Mit einer einzigen Kugel hätte Wu dem Leiden des Mannes ein Ende bereiten können, doch die Auferstehung musste im Blutkreislauf durch den ganzen Körper transportiert werden – und dafür war eben ein schlagendes Herz erforderlich. Ein schneller Tod wäre kontraproduktiv gewesen. Also wartete Wu geduldig und bereitete sich im Geiste auf den nächsten Zug vor.

Um die Amerikaner zu besiegen, hatte er Gewalt anwenden müssen.

Bei Henry Marco musste er jedoch subtiler vorgehen.

Wu hielt inne und nahm eine plötzliche Stille in der Bergluft wahr. Der Soldat war verstummt – tot –, und nun waren nur noch die Schmatzgeräusche der alten Frau zu hören. Wenn der Körper des Mannes nicht völlig verzehrt worden war, würde er in einem Zeitraum von ein paar Minuten bis zu ein paar Stunden auferstehen; diese Zeitspanne war durch unterschiedliche individuelle Merkmale bedingt, vielleicht durch die Blutgruppe, das Immunsystem oder den Stoffwechsel. Die Wissenschaftler hatten dieses Geheimnis bisher noch nicht gelüftet.

Eines wusste man jedoch: Die Toten vermehrten sich durch die Lebenden. Die alte Leiche war zu Lebzeiten vielleicht eine Mutter gewesen, vielleicht sogar eine Großmutter. Nach der Auferstehung würde die Frau wieder eine Mutter sein – auf eine pervertierte Weise.

Genau darauf basierte Wus Plan.

Er stieß die gebrechliche Frau mit dem Fuß an, sodass sie die Böschung hinunterrollte und wimmernd in einem Saguaro-Busch liegen blieb. Den Soldaten wegzuschleppen war schon schwieriger. Der Mann war riesig und fast doppelt so schwer wie Wu. Er packte den Mann am Fußknöchel und zerrte daran; die Leiche schlitterte ungefähr einen Meter über den Pfad. Wenigstens ging es bergab.

Er hatte den Mann schon ein Dutzend Meter weit geschleift, als er sich bewusst wurde, dass sein Plan noch eine Lücke aufwies. Idiot. Er verzog das Gesicht und sah zum Lager zurück.

Er musste noch einmal zurückgehen.

Vorsichtig erklomm er den Hang und streckte den Kopf über die flachen Felsen. Das Lager war ein einziges Schlachthaus: Blut, Innereien und schimmernde Fett- und Fleischbrocken waren über das rötliche Gestein des Bergs verteilt. Etwa zehn Leichen hockten um die toten Amerikaner herum – Nelson, Guerrero, Pozzo, so hatten sie geheißen –, doch zu Wus Glück lag der geköpfte graubärtige Sergeant unbeachtet an der Seite. Wu kroch aufs Plateau und schmiegte sich an die Felswand. Die Leichen schauten nicht auf. Sie genossen ihr Festmahl und waren damit beschäftigt, Knochen zu knacken, Bänder zu durchtrennen und Körpersäfte zu schlürfen. Wu hielt den Atem an. Ganz vorsichtig rollte er die Leiche des Sergeants zum Rand des Plateaus und ließ ihn hinunterfallen. Die Leichen schienen das nicht zu hören.

Unten auf dem Pfad ging Wu hastig zu Werke. Er zog sich die blutverschmierte Uniform des Sergeants an und achtete zugleich auf die kleinste Zuckung des leblosen Körpers des schwarzen Soldaten.

Was sollte er tun, falls der große Mann plötzlich mit einem Knurren aufsprang …?

Aber das Glück war ihm hold. Nach drei Stunden hatte er den Soldaten schließlich sicher auf dem Beifahrersitz des amerikanischen Siebentonners angeschnallt. Kurz darauf erwachte der Mann zu neuem Leben; das eine noch übrige Auge öffnete sich plötzlich mit hungrigem und wildem Blick, und die mächtigen Muskeln stemmten sich – vergeblich – gegen den Sicherheitsgurt. Der verstümmelte Körper war von der Hüfte abwärts bewegungsunfähig, und die Hände waren mit einem Seil gefesselt.

Mit der gefangenen Leiche fuhr Wu zu der Adresse, die er mit der GPS-App ausfindig gemacht hatte. Zu Henry Marcos Haus. Von einer versteckten Zufahrt weiter die Straße hinauf hatte er es ausgespäht. Das weitläufige Anwesen war einmal prächtig und stolz gewesen – das Heim eines reichen Amerikaners, hatte Wu voller Abscheu gedacht. Doch nun war der ganze Glanz verblasst, und der Palazzo ähnelte eher einem Schrottplatz, der von einem hohen Wall aus Abfall und Altmetall umgeben wurde. Wu wartete bis Sonnenuntergang. Dann verbrachte er eine schlaflose Nacht im Lkw. Der tote Soldat grunzte und zischte neben ihm in der Dunkelheit, und das Führerhaus des Lkw wurde von dem ekelhaften Gestank nach Fleisch und Fäulnisgasen erfüllt, der sich auch nicht verzog, nachdem er die Fenster geöffnet hatte.

»Es tut mir leid«, sagte Wu zu der Leiche – Baines, so war der Name gewesen. Das Schuldgefühl hämmerte wie ein zweites Herz in Wus Brust. »Ich wollte Sie nicht entehren.«

Die Leiche Baines knurrte und klapperte mit den Zähnen.

»Aber es muss sein«, erklärte Wu ihr. Bao Zhi würde das nicht gutheißen, sagte er sich. Bao Zhi, sein Onkel. Wu rieb sich die blutunterlaufenen Augen, um sie zu beleben.

»Vielen Dank«, sagte er zu Baines, und dann sagte er den Rest der Nacht gar nichts mehr.

Am nächsten Morgen schreckte er hoch, als Marco das Haus verließ. In sicheren Abstand folgte Wu dem amerikanischen Arzt nach Maricopa. Doch als Marcos Jeep wider Erwarten am Bahnhof vorbeifuhr, ohne anzuhalten, wurde Wu blass und glaubte schon, seine Chance wäre vertan. Er überlegte hektisch, und dann goss er Feuerzeugbenzin über den Vordersitz des Lkw und entzündete es …

… befreite Baines mit einem schnellen Messerschnitt von den Fesseln …

… richtete den Lkw auf den Bahnhof aus und sprang hinaus.

Der Lkw stürzte um, ging in Flammen auf, und Marco eilte zu Hilfe. Allerdings war die Aktion viel dramatischer ausgefallen, als Wu beabsichtigt hatte; seine spontane Brandstiftung hatte den Amerikaner in Gefahr gebracht. Was als Manöver gedacht war, um an den hippokratischen Eid des Arztes zu appellieren, wäre beinahe ein tödlicher Fehler geworden, als er unter den Lkw kroch.

Doch Wu hatte den Fehler korrigiert. Die beiden Männer reisten nun zusammen.

Da jetzt keine Leichen mehr zu sehen waren, fuhr der Jeep wieder langsamer die Straße entlang, die parallel zu den Bahngleisen verlief. Marco stieß ein hohles Pfeifen aus und entspannte den Kiefer. Dann klemmte er das Lenkrad zwischen den Knien ein und öffnete die Hände. »Dieser Mistkerl – das schmerzt wie die Hölle.«

Wu inspizierte den Jeep. Der Boden und die Sitze waren mit Vorräten und Ausrüstungsgegenständen übersät. Er trat eine Taschenlampe beiseite, die gegen seinen Knöchel gerollt war, und räumte ein paar zerknitterte Landkarten weg.

»Gibt’s einen Verbandskasten in diesem Durcheinander?«, fragte er missbilligend.

Marco warf ihm einen Blick zu. »Ja, da muss irgendwo einer sein. Auch eine Waffe.«

»Irgendwo«, sagte Wu spöttisch. »Wunderbar. Vielleicht sitze ich gerade darauf.«

Marco warf einen Blick in den Rückspiegel und trat auf die Bremse. Der Jeep hielt an; sie waren nun einen halben Kilometer von ihrem Ausgangspunkt entfernt. Marco schaltete in die Parkposition und drehte sich auf dem Sitz zu Wu um.

»Dann sind Sie wohl meine militärische Eskorte?«

Wu erwiderte den Blick des Amerikaners, und seine Augen wurden dabei immer härter. »Ja. Die bin ich.«

Gen wo zou, dachte Wu. Mir folgen!

5.6

Marco sah den Soldaten, der neben ihm im Jeep saß, mit einem ironischen Grinsen an. »Dann sind Sie also die Armee«, konstatierte er. »Ich hatte eigentlich mit einer ganzen Kompanie gerechnet.«

»Seien Sie froh, dass ich überhaupt da war«, antwortete der Mann trocken. »Sonst wären Sie jetzt nämlich schon tot.«

»Stimmt – andererseits wäre ich jetzt auch schon nach Kalifornien unterwegs, wenn Sie nicht aufgekreuzt wären und mit Ihrem beschissenen Lkw einen Unfall gebaut hätten.«

Der Mann sah Marco finster und mit angespanntem Kiefer an, sagte aber nichts.

»Was ist überhaupt passiert?«, wollte Marco wissen.

»Wir wurden angegriffen.«

»Aha. Und darauf waren Sie nicht vorbereitet? Ihr seid mir ja eine tolle Truppe.«

Die Augen des Soldaten verengten sich über den hohen Wangenknochen. Seine grünen Augen standen in einem seltsamen Kontrast zu den asiatischen Gesichtszügen. Marco hatte eine solche Kombination noch nie gesehen.

»Hören Sie zu«, sagte der Mann schroff. »Mein Team ist tot, weil es den Befehl hatte, Ihnen zu helfen.« Seine Aussprache war akzentfrei, und einen Dialekt vermochte man auch nicht herauszuhören. »Sie verdienen Ihren Respekt.«

Marco lief rot an. Er wusste, dass er sich wie ein Arschloch benahm, und es gab auch keinen triftigen Grund dafür außer seiner Verachtung für Direktor Owen Osbourne. Der Verachtung für diesen ganzen verdammten Job. Aber es war nicht fair, das an dem Soldaten auszulassen – und schon gar nicht, nachdem der Mann gerade sein Leben für ihn riskiert hatte.

»In Ordnung«, sagte Marco und stieß die Luft aus. »Sie haben recht … tut mir leid. Und wegen Ihres, äh, Teams tut es mir auch leid.« Er verstummte und suchte nach passenden Worten. »Danke, dass Sie mir den Arsch gerettet haben«, fügte er dann noch hinzu.

Der Soldat musterte ihn und lehnte sich dann scheinbar zufriedengestellt auf dem Sitz zurück. »Danken Sie nicht mir. Danken Sie lieber dem DHS. Wir wollten Sie eigentlich gar nicht dabeihaben.«

»Das habe ich doch schon einmal irgendwo gehört«, sagte Marco sarkastisch und betrachtete die staubige braune Uniform des Soldaten. Schulterpartie und Brustbereich waren mit Blut verkrustet.

Der Soldat deutete den Blick richtig. »Das ist nicht mein Blut«, sagte er. »Sondern das Blut von Baines – Ihrem Sparringspartner aus dem Lkw.«

»Was ist überhaupt passiert?«, fragte Marco erneut.

Der Soldat zuckte die Achseln. »Wir waren oben in Lost Dutchman, um Ihr Haus zu beobachten. Heute Morgen bei Sonnenaufgang wurde unser Lager aus dem Hinterhalt von einem Rudel Zombies überfallen. Von Leichen. Baines und Pozzo hatten gerade Wache. Sie weckten uns zwar noch, aber es war zu spät. Ich hörte einen Aufruhr, setzte mich auf und sah eine Leiche durch die Zeltöffnung kriechen. Ich habe ihr die Zeltplane über den Kopf geworfen und bin durch die Rückseite entkommen.«

Er schluckte. »Baines lag draußen auf der Erde und wurde angefressen. Pozzo war schon zerrissen. Es waren zwanzig, dreißig Leichen. Ich habe mir die Gewehre geschnappt und bin zu Baines gerannt, habe eine Leiche von ihm heruntergetreten und ihn wieder auf die Füße gestellt. Guerrero, mein Schütze, kam dann auch angelaufen und feuerte wie wild um sich – ein Wunder, dass er mich nicht erschossen hat. Und dann fielen sie auch über ihn her, und er ging schreiend zu Boden, ohne dass ich etwas hätte tun können. War vollauf damit beschäftigt, Baines auf den Beinen zu halten. Sonst habe ich niemanden gesehen, aber Nelsons Zelt wackelte, und er schrie auch …« Der Soldat verstummte, als ob ganz persönliche Gedanken ihn bewegten.

»Aber Sie haben Baines rausgeholt«, sagte Marco.

Der Mann nickte bedächtig. »Ja. Ich habe ihn den Pfad runtergeschleppt. Zum Glück sind die Toten uns nicht gefolgt. Sie hatten wohl genug. Ich habe Baines dann zum Lkw gebracht. Er hat stark geblutet, aber ich glaubte …« Er massierte sich den Nacken. »Ich weiß nicht, was ich geglaubt habe.«

»Er hätte es sowieso nicht geschafft«, sagte Marco, um ihn aufzumuntern. »Nicht, nachdem er gebissen wurde.«

»Das weiß ich«, sagte der Soldat. »Aber ich konnte ihn auch nicht zurücklassen.«

»Also sind Sie mit ihm hierhergefahren.«

»Ich wollte mich doch hier mit Ihnen treffen. Baines war aber auferstanden, bevor ich überhaupt wusste, dass er schon tot war. Ich habe nicht nachgedacht. Ich hätte ihn auf die Ladefläche legen sollen, aber stattdessen hatte ich ihn auf den Beifahrersitz gesetzt, damit ich mit ihm sprechen konnte und er nach Möglichkeit nicht das Bewusstsein verlor. Wir waren schon kurz vor der Stadt, als er plötzlich nach mir geschnappt hat und mich beißen wollte. Ich konnte ihn mir kaum vom Leib halten. Baines war ein ziemlicher Brocken.«

»Ist mir auch schon aufgefallen.«

»Ich habe die Pistole gezogen«, fuhr der Soldat mit monotoner Stimme fort. »Und dann hat er mir gegen die Hand geschlagen, und die Kugel ging ins Armaturenbrett. Muss den Motorblock durchschlagen und das Öl entzündet haben. Ehe ich michs versah, stand der Lkw in Flammen, und die riesige Leiche fiel über mich her. Ich konnte noch ein- oder zweimal auf die Bremse treten, und dann habe ich die Tür aufgerissen. Bin rückwärts rausgefallen und hätte mir beim Abrollen auf der Straße fast das Rückgrat gebrochen. Der Lkw ist noch ein Stück weitergefahren und schließlich umgestürzt. Und dann sind Sie auf der Bildfläche erschienen.«

Marco musterte ihn perplex. Während er die Geschichte vom Verlust seines Teams erzählte, hatte er eigentümlich unbeteiligt gewirkt. Vielleicht war er ein harter Hund, der seine Emotionen unter Kontrolle hatte – oder vielleicht verspürte er auch gar keine Trauer, die er verbergen konnte. Vielmehr hatte er eine Aura kalter Funktionalität wie ein Entscheider, der sich ausschließlich vom Verstand leiten ließ. Er war klein und leichter als ein durchschnittlicher AAE-Soldat – das genaue Gegenteil von Baines –, aber sein Blick war fest und furchtlos. Intelligent. In der Stille glaubte Marco, eine Rechenmaschine hinter diesen grünen Augen rattern zu hören.

Und dann wurde Marco sich bewusst, dass der Soldat ihn ebenfalls taxierte.

Er verspürte einen Schauder – eine Ahnung, dass der Mann mit irgendetwas hinter dem Berg hielt.

Ist doch klar. Natürlich verschweigt er mir irgendetwas. Weiß Gott, wie seine genauen Befehle aussehen oder was Osbourne ihm über mich erzählt hat. Über Roger.

Sei also auf der Hut, ermahnte Marco sich. Warte lieber noch etwas, bevor du ein kameradschaftliches Verhältnis zu ihm entwickelst. Er zuckte fast zurück, als der Soldat die blutverschmierte und schmutzige rechte Hand ausstreckte.

»Ken Wu«, sagte der Mann. »Sergeant First Class, AAE

Auf der verdreckten Uniform des Mannes war gerade noch ein militärisches Rangabzeichen erkennbar. Drei goldene Winkel und darunter zwei Bogen.

Marco nickte und schüttelte die ausgestreckte Hand. »Henry Marco meldet sich zur Stelle«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln. »Aber das wussten Sie wohl schon, nicht wahr?«

Der Soldat – Wu – erwiderte das Lächeln nicht. »Ich bin schließlich gebrieft worden.«

»Ja, sicher. Ich hoffe nur, dass Ihr Briefing informativer war als meins.«

Wu runzelte die Stirn. »Soll heißen?«

»Soll heißen, was zum Teufel tun wir hier überhaupt?«

»Mir wurde gesagt, dass Sie über das Ziel in Kenntnis gesetzt wurden.«

»Ziel?«, echauffierte Marco sich. »Ja, Roger Ballard – der übrigens ein Freund von mir war. Aber ich bin sicher, der Direktor hat Ihnen auch das gesagt.«

»Dass Sie und das Ziel Kollegen waren – ja.«

»Hören Sie endlich auf, ihn so zu nennen.«

»Ballard.«

»Ja, Ballard.« Marco seufzte. »Wir haben im Krankenhaus gearbeitet.«

Diese Bemerkung schien Wus Interesse zu wecken. »Und wie haben …«

»Scheiße«, sagte Marco. Im Rückspiegel hatte er eine Bewegung gesehen.

Sieben oder acht Leichen waren ihnen vom Bahnhof gefolgt und tauchten nun hinter ihnen auf. Sie kamen zielstrebig auf den Jeep zu. Ein toter Mann in einem Business-Anzug führte den Haufen an; Qualm waberte aus seinem Jackett. Den einen Fuß schleifte er hinterher – der Knöchel war gebrochen.

»Wir müssen verschwinden«, sagte Marco.

Wu drehte sich auf dem Sitz um. »Einverstanden.«

»Na toll«, sagte Marco sarkastisch. »Was würde ich nur ohne Ihr Einverständnis machen.« Er legte einen Gang ein, und der Jeep setzte sich in Bewegung.

Wu saß für einen Moment schweigend da. »Dies ist eine Militäroperation, Doktor«, sagte er schließlich, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Vergessen Sie das nicht.«

Marco holte tief Luft, und seine Stirn glühte, als läge er noch immer unter dem brennenden Lkw. Scheißkerl. Er hatte jetzt schon ein komisches Gefühl bei der ganzen Sache. In den letzten vier Jahren hatte er jede Entscheidung selbst getroffen; es gab niemanden, den er um Erlaubnis hatte bitten müssen. Und jetzt das – Wu, Osbourne und die beschissene Regierung der Vereinigten Staaten machten ihm Vorschriften und verlangten von ihm, dass er seinen Arsch nach Kalifornien bewegte.

Allein war ich besser dran, sagte er sich verärgert. Doch dann stahl sich noch ein anderer Gedanke in sein Bewusstsein.

Verhalten, beinahe traurig:

Hey, Kumpel – du willst doch wieder ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden, falls sie dich überhaupt wieder zurücklassen?

Oder bist du schon zu lange »allein« hier draußen gewesen?

Der Gedanke ernüchterte ihn.

»Alles klar«, sagte er schließlich und schluckte den Ärger hinunter. Der Jeep fuhr weiter in westlicher Richtung die Straße entlang. Sie hatten die aufgehende Sonne im Rücken. Zur Linken rasten die Bahngleise vorbei, die durch einen Maschendrahtzaun abgegrenzt wurden. Dann machte Marco einen Block weiter einen Bahnübergang aus. »Kalifornien, wir kommen.«

Dorthin zurück, wo alles begonnen hat, dachte er.

»Ich habe ein GPS …«, sagte Wu.

»Das brauche ich nicht«, sagte Marco und steuerte den Jeep durch eine Lücke im Zaun. Das Fahrzeug schlitterte über ein schmales Kiesbett, wurde zweimal heftig durchgeschüttelt – wobei beide Männer vom Sitz geschleudert wurden und die Vorräte durch die Luft flogen – und setzte dann hart auf dem nach Westen führenden Bahndamm auf.

Marco schaute Wu mit einem diabolischen Grinsen an. »Ich kenne den Weg.«

Aber frag mich bloß nicht, ob ich auch den Weg zurück finde.