Eindringlinge

7.1

Der Nachthimmel in der Wüste erschien Marco immer irgendwie unwirklich. Die Sterne wirkten übertrieben, so groß und hell, und die Schwärze war so intensiv, als wären Milliarden Kilometer Weltraum irgendwie auf die Breite des Horizonts verdichtet worden. Spürst du das auch?, hatte Danielle ihn einmal gefragt, als sie auf dem Balkon lagen und eine Sommernacht genossen. Ihre Stimme war leise und ehrfürchtig gewesen; diesen Tonfall hatte er oft scherzhaft als »New-Age-Staunen« bezeichnet.

Das Universum berührt die Erde, hatte sie gesagt.

Und in jener Nacht machte Marco sich nicht über sie lustig; er spürte es insgeheim selbst, das eigentümliche Gefühl, dass der Himmel unglaublich nah war. Als müsste man nur die Hand ausstrecken, um die Sterne zu berühren, oder als könnte man mit einem Schritt zum Rand der Wüste gehen und in den Kosmos springen. Das war ein ganz anderes Gefühl als in LA, wo das permanente Glühen der Lichter der Stadt die Sterne überstrahlte und das Universum ausblendete.

Hier draußen in der unbesiedelten Wüste verlor man die Menschen und gewann die Sterne zurück. Vor langer Zeit, vor der Auferstehung, hatte Marco das für eine gute Sache gehalten.

Doch nun …

Nun wären ein paar Menschen mehr vielleicht doch ganz schön.

Der Zug fuhr schnaufend durch die Nacht und fraß sich Kilometer für Kilometer durch die Wüste Südkaliforniens. Marco wandte den Blick vom Fenster ab. Er hatte die ganze Zeit steif und verkrampft auf dem Boden der Lokomotive gesessen. Er zog die Beine an die Brust und legte den Kopf auf die Knie, dann setzte er sich wieder auf. Er war so erschöpft, dass der Schlaf sich nicht so schnell einstellen wollte. Wenigstens hatte er eine ordentliche Mahlzeit gehabt, bevor er sich hinlegte. Karottensuppe aus der Dose. Kalt und breiig, aber immer noch besser als zum x-ten Mal dieses Trockenfleisch. Er und Wu hatten die Vorräte problemlos aus der Küche geholt; Marco hatte beim ersten Vorstoß in die Küche ganze Arbeit mit der AK-47 geleistet, sodass die Leichen, die sie noch sahen, als reglose Haufen auf dem Boden lagen. Nur um sicherzugehen, hatte er die verrostete Tür an der Rückseite des Speisewagens geschlossen; der Riegel war mit einem lauten beruhigenden Quietschen eingeschnappt. Falls sich jetzt noch jemand in den hinteren Waggons versteckte, würde er auch dortbleiben.

In der Lokomotive war Wu der Herr des Führertischs. Er hatte das Licht gedimmt und hob sich in der nächtlichen Dunkelheit wie eine Verlängerung der Bedienelemente als Silhouette gegen das Fenster ab. Seine Hand schien förmlich mit dem Fahrschalter zu verschmelzen. Falls der Sergeant müde war, ließ er sich nichts anmerken. Er saß unverrückbar und aufrecht auf dem Hocker, als wäre er damit verschraubt, das Kinn energisch nach vorn geschoben. Er hatte sein blutverschmiertes Uniformhemd ausgezogen. Darunter trug er ein weißes Tanktop, das die Statur eines austrainierten Kampfsportlers enthüllte – schlank und muskulös. Die Schultern wurden von blassen langen, schmalen Narben verunstaltet; sie erinnerten an Striemen von Peitschenhieben. Marco hatte davor zurückgescheut, ihn zu fragen, wie er sich diese Narben zugezogen hatte.

Kurz nach Sonnenuntergang hatte Wu den Zug auf Schleichfahrt verlangsamt. »Es wäre nicht ratsam, mitten in der Nacht in Los Angeles County einzutreffen«, hatte er ihm erklärt. »Wir lassen uns Zeit und verringern das Tempo. Bei dieser Geschwindigkeit werden wir nach der Morgendämmerung dort ankommen.«

Also konnten die beiden Männer sich fürs Erste entspannen. Sich zurücklehnen und ein Nickerchen machen.

Das habe ich auch bitter nötig. Marco schloss die Augen. Sein Körper schwankte, und die Schultern gaben unter dem schweren Kopf nach, als die Lokomotive ihn sanft wie eine Mutter in den Schlaf wiegte. Er und Wu hatten vereinbart, abwechselnd zu schlafen. Jeder zwei Stunden. Während der eine schlummerte, passte der andere auf und achtete auf das Warnsystem des Zugs – den »Totmann-Schalter«, wie Wu ihn nannte. Ein Sicherheitsmechanismus, der den Zug stoppte, wenn der Lokführer länger als fünfundzwanzig Sekunden nicht reagierte. In der Dunkelheit hörte Marco ein leises Klingeln und ein Klick, als Wu die Sicherheitsfahrschaltung aktivierte. Unter ihm rollten die Räder des Zugs in einem monotonen Takt über die Schienen – wie in einem endlosen Heavy-Metal-Wiegenlied.

Kalifornien, sagte er sich im Halbschlaf. Dort war er einmal sehr glücklich gewesen. Er und Danielle in Kalifornien. Bevor alles den Bach runtergegangen war.

Ob alles vielleicht anders gekommen wäre?, fragte er sich. Wenn wir geblieben wären?

Wenn wir geblieben wären. Seine Gedanken sprangen im Rhythmus der Schienenstöße.

Wenn wir geblieben wären. Wenn wir geblieben wären.

Aber sie waren nicht geblieben. Sie waren nach Arizona geflohen, weil sie sich dort eine bessere Zukunft erhofften. Und er gehörte nicht mehr hierher, hierher nach Kalifornien. Er war ein Eindringling, der nachts durch ein offenes Fenster einstieg. Sein Herz schlug laut hinter den Rippen, als würde es Alarm auslösen.

Den ersten Herzschmerz hatte er direkt hinter Yuma verspürt, gleich auf der anderen Seite des Colorado River. Der Zug hatte Arizona schließlich verlassen und wurde an der Grenze von üppigen Eukalyptusbäumen begrüßt, die die kalifornischen Schienen säumten. Zuletzt war er vor drei Jahren in diese Richtung gereist – im Sommer nach der Auferstehung –, bevor er in diesen ganzen Mist verstrickt worden war, vor dem ersten Auftrag, bevor er der … wie hatte Osbourne ihn noch genannt? Der »Zombie-Killer« geworden war.

Er war nur ein verängstigter Mann gewesen, nicht mehr, der die ganze Westküste nach Danielle abgesucht hatte.

Das war vielleicht ein Sommer gewesen. Den ganzen Spätwinter und das Frühjahr hatte er sich im Haus in Arizona verschanzt, die Barrikade hochgezogen und die Hoffnung gehegt, dass sie dorthin zurückkehren würde. Sie war aber nicht zurückgekehrt. Dafür fielen ihm bei seinen »Einkaufstouren« in die Stadt gewisse Dinge auf. Leichen in blauen Westen schlurften durch Walmart … tote Männer in blutgetränkten Sporttrikots, die sich in Sportbars versammelten … halb verweste junge Mütter, die auf Spielplatzbänken herumhingen und mit leeren Augen leere Schaukeln beobachteten. Aber mit einer ausgesprochenen Erwartungshaltung. Er spürte fast körperlich, dass sie auf irgendetwas warteten, und schöpfte einen Verdacht, der sich immer mehr erhärtete: dass ihre Bewegungen alles andere als zufällig waren. Dass diese geistlosen Mechanismen aus totem Fleisch und Knochen vielleicht doch nicht so geistlos waren.

Vielleicht waren sie … nostalgisch? Sehnsüchtig? So verrückt das auch schien …

Schließlich holte er in einer schwülen Julinacht seine Landkarten hervor.

Die Checkliste war sehr umfangreich – vier mit Schreibmaschine beschriebene Seiten, eine Aufzählung von abendlichen Verabredungen, an die er sich erinnerte, mit Theatern und Szene-Cafés, Yoga-Ashrams, Bioläden und Disneyland, öffentlichen Parks und dem Ritz-Carlton sowie Parkplätzen der Filmstudios, wo sie ihre Filme gedreht hatte. Und dann belud er voller Hoffnung den Jeep und fuhr gen Westen.

Er arbeitete die Liste von oben ab und fing bei Tech Town an, wo sie sich zum ersten Mal begegnet waren.

Doch es war keine Danielle dort – nur der junge stellvertretende Geschäftsführer, tot und hungrig. Er kam hinter dem Rückgabeschalter hervorgekrochen, wobei ihm senffarbener Eiter aus den aufgeplatzten Lippen quoll. Enttäuscht stopfte Marco sich die Taschen mit Batterien voll und verschwand wieder.

Insgesamt legte er Hunderte Kilometer zurück. Folgte Hunderten Erinnerungen. Doch jede erwies sich schließlich als nichtig, nur ein weiterer bedeutungsloser Ort in einer bedeutungslosen Welt. Und doch fing er, nachdem er das Ende der Liste erreicht hatte, wieder von vorn an. Er musste einfach sichergehen.

Die Suche in Kalifornien hatte ein Vierteljahr gedauert.

Hier im Zug ertönte wieder das leise Klingeln, gefolgt von dem ebenso leisen Klick.

Marco ließ den Kopf hängen.

Als er in den Schlaf abglitt, sah er sich im Jeep sitzen, mit dem er von dieser letzten Kalifornienreise nach Arizona zurückkehrte – glücklos, verwirrt, sich nach Danielle verzehrend. Im Radio kam nichts außer lautem statischem Rauschen, doch er wollte es nicht ausschalten und schrie gegen den Krach an. Er bat sie um Entschuldigung, während er zwei Tage lang betrunken in Schlangenlinien über für immer leere Highways kurvte, um sich selbst umzubringen. Er flehte sie an, nach Hause zu kommen, mit ihm im Tod vereint zu sein.

Zuhause. Arizona. Sie waren ein Jahr vor der Auferstehung dorthin gezogen. Ein Jahr, nachdem …

Er wollte schier verzagen. Er brachte es nicht über sich, den Gedanken zu Ende zu denken, nicht einmal im Traum. Kalifornien wird mir zu viel, hatte er ihr gesagt; er wollte es unverfänglich formulieren und es ihr möglichst schonend beibringen. Im St.-Joseph-Krankenhaus in Phoenix war eine Stelle frei geworden – eine fantastische Gelegenheit für ihn. Für sie. Er hatte geglaubt, dass dann alles besser würde und dass Danielle auch wieder glücklich wäre. Dass sie sich dann nicht mehr laufend streiten würden. Doch er hatte sich geirrt, was das betraf …

Ihre Stimme, ihre betörende Altstimme, ertönte in der dunklen Lokomotive, traumartig, ein Vogel der Nacht, der sich auf seine Schulter setzte. Mit scharfen Klauen, die schmerzhaft einschnitten.

Du wusstest ganz genau, dass ich nicht hierherkommen wollte, sagte sie.

Schwachsinn, antwortete er. Das war sein Text im Drehbuch, das immer das gleiche war. Du hast gesagt

Ich bin nur wegen dir umgezogen, Henry. Ich habe meine Karriere für dich aufgegeben

Mein Gott! Damit stellst du die Fakten auf den Kopf. Du hast doch gar keine Engagements mehr bekommen

Ach wirklich? Du Arschloch

Du hast gesagt, dass du in der Nähe deiner Schwester sein willst

Du weißt ganz genau, was ich wollte. Du suchst mal wieder nur nach Ausflüchten, Henry.

Schwachsinn, das stimmt doch gar nicht

Du hast gesagt, dass wir es noch einmal versuchen sollten

Ich weiß, was ich gesagt habe

Ich wollte

Ich habe nie versprochen

Plötzlich ertönte eine laute Männerstimme. Ich kann Hannah retten, sagte sie bestimmt.

Marco wachte abrupt auf. Das klamme Hemd klebte auf der Haut, und er zitterte. In der Lokomotive war es unangenehm kalt geworden, während er schlief. Sie war in der Wüstennacht ausgekühlt, und der Boden war so hart wie Beton. Er blinzelte, rieb sich die Hände und beruhigte seinen schnellen Herzschlag mit tiefen Atemzügen, die die Lunge bis zum Bersten mit Luft füllten. Er war dankbar für die kühle Luft – er war sofort wach und sperrte den bösen Albtraum in dem Käfig im Unterbewusstsein ein, wo er hingehörte. Bis zum nächsten Schlaf würde er ihn nicht mehr verfolgen. Doch obwohl die Geräusche und Bilder verblassten, der Puls sich verlangsamte und der Atem wieder gleichmäßig ging, zitterte er noch immer am ganzen Körper.

Er konnte Danielles Worte nicht vergessen, die ihn wie Pfeile getroffen hatten. Bruchstücke der Streitereien, die ihm nun wie Splitter unter der Haut steckten.

Und die letzte Stimme in seinem Traum, die Männerstimme.

Es war die Stimme von Roger Ballard gewesen.

Marco schluckte. Schon komisch, dass sich in seinem Bewusstsein im Traum Roger mit Danielle verbündet hatte – sie hatten in einem Krieg der Worte gemeinsam Front gegen ihn gemacht.

Ich kann Hannah retten.

Hast du aber nicht, dachte Marco. Du hast es verbockt. Wir beide haben es verbockt.

Er spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. Diese Reise nach Kalifornien setzte ihm immer mehr zu. Und wieder hatte er das Gefühl, frontal auf irgendetwas zuzurasen … aber auf was?

Auf irgendetwas Furchtbares.

»Sie sind ja schon wach.«

Wus Stimme dröhnte in Marcos Ohren. Er hatte fast vergessen, dass der Sergeant auch noch da war, verschluckt von den Schatten weiter vorne.

Lieber Gott, bitte sage mir, dass ich nicht im Schlaf gesprochen habe.

»Ja«, antwortete er. »Ich bin fit wie ein Turnschuh. Wollen Sie jetzt eine Runde schlafen?«

»Nein.«

»Kommen Sie schon, ich wiege Sie auch in den Schlaf. Und ich singe Ihnen ein Schlaflied.«

Wu trat ins trübe Licht. Sein Gesicht wurde von Sorgenfalten durchzogen.

Marco setzte sich besorgt auf. »Was ist denn los?«

Wu deutete in die mitternächtliche Welt hinter dem Fenster.

»Wir werden verfolgt«, sagte er.

7.2

Marco stand der Mund offen. Er war wie gelähmt durch Wus Mitteilung. Verfolgt? Eine Weile verharrte das Wort an der Peripherie seines Bewusstseins – es klang zwar dramatisch, hatte aber keinen konkreten Kontext – und brach sich dann mit voller Wucht Bahn ins Gehirn.

»Von wem?«, fragte er.

»Ich weiß nicht«, antwortete Wu. »Die Verfolger haben sich mir noch nicht vorgestellt.«

Marco war jetzt hellwach. Beim Aufstehen kippte er beinahe um; er hatte durch die stundenlange unbequeme Position auf dem Boden einen Krampf in den Beinen. Er stützte sich an der Wand ab, humpelte zum Fenster und presste die Handfläche gegen das kalte Glas.

Der Nachthimmel präsentierte sich nach wie vor in seiner ganzen Intensität. Die Schwärze wurde vom hellen Licht der Sterne durchdrungen. Das Gelände war unerwartet klar zu erkennen. Das Land war mit silbernen Eisenholzbäumen und Wüstensträuchern bewachsen. Die Schienen wurden auf einer Länge von hundert Metern vom Scheinwerfer der Lokomotive angestrahlt; und der Vollmond schien so hell, dass man den Eindruck hatte, das Licht eines entgegenkommenden Zuges zu sehen. Nur die fernen Berge entzogen sich einer deutlichen Betrachtung – felsige Grate erhoben sich am Rand der Wüste wie ein Publikum in einem dunklen Amphitheater, das auf die nächste Vorführung wartete.

Marco ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Bei der unangenehmen Vorstellung, von irgendeiner unsichtbaren Gestalt beobachtet zu werden, bekam er eine Gänsehaut. Er beugte sich nach vorn, bis die Stirn das Fenster berührte, und versuchte, den Zug auf ganzer Länge zu überblicken. Er atmete so heftig, dass das Glas beschlug. Egal, er konnte sowieso nichts erkennen.

»Wo?«, fragte er ungeduldig.

»Direkt hinter uns. Im Rückspiegel.«

Er spähte in den großen Rückspiegel, der neben der Scheibe angeschraubt war. Dort war ein hellroter Lichtpunkt zu erkennen – das Ende des Zuges –, doch dahinter war nichts. Er sah nur sein verwaschenes, stirnrunzelndes Spiegelbild im Fenster.

»Ich sehe überhaupt nichts«, sagte er. Er wollte den Blick schon abwenden, als Wu die Lampen der Lokomotive ausschaltete und der Führerstand dunkel wurde; mit den Lichtreflexen verschwand auch Marcos Spiegelbild, sodass er plötzlich Schemen zu erkennen vermochte, wo zuvor keine gewesen waren. Und da war es – ein winziger, kohlschwarzer Fleck in einem grauen Meer aus Sand, etwa achthundert Meter hinter ihnen. Auf diese Entfernung hätte Marco es ohne Wus Hinweis überhaupt nicht wahrgenommen; auf den ersten Blick hätte es sich auch um einen Felsen oder eine Steppenhexe handeln können. Und es verging noch einmal eine Minute, bis er sich vergewissert hatte, dass es sich bewegte – mit der gleichen Geschwindigkeit wie der Zug. Es hielt sich immer am äußersten Rand des Blickfelds.

»Eine Art Geländefahrzeug mit Allradantrieb«, schlussfolgerte Wu. »Ein Quad. Er folgt uns schon seit einer Viertelstunde, vielleicht sogar noch länger. Ich habe ihn auch erst entdeckt, als der Sand heller wurde. Er hat einen Fehler gemacht – er hätte auf dem Bahndamm bleiben sollen. Dort hätte er eine bessere Deckung gehabt.«

»Aber wer ist das?«, fragte Marco noch einmal. »Ich meine, sind Sie sicher, dass es nicht Ihre Leute sind? Vielleicht hat Osbourne Verstärkung geschickt.«

Wu schüttelte den Kopf. »Wenn das jemand von der AAE wäre, dann hätte er längst aufgeschlossen und Kontakt mit uns aufgenommen. Diese Person verfolgt uns. Dilettantisch, aber ihre Absichten sind klar.«

»Ach ja? Und was sind ihre Absichten?«

»Sie will wissen, wohin wir fahren.«

Marco stieß entnervt die Luft aus. »Mein Gott, verschonen Sie mich doch mit diesen halb garen Antworten. Weshalb verfolgt man uns?«

Es trat eine Pause ein. Ohne die Innenbeleuchtung war Wus Gesicht eine geheimnisvolle Silhouette, doch Marco spürte, dass der Sergeant ihn mit Geringschätzung betrachtete.

»Also wirklich, Doktor«, sagte Wu schließlich. Sein Ton war nun nicht mehr besorgt, sondern mahnend. »Haben Sie etwa geglaubt, wir wären die Einzigen, die Roger Ballard jagen?«

Marco blinzelte. »Was …? Wovon sprechen Sie überhaupt? Wer sonst …«

»Andere politische Interessen. Regierungen.«

Marco trat einen Schritt vom Fenster zurück. »Ach du Scheiße«, sagte er. Die Erkenntnis traf ihn mit der Wucht einer Dampframme. Er stieß gegen den Hocker hinter sich und setzte sich darauf.

Na toll, Henry, sagte er sich und schüttelte den Kopf. Wo zum Teufel bist du da bloß hineingeraten? Andere Nationen – wie viele? – waren auch auf der Jagd nach Roger. Gottverdammter Hurensohn. Er war ein Idiot gewesen, dass er das nicht vorausgesehen hatte. »Nationale Sicherheit«, hatte Osbourne gesagt. Natürlich. Wenn das Heimatschutzministerium schon an diesem kranken Spiel beteiligt war, dann wären auch noch andere Spieler auf dem Feld. Andere Regierungen, die Roger auf der Agenda hatten. Marcos Gedanken überstürzten sich beim Versuch, die Folgen zu erfassen.

Das ist kein normaler Auftrag, wurde er sich bewusst. Das ist eine Art von Weltkrieg.

Aber wieso, um Gottes willen? Und was, wenn er nicht gewann?

»Wer mischt also noch mit?«, fragte er wieder. Die Besorgnis war aus seiner Stimme gewichen; es schwang nur noch Resignation mit. »Nordkorea? Der Iran? Chi…«

»Vielleicht auch alle drei«, unterbrach Wu ihn. »Oder noch ganz andere. Darauf kommt es aber auch nicht an. Sie wollen alle dasselbe.« Er schob sich an Marco vorbei und ging zum Führertisch. »Machen Sie mal Platz.«

»Natürlich. Ich wollte Ihnen nicht im Weg stehen«, sagte Marco missmutig. Er stand vom Hocker auf und ging zum zweiten Führertisch. Die Karottensuppendose, die er zum Abendessen geleert hatte, stand vor ihm auf dem Boden. Er trat kräftig dagegen und hörte zufrieden, wie sie scheppernd in der Dunkelheit verschwand und den Gang entlangrollte.

Ungerührt ergriff Wu den Fahrschalter und zog ihn eine Raststufe auf sich zu. Das Stöhnen der Motoren im Maschinenraum wurde lauter, und der Zug beschleunigte so schnell, dass Marco zurücktaumelte. Wu wartete zwanzig Sekunden und erhöhte die Geschwindigkeit noch einmal. Und nach zwei Minuten hatte er den Zug auf die atemberaubende Geschwindigkeit von über hundertvierzig Stundenkilometern beschleunigt. Er warf einen Blick in den Spiegel und nickte zufrieden.

»Alles klar«, sagte er. »Quads erreichen eine maximale Geschwindigkeit von knapp über hundert Stundenkilometern; die militärischen Versionen sind auch nicht schneller. Wir haben ihn abgehängt. Er wird sich selbst verfluchen.«

»Aber … ich meine … er wird doch jetzt nicht einfach aufgeben, oder?«, fragte Marco.

»Nein«, räumte Wu ein. »Er wird weiterhin unsere Spur verfolgen. Er weiß vermutlich auch, wer Sie sind, und dass Sie Ballard suchen. Ich bezweifle allerdings, dass er weiß, dass unser Ziel Sarsgard ist. Sonst müsste er uns nicht verfolgen – er wäre nämlich schon dort. Deshalb sind wir noch immer im Vorteil. Wir werden den Zug wie geplant in San Bernardino verlassen. Aber ich kann den Totmannwarner so manipulieren, dass die Lokomotive auch ohne uns weiterfährt. Er wird den Schienen folgen, ohne zu wissen, dass wir gar nicht mehr im Zug sind.« Wu schniefte. »Und dann wird er im Bahnhof von L. A. die Trümmer des Zuges finden und von einer Million Leichen in Empfang genommen werden.«

Marco schloss die überanstrengten Augen. Die Flut der Informationen wirbelte in seinem Kopf wie ein Tornado, und er versuchte verzweifelt, sie zu erhaschen und zu sortieren. »Gut – nur damit ich das auch richtig verstehe«, sagte er und schlug die Augen wieder auf. »Dieser Kerl ist ein Spion, stimmt’s?«

Wu warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Ja, ein Agent. Ich glaube schon.«

»Auf der gleichen Mission wie wir? Um Roger zu töten?«

»Ja.«

»Aber weshalb? Wieso will jeder, dass Rogers Leiche zurückgegeben wird?«

Wu legte den Kopf auf die Seite und runzelte die Stirn. Marco spürte förmlich, dass er sich eine Antwort zurechtlegte und nur noch nicht wusste, ob er ihm schon wieder eine Halbwahrheit oder diesmal doch eine glatte Lüge auftischen sollte. Dann schien der Sergeant schließlich eine Entscheidung zu treffen. »Das ist nicht alles, was sie wollen.«

»Soll heißen?«

»Soll heißen, dass die Tötung von Ballard nicht das Endziel ist.«

»Gott verdammt«, sagte Marco. Jetzt reichte es ihm. Er ging um den Führertisch herum, packte den Fahrschalter und zog, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Er hätte eigentlich erwartet, dass Wu ihm die Hand wegschlug. Stattdessen verengten die Augen des Soldaten sich – sein Blick drückte keine Überraschung aus, sondern Neugier. Er interessierte sich dafür, was Marco wohl als Nächstes tun würde. Marco sah ihm in die Augen und hielt seinem Blick stand.

»Ich habe jetzt genug von diesen schwammigen Antworten«, sagte Marco mit vor Zorn geröteten Wangen. »Sie erinnern sich noch an unsere Abmachung? Das Ehrenwort. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß, und jetzt sind Sie, Gott verdammt noch mal, an der Reihe. Oder soll ich den Zug anhalten, damit unser neuer Freund uns doch noch einholen kann? Vielleicht wäre er so freundlich, mir zu erklären, was hier vorgeht.«

Wu zog die Mundwinkel herunter. Im unbeleuchteten Führerstand war sein Gesicht nur schemenhaft und stilisiert zu erkennen: schwarze, bodenlose Löcher, wo vorhin seine grünen Augen gefunkelt hatten. Die beiden Männer hielten an der Konsole gleichsam die Stellung und taxierten sich. Sie standen reglos da, nur manchmal wurden sie vom Zug durchgeschüttelt. Dann durchbrach das leise Signal des Totmannwarners die Stille.

Ping.

Nach einer kurzen Pause ertönte das Geräusch wieder und dann noch einmal – ping ping ping. Wie die Glocke, die am Ende einer Runde im Ring die Boxer aufforderte, voneinander abzulassen.

Wus Hand tauchte aus der Dunkelheit auf, die seine Hüfte umgab. Der Mandarinenten-Haken schimmerte im roten Licht der Instrumentenbeleuchtung. Ungerührt stützte er die Klinge auf der Konsole ab – langsam, bedächtig und nur ein paar Zentimeter von Marcos ausgestreckter Hand entfernt.

»Lassen Sie den Fahrschalter los, Doktor«, sagte Wu.

Marco dachte gar nicht daran. »Oder was …?«

Wu sagte nichts.

Ping ping ping. Ein Dauerton. Nun mussten jeden Moment die automatischen Notbremsen eingreifen und die Lokomotive zum Stehen bringen.

Ping ping ping.

Mit einer ruhigen Bewegung legte Wu das Messer weg und drückte mit der nun leeren Hand auf den Totmannschalter. Das Warnsignal verstummte.

»Lassen Sie den Fahrschalter los«, sagte Wu, »und ich werde Ihnen wichtige Details über Roger Ballard berichten. Details, die Sie sicher noch nicht kennen.«

Marco stieß die Luft aus. »Dann sind Sie also gewillt, Ihr Ehrenwort einzuhalten?«, fragte er skeptisch.

»Natürlich«, antwortete Wu. »Das habe ich doch schon gesagt. Ehre bedeutet mir alles.«

Marco nickte, ließ den Fahrschalter los und lockerte die Finger.

»In Ordnung«, sagte er. »Reden Sie. Weshalb hat die ganze Welt es auf Roger abgesehen?«

7.3

»Haben Sie jemals wieder etwas von Doktor Ballard gehört, nachdem Sie nach Arizona gezogen sind?«, fragte Wu. Er saß auf dem Hocker und sah in den Rückspiegel.

»Äh, nein«, sagte Marco zurückhaltend. »Das … Wir hatten beide kein Interesse daran, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Nachdem ich L.A. verlassen hatte, habe ich einen Schlussstrich gezogen. Ich habe dann jeden Kontakt zu ihm abgebrochen.« Er lehnte sich gegen die kalte Wand, stieß ein müdes Grunzen aus und rutschte auf den Boden hinunter. Dann schlug er die Beine übereinander und schaute zu Wu auf wie ein Kind, das darauf wartet, dass man ihm eine Geschichte vorliest.

»Dann wissen Sie also nicht, dass Ballard seine Stellung gekündigt hat. Vier Monate, nachdem Sie gegangen sind.« Wu teilte ihm diese Neuigkeit mit, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden.

»Roger … hat gekündigt?«

»Aus heiterem Himmel. Er hat seine Kündigung am Morgen des 28. September 2013 eingereicht. Zehn Minuten später war er schon weg. Spazierte durch die Lobby des Krankenhauses zur Vordertür hinaus und ward nicht mehr gesehen. Seine akademischen Urkunden hat er im Büro an der Wand hängen lassen.« Wu sagte das im Tonfall einer militärischen Lagebesprechung. Ebenso sachlich wie leidenschaftslos.

Roger hat gekündigt, dachte Marco verwundert. Er musste das erst noch verdauen. Und er verspürte den Anflug eines Schuldgefühls. Das hätte er eigentlich wissen müssen – er hätte nicht so kompromisslos alle Brücken zu ihm abbrechen dürfen. Offensichtlich hatten die damaligen Ereignisse Roger sehr zugesetzt.

Aber die Wahrheit war eben, dass Marco damals einen Scheiß darauf gegeben hatte.

Und vielleicht – aber wirklich nur vielleicht – hatte er Roger leiden sehen wollen.

»Und weshalb?«, fragte er Wu.

»Ohne Angabe von Gründen. Er hatte nur mitgeteilt, dass er gehen würde. Und er hat auch nicht nur das Krankenhaus verlassen.« Ping. Wu wandte sich vom Fenster ab und betätigte den Totmannwarner. »Ballard ist verschwunden.«

Marco zuckte unwillkürlich zusammen. »Ich verstehe nicht.«

»Ich meine, Doktor, dass er auch seine Wohnung aufgegeben hat. Kleidung, Möbel, persönliche Gegenstände – alles hat er zurückgelassen. Der Sicherheitsdienst des Krankenhauses hat auch seinen verlassenen blauen BMW in der Parkgarage entdeckt. Er war an dem Morgen noch mit dem Auto zum Krankenhaus gefahren, ist dann aber offensichtlich auf eine andere Art und Weise verschwunden. Nicht einmal seine Bankkonten hat er aufgelöst. Hat keinen einzigen Cent abgehoben. Die Verwaltung hat dann eine Vermisstenanzeige aufgegeben, weil, wie Sie wissen, Ballard keine näheren Verwandten hatte, die sich darum hätten kümmern können. Seltsamerweise wurden aber keine Ermittlungen durchgeführt, weder von der Polizei von Los Angeles County noch von der Bundespolizei.«

»Mein Gott …« Marco verstummte. »Wo ist er also abgeblieben?«

»Seit dem 28. September 2013 ist er verschollen.«

»Und doch habe ich irgendwie das Gefühl, dass Owen Osbourne Bescheid wusste«, sagte Marco. Er wollte Wu einmal auf den Zahn fühlen.

Wu nickte. Sein ernster Gesichtsausdruck war jedoch nicht sehr ermutigend. »Ganz recht, Doktor. Ja – Ballard war unter höchster Geheimhaltung vom Heimatschutzministerium angeworben worden. Osbourne hat seinen Abgang organisiert und ihm eine neue Identität beschafft.«

»Na toll«, sagte Marco empört. »Dann sollen wir also etwas, das Osbourne verbockt hat, wieder hinbiegen. Er kackt uns einen Haufen vor die Tür, und wir sollen die Schweinerei beseitigen?«

Wu nahm Marcos Ausbruch ungerührt zur Kenntnis und drehte sich wieder zum Fenster um. »Es ist eine noch viel größere Schweinerei, als Sie glauben, Doktor«, erwiderte er schließlich bedächtig. »Osbourne hat aber selbst daran mitgewirkt, sie zu beseitigen. Womit wir zu dem Grund kommen, weshalb wir überhaupt hier sind.«

Marco schauderte. Eine viel größere Schweinerei. Die Verbindung zwischen Roger und Osbourne beunruhigte ihn; wie auch das Gefühl, dass er im selben Spinnennetz gefangen war – dass der schicksalhafte Faden, der zwischen Marco und Roger geknüpft war, ihn auch mit Osbourne verband, wodurch sie alle zusammen in einer Art Teufelskreis steckten. Und irgendwo, außerhalb seines Vorstellungsvermögens, lauerte die Spinne – der alles überwölbende Grund, die Logik, aus der das Netz gesponnen wurde.

Und plötzlich hatte er eine Vermutung.

Mein Gott, Roger.

Bei allen Teufeln der Hölle.

»Sagen Sie mir, weshalb«, sagte er mit heiserer Stimme. »Weshalb Roger angeworben wurde.«

Wu legte die Hände auf die Knie. »Sie scheinen es doch schon zu wissen, Doktor.«

»Die Auferstehung.«

»Ja«, bestätigte Wu. »Die Auferstehung.«

Marco rieb sich verwirrt die Augen. Seine Finger froren in der Nachtluft, und die geschwollenen Äderchen juckten unter seinen Lidern.

»Osbourne brauchte einen Experten für neurologische Forschung«, fuhr Wu fort. »Weil Ballard der beste in dieser Disziplin war, wählte Osbourne ihn aus, um die Auferstehung einzudämmen.«

Marco blinzelte, während seine Augen sich wieder an das trübe Licht gewöhnten. »Eindämmen? Im Sinne von stoppen‹?«

Wu nickte. »So war es beabsichtigt. Vor dem Ausbruch.«

»Einen Moment – noch mal von vorne«, sagte Marco. Er wollte das Problem von Grund auf verstehen. »Woher wusste Osbourne schon vor dem Ausbruch von der Auferstehung?«

Ping. Das Signal des Totmannwarners ertönte, und Wu hieb mit der flachen Hand auf den Schalter. Die Unterbrechung seines Vortrags schien ihn irgendwie aus dem Konzept zu bringen. »Sommer 2013«, sagte er unwirsch. »Bundesagenten im Dienst des Heimatschutzministeriums hatten Kenntnis davon erlangt, dass bei den Insassen eines Hochsicherheits-Gefängniskrankenhauses eine unbekannte Enzephalopathie mit alarmierenden Symptomen grassierte – und ja, Doktor, um Ihrer Frage zuvorzukommen, es war das Gefängniskrankenhaus Sarsgard, unser momentanes Ziel. Die Ärzte in Sarsgard hatten so etwas noch nie gesehen. Ein Totalausfall der Nervenfunktionen, gefolgt von Nekrose und dem Ausfall von Herz, Lunge und anderen lebenswichtigen Organen. Und trotz allem blieb der Patient scheinbar am Leben. Natürlich wurde bald festgestellt …«

»Dass sie doch tot waren«, unterbrach Marco ihn. »Aber sie sind trotzdem in der Gegend herumspaziert und haben Leute aufgefressen. Das können Sie sich schenken – ich weiß schon Bescheid. Machen Sie lieber mit dem Kapitel Osbourne und Roger‹ weiter.«

Wu wirkte pikiert. »Immer der Reihe nach, Doktor. Zu dem Zeitpunkt, als diese Berichte erstellt wurden, waren eine Reihe internationaler Terroristen in Sarsgard inhaftiert – drei Mitglieder der Islamischen Dschihad-Gruppe, ein Soldat der libanesischen Asbat al-Ansar sowie ein hochrangiges Mitglied der japanischen Aum-Sekte. Wie Sie sich erinnern, wurden damals in Amerika die Sicherheitsmaßnahmen gegen den Terrorismus verstärkt. Die Sorge – die Befürchtung – war, dass einer der inhaftierten Terroristen Träger einer biologischen Waffe war. Möglicherweise eines Designer-Virus oder -Bakteriums.«

»Also wollte Osbourne, dass Roger sich dort einmal umschaute.«

»Osbourne ging davon aus, dass Sarsgard erst der Anfang war – der Auftakt zu einem bevorstehenden, groß angelegten Terrorangriff mit Biowaffen. Eine ultimative Waffe, die gegen Amerika gerichtet war, ohne dass man vorhersagen konnte, wo oder wann es geschehen würde, oder wer den Angriff ausführen würde. Osbourne musste für diesen Fall also einen Impfstoff oder, noch besser, ein Heilmittel bereithalten. Und in der Zwischenzeit waren die Vorgänge in Sarsgard ein streng gehütetes Geheimnis.«

Marco senkte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durchs strubbelige Haar. Als er die Hand wieder wegnahm, klebten an seinen Fingern Schmutz, Schweiß und eingedicktes Blut von den Leichen, die er am Vortag zur Strecke gebracht hatte. Angewidert wischte er sich die Hand an seiner Flanellhose ab und stand unter Schmerzen auf.

»In Ordnung«, sagte er. »Roger ist verschwunden, nachdem ich nach Arizona gegangen bin. Und was heißt das? Er hat sich ein halbes Jahr hier versteckt und herauszufinden versucht, wie zum Teufel die Auferstehung funktioniert. Offensichtlich ohne Erfolg. Er konnte das Problem nicht lösen – was, wie ich Roger kenne, ihm ganz schön zu schaffen gemacht haben muss. Millionen Menschen durch ein Rätsel getötet, das er nicht zu lösen vermochte. Und das ihn schließlich selbst umgebracht hat.«

»Er stand kurz vor der Lösung, als er starb. Aus diesem Grund braucht Osbourne seine Leiche.«

»Und genau das verstehe ich nicht.«

»Bald werden Sie es verstehen, Doktor.« Wus Finger schwebte in Erwartung des nächsten Alarmsignals über dem Totmannschalter. »Die Wahrheit ist …«, sagte er, und der Totmannwarner schwieg und schien gespannt seine nächsten Worte abzuwarten. Wu schüttelte bedächtig den Kopf.

»Roger Ballards Leiche ist nicht wie alle anderen Leichen auf Erden.«

7.4

Marco spürte, wie sich eine tiefe Falte in seine Stirn grub. Er war verwirrt und brauchte weitere Informationen. Wu tat ihm den Gefallen.

»Ich werde es Ihnen erklären«, sagte er, bevor Marco noch eine entsprechende Frage formulieren konnte. Seine Stimme klang wieder offiziell und sachlich. »Während des ersten Rettungsversuchs in Sarsgard vor vier Jahren wurde Ballards Labor von seinen toten Patienten gestürmt. Seine Forschungsunterlagen wurden vernichtet. Alles, womit Osbourne seine Forschungen dokumentieren konnte, waren ein paar unzusammenhängende Berichte, die Ballard noch vor dem Ausbruch erstellt hatte. Osbourne hat dann in den Sicheren Staaten ein Team von Wissenschaftlern damit beauftragt, einen Impfstoff zu entwickeln. Jedoch ohne Erfolg.«

Marco wusste nicht, worauf Wu hinauswollte. »Roger kann so leicht niemand das Wasser reichen«, sagte er.

»Osbourne würde Ihnen da sicher beipflichten. Er hatte die Hoffnung fast schon aufgegeben. Doch vor zwei Monaten hat das Blatt sich plötzlich gewendet.« Wu hielt inne, als ob in ihm auch eine Veränderung vorging. »Vor zwei Monaten hat der Heimatschutz eine Manipulation des geschützten Hauptrechners seiner Datenbank entdeckt. Irgendjemand ist in den Computer eingedrungen und hat sich Zugang zu Roger Ballards Personaldatei verschafft. Zum Glück hatte die CIA dem Hacker, während er noch zugange war, einen unsichtbaren String-Code untergejubelt. Eine Art Spyware, mit der sie unbemerkt die weiteren Aktivitäten des Hackers verfolgen konnten.«

»Na schön … und dann?«

»Innerhalb von zweiundsiebzig Stunden ist der Hacker in mehrere weitere Behördenrechner eingedrungen, einschließlich der privaten Dateien der amerikanischen Gefängnisverwaltung für Sarsgard. Für die CIA war der Fall klar – es handelte sich um Spionage. Irgendeine fremde Macht suchte nach Informationen. Sie wollte alles über die Auferstehung und Osbournes Fortschritt bei seinen Bemühungen, einen Impfstoff zu entwickeln, herausfinden.«

Marco war auch nicht schlauer als zuvor. »Und sie suchen nun nach Roger … weil?«

Wu sah ihn seltsam an. »Bevor ich das beantworte, Doktor, sollte ich vielleicht noch erwähnen, dass der Hacker außer dem Eindringen in die Behördenrechner auch noch dabei ertappt wurde, wie er E-Mail-Accounts knackte. Ein Dutzend oder so. Accounts, die ehemaligen Mitarbeitern von Roger Ballard gehörten. Vermutlich suchte der Hacker nach Informationen, die Ballard möglicherweise an Dritte weitergegeben hatte.«

Marco bekam eine Gänsehaut. Wu musterte ihn mit so einem komischen Blick …

Wu fuhr mit einem vielsagenden Unterton fort. »Ziel eines solchen Einbruchs war zum Beispiel der Mailserver für ein bestimmtes Krankenhaus in Arizona. St. Joseph.«

Ach du Scheiße. Marco schwirrte der Kopf.

»Und dort«, sagte Wu, »machte man unter den Augen der CIA eine geradezu unglaubliche Entdeckung.«

Heilige Scheiße. Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein.

Wu nickte. »Ja, Doktor. Sie haben es wohl schon geahnt.«

Marco stöhnte. »Roger hat mir eine E-Mail geschickt?«

»Sie sind verständlicherweise überrascht. Osbourne war auch überrascht, gelinde ausgedrückt.«

»Aber – wann soll das denn gewesen sein? Ich habe nie …«

»Sie haben die E-Mail nie erhalten, Doktor, weil Sie das Krankenhaus nämlich schon verlassen hatten. Ballards für Sie bestimmte E-Mail wurde am Tag nach dem Rettungsversuch in Sarsgard abgeschickt, mehr als eine Woche nach dem großen Ausbruch der Auferstehung. Sie waren zu dem Zeitpunkt schon verschwunden – hatten sich zweifellos irgendwo versteckt und ums Überleben gekämpft. Die Gesellschaft löste sich auf, und das Land stürzte ins Chaos. Ballards E-Mail ist ganz einfach auf einem stillgelegten, vergessenen Server verschollen. Wie ein Artefakt einer untergegangenen Zivilisation.«

Marco rieb sich das Gesicht – seine Hand fühlte sich wie ein kaltes, hartes Gewicht auf der Wange an. Roger hatte versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen? Wozu? Eine Entschuldigung? Ein Lebewohl?

»Was stand denn drin?«, fragte Marco. Er musste es natürlich wissen, aber er fürchtete sich vor der Antwort. Sein Magen verkrampfte sich, und er kämpfte die Angst nieder, die in ihm aufstieg.

»Wie ich schon sagte, sind Ballards Forschungsergebnisse bezüglich der Auferstehung vernichtet worden, als sein Büro gestürmt wurde«, sagte Wu. »Jedoch ist das nicht die ganze Wahrheit. Er hatte Ihnen eine Teilzusammenfassung geschickt, Doktor.«

Marco blinzelte. »Mir?« Einen Moment lang hielt er verwundert inne. »Wieso mir?«

»Eine interessante Frage. Die Theorie der CIA lautet, dass Doktor Ballard Sie für vertrauenswürdig hielt. Von Owen Osbourne hatte er anscheinend keine so hohe Meinung.«

»Das kann man ihm auch kaum verdenken«, sagte Marco spöttisch. »Aber trotzdem …« Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, als wäre er in eiskaltes schwarzes Wasser getaucht und aller Logik und Vernunft beraubt worden. Mein Gott, Roger, wieso? Warum hast du das getan, nach dem ganzen Mist, den du mir schon eingebrockt hattest? Wieso ausgerechnet ich? Hättest du mich nicht einfach da rauslassen können – ich will mit deinem Scheiß nichts zu tun haben, du irres Arschloch

Und dann schaltete sein Verstand sich doch wieder ein, und er vermochte wieder klar zu denken.

»Na gut«, hörte er sich sagen. Seine Stimme war seltsam monoton. »Also die Eine-Million-Dollar-Frage: Worauf ist Roger bei seinen Forschungen gestoßen, damit Osbourne eine Jagd quer durch Amerika veranstaltet, um seine Leiche zu töten?«

Wu beugte sich unmerklich auf dem Hocker nach vorn. »Ballards E-Mail war zu entnehmen, dass er kurz vor der Entdeckung des Impfstoffes gestanden hatte. Es hätte wirklich nicht mehr viel gefehlt. Er war schon viel weiter, als Osbourne sich vorgestellt hatte. Sind Sie in der DNA-Impfung bewandert, Doktor?«

Marco rutschte auf dem Hocker herum und runzelte die Stirn. »Ein wenig. Das ist eine experimentelle Methode zur Entwicklung eines Impfstoffes. Das Konzept besteht darin, einem gesunden Menschen Blutzellen zu entnehmen und dann ein Virus oder Bakterium direkt in den Nukleus zu injizieren. In die DNA. Nachdem die Zellen sich geteilt haben, wiederholt man den Vorgang – bis zu ein paar Hundert Mal. Es sind sehr viele Mitosen erforderlich. Und wenn alles nach Plan läuft, entsteht vielleicht ein neues Nukleotid für weiße Blutzellen, das speziell adaptiert ist, um die Krankheit zu bekämpfen. Als ob man maßgeschneiderte Antikörper in Auftrag geben würde. Das setzt aber das Gelingen der vorbereitenden Maßnahmen voraus. Allerdings hat bisher noch niemand diese Abläufe perfektioniert.« Er hielt inne. »Natürlich werden Sie mir jetzt erzählen, dass Roger es geschafft hätte. Typisch Roger.«

Wu nickte. »Ja, er war dicht dran. Und was glauben Sie, werde ich Ihnen sonst noch erzählen?«

»Dass die verdammten Blutkörperchen, die Roger für dieses Experiment verwendete, seine eigenen waren.«

»Sie kennen Ihren Freund wirklich gut.«

Das konnte Marco nicht so stehen lassen. »Was den Freund‹ betrifft, bin ich mir nicht so sicher. Aber ich weiß, dass Roger ein gottverdammter Idiot sein konnte. Er wäre jedes Risiko für die Wissenschaft eingegangen«, sagte er mit Bitterkeit in der Stimme.

Wu schien das nicht zu bemerken. »Ballard hat in der E-Mail, die er Ihnen schickte, diesen Prozess detailliert beschrieben. Über einen Zeitraum von siebzehn Wochen hatte er Blutproben von sich genommen und die Auferstehung unter einem Mikroskop in die Zellkerne eingepflanzt. Dann hatte er sich die Zellen wieder selbst injiziert und darauf spekuliert, dass sie sich teilen und vermehren würden. Er hatte gehofft, mit seinem Körper als Nährboden genetisch verändertes Blut zu erzeugen. Sein Ziel bestand darin, den ganzen Körper auf die neue DNA umzustellen.«

»Ja, das klingt ganz nach Roger«, sagte Marco. »Und hat es funktioniert?«

»Nicht ganz. Es war zu wenig, um als Impfstoff verwendet zu werden. Aber nach unzähligen Injektionszyklen hat Ballard berichtet, dass die Infektionen deutlich langsamer abliefen, wenn sein Blut in einer Petrischale mit Leichenblut vermischt wurde. Er glaubte, dass er kurz vor dem Durchbruch stand. Noch ein oder zwei Monate, und er hätte wahrscheinlich die richtigen Antikörper erzeugt. Er hatte einfach nicht mehr genug Zeit.«

»Beim Rettungsversuch. Er wurde gebissen.«

Wu nickte wieder. Er schien etwas sagen zu wollen, doch dann drehte er sich auf dem Hocker um und griff unter sich in den Schatten. Er zog seinen Rucksack unter der Konsole hervor und öffnete den Reißverschluss einer Seitentasche. Dann holte er ein kleines Bündel Papiere heraus – zwei oder drei Blätter, die fein säuberlich gefaltet waren, und reichte sie Marco. Die Lokomotive schwankte unter Marcos Füßen. Er holte tief Luft, entfaltete die Papiere und überflog die erste Seite. Er musste die Augen anstrengen, um den Text im Mondlicht lesen zu können.

Über den Inhalt wunderte er sich allerdings nicht. Es war eine E-Mail:

Von: R. Ballard

An: Henry Marco

Datum: 13. März 2014, 10:36 Uhr

Henry, das ist wichtig. Wie du bereits weißt, hat ein Ausbruch stattgefunden.

Marco hielt inne. Er war ziemlich verärgert. Typisch Roger, dachte er. Kein »Hallo« oder »Wie geht es dir«. Und er wäre im Leben nicht auf die Idee gekommen, sich zu entschuldigen. Gleich zur Sache, ohne dieses ganze zwischenmenschliche Gedöns.

Knurrend schob er das Kinn vor und überflog die übrigen Seiten. Tatsächlich, die Fakten waren alle enthalten – oder zumindest eine Zusammenfassung all dessen, was Wu ihm gesagt hatte. Die Experimente, die DNA, die Antikörper … Aber nicht genug Details, um den Prozess zu rekonstruieren. Osbourne musste verdammt wütend gewesen sein.

Das letzte Blatt endete mit ein paar kurzen, nüchternen Zeilen:

Die Bisswunde ist sehr tief. Die Auferstehung ist zu stark für die vorhandenen Antikörper. Mein Körper versagt den Dienst. Ich werde eine Leiche. Pass gut auf meine Notizen auf, Henry. – Roger

Marco seufzte und faltete die Papiere wieder zusammen. »Dann wusste er also, dass er sterben würde.«

»Und er wollte Ihnen sein Wissen vermachen«, fügte Wu hinzu. »Bevor er auferstanden ist. Das Problem ist nur, dass wir mehr brauchen als eine hastig verfasste E-Mail.«

Marco schauderte. Sein Ärger war verflogen, und er fror in seinem feuchten Hemd. Er wollte sich Rogers letzte Momente gar nicht erst vorstellen: Wie sein schmales Gesicht sich blau verfärbte und die dürren Gliedmaßen qualvoll zuckten … und wie er Marco einen letzten wahnsinnigen Wunsch hinterließ.

»Dann ist Rogers Blut also inkubiert«, sagte er mit zitternder Stimme. Und dann ergab plötzlich alles einen Sinn, als hätten die Papiere in seiner Hand ein Fenster in der Dunkelheit geöffnet, wie ein Röntgenbild, auf dem jeder einzelne Knochen abgebildet wurde. »Roger ist das fehlende Bindeglied zum Impfstoff«, fuhr er fort. Er war sich seiner Sache sicher, sah die Dinge ganz klar und forderte Wu beinahe heraus, ihm zu widersprechen. »Doch zuerst braucht Osbourne Rogers DNA. Deshalb hat er uns losgeschickt, um etwas Ballard-Superblut für seine Jungs im Labor aufzutreiben.«

»Nun haben Sie es begriffen«, sagte Wu.

»Und unser neuer Freund, der Verfolger auf dem Quad. Er ist hinter derselben Sache her?«

»Ja«, bestätigte Wu und wurde daran erinnert, einen Blick in den Rückspiegel zu werfen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass kein Grund zur Sorge bestand, konzentrierte er sich wieder auf Marco. »Osbourne wusste, dass, wer auch immer Ballards E-Mail gehackt hatte, versuchen würde, ebenfalls eine Probe zu ergattern. Deshalb hat er Ihnen aufgetragen – oder sollte ich sagen, uns –, Ballards Leiche zu finden, bevor jemand anders sie findet. Es ist ein Wettlauf.«

»Mit Rogers Kopf an der Ziellinie.«

»Ganz genau, Doktor. Und die gute Nachricht ist, Sie liegen noch immer in Führung.«

»Ja. Schön. Trotzdem gefällt mir das nicht.« Marco biss sich auf die Lippe. »Und was soll überhaupt der Kampf um den Impfstoff? Was spielt es denn für eine Rolle, wer ihn zuerst bekommt?«

Wu hob eine Augenbraue. »Überlegen Sie doch mal, Doktor. Ein Impfstoff gegen die Auferstehung würde eine starke Verschiebung der globalen Machtverhältnisse bewirken. Bislang ist nur Amerika in die Knie gegangen. Trotzdem versuchen die Regierungen auf der ganzen Welt hektisch, sich gegen einen Ausbruch bei sich zu Hause zu wappnen. Die Nation, die in den Besitz des Geheimnisses gelangt, wie man die Auferstehung kontrolliert, würde mehr als nur ihr Überleben sichern. Diese Nation würde an die Spitze des neuen globalen Machtgefüges katapultiert und den Status einer Supermacht erlangen. Der Impfstoff ist eine wahre Goldmine und würde der Wirtschaft durch Produktion und Distribution Umsätze in Billiardenhöhe bescheren. Und ihr politischer Wert ist praktisch unermesslich – ein Pfund, mit dem man gegenüber anderen Staaten, ob Freund oder Feind, wuchern kann. Jede infizierte Nation, die den Impfstoff braucht, würde vor ihrem Herrn und Meister zu Kreuze kriechen müssen.«

»Und wenn der Meister nicht teilen will«, sagte Marco nachdenklich, »sind alle anderen im Arsch.«

»Ganz recht.« Wu warf wieder einen Blick in den Rückspiegel. »Nun wissen Sie auch, weshalb wir verfolgt werden. Und wieso wir nicht anhalten oder gar nach Hause gehen können. Osbourne strebt mit aller Macht sein großes Comeback an. Deshalb wäre es ein Schlag ins Kontor für ihn, wenn ein anderes Land ihn bei der Jagd nach der Ballard-Leiche schlagen würde.«

»Na toll. Und was, wenn es niemandem gelingt, Roger zu finden?«

Wu schaute ihn ausdruckslos an. »Dann lässt Osbourne Sie bis in alle Ewigkeit weitersuchen.«

Marco verzog das Gesicht. Der schwarze Himmel hatte sich inzwischen zu einem tristen Grau aufgehellt – die Morgendämmerung brach an –, und die Sterne waren wieder im unbekannten Universum versunken. In einer Stunde würde die Sonne aufgehen und die Wüste wieder ihrer hitzigen Tyrannei unterwerfen. Nichts vermochte sie daran zu hindern.

Er ließ die Schultern hängen. Er hatte das Gefühl, den in den nächsten vierundzwanzig Stunden bevorstehenden Ereignissen nicht gewachsen zu sein. Das, was er eben gehört hatte, war so unglaublich – es stand so viel auf dem Spiel, dass er es kaum fassen konnte, auch in dieser Sache involviert zu sein. Herr der Welt? Genetisch verändertes Blut? Er hatte aufmerksam zugehört und nach einem Fehler gesucht, nach irgendeinem Indiz dafür, dass Wu sich diesen Mist spontan aus den Fingern saugte. Doch dem war nicht so. Wus Antworten klangen durchaus logisch und schienen noch dazu mit Marcos intuitiven Schlussfolgerungen übereinzustimmen.

Dann sagte Wu also die Wahrheit. Nur dass …

Nur dass Marco schon wieder den starken Verdacht hegte, den er gestern schon im Jeep gehabt hatte – dass Wu ihm irgendetwas verschwieg.

Aber was? Was konnte es sonst noch geben? Der Sergeant hatte jede Frage beantwortet – hatte nichts zurückgehalten und alles erläutert. Marco streckte sich. Alles.

In seinen Ohren knackte es, und die Verstopfung verpuffte wie eine kleine kalte Bombe, die in seinem Schädel explodierte. Und dann wusste er es – wusste, was hier nicht stimmte.

Wu weiß einfach alles.

»Nur noch eine letzte Frage«, sagte Marco. »An den Sergeant First Class Wu.«

Wu hatte sich wieder der Beobachtung des Rückspiegels gewidmet. Bei der Erwähnung seines exakten Dienstgrads spannte er die Kiefermuskeln an. »Ja?«, fragte er kurz angebunden.

Marco zögerte. Er holte noch einmal Luft und ließ es raus:

»Wer sind Sie wirklich?«

Wu drehte sich halb um – wobei er jeden Blickkontakt vermied – und sah angestrengt aus dem Fenster, als beobachtete er irgendetwas in der Ferne. Marco war sich sicher, dass sein Verdacht begründet war. Der Mann wusste verdammt noch mal zu viel für einen Unteroffizier und hätte eigentlich nur Antworten auf die Hälfte seiner Fragen haben dürfen …

Und dann riss Wu plötzlich die Augen auf.

»Runter!«, rief er und warf sich auf den Boden, während Marco sich noch fragte, was jetzt schon wieder los war …

… und ohne Vorwarnung explodierte die Frontscheibe der Lokomotive. Eine heiße, von Scherben durchsetzte Druckwelle brandete gegen Marcos linke Wange an, eine Gasgranate flog in den Führerstand und spie orangefarbenen Qualm aus, der in den Augen brannte und den Atem raubte, und er schrie gequält auf, als er den Rauch einatmete und würgte; er bekam keine Luft mehr, er musste hier raus

Doch zu spät. Der Himmel färbte sich wieder schwarz; die Nacht hatte über die Sonne triumphiert, und Marco verlor das Bewusstsein und brach in der Wolke aus orangefarbenem Gas, die den Zug erfüllte, zusammen.

7.5

Marco war wach. Oder auch nicht. Er wusste es nicht.

Er saß in seinem Büro im Cedars-Sinai.

»Ich kann sie retten, Henry.« Roger Ballard legte die Fäuste auf Marcos Schreibtisch und beugte sich nach vorn, nicht bedrohlich, aber doch mit einer solchen Intensität, dass Marco sich zurücklehnte. Die rechteckigen Gläser von Ballards Brille verliehen seinem kantigen Gesicht eine zusätzliche Strenge und akzentuierten die hohen Wangenknochen und das spitze Kinn. Hinter den Gläsern flackerten Ballards Pupillen vor Aufregung. Marco spürte seinen Hunger förmlich.

Dann sah er das spinnennetzartige Geflecht schwarzer Adern unter Rogers grauer Haut.

Marco schauderte. Sein Kopf war wie benebelt – Gedanken waberten durch den Dunst und waren wieder verschwunden, bevor er sie festzuhalten vermochte. Er drückte die Augen zu. Verwirrt.

»Moment mal«, sagte er. »Roger ist tot. Nicht wahr, Roger?«

»Ich kann Hannah retten.« Ballards Lippen bewegten sich nicht, während er sprach.

Dann war das also ein Traum. Oder nicht? Marco schaute auf den Schreibtisch. Auf der vertrauten grünen Schreibunterlage lag sein Kalender, in den Termine, Notizen und andere wichtige Dinge gekritzelt waren. Er schielte. Er konnte kein einziges Wort entziffern.

Ballard sprach wieder. »Ich kann …«

Marco unterbrach ihn. »Nein, Roger. Das konntest du nicht. Du hast es versucht, aber es hat nicht funktioniert.« Gegen seinen Willen klang er zornig. Zornig und vorwurfsvoll und verbittert.

Es ging ein Ruck durch Ballard, als hätte man ihm eine Ohrfeige verpasst, und plötzlich schmerzte Marcos Wange. Irgendwie hatte er es auch gefühlt. Schmerz breitete sich in der Schläfe aus.

»Es ist eine schwere Asphyxie«, erläuterte Ballard. »Aber wenn wir das Gehirn auf eine Temperatur abkühlen, die unter …«

Marco unterbrach ihn schon wieder. »Es hat nicht funktioniert. Du hättest das nicht tun sollen. Du hast das Gehirn unterkühlt. Die Stoffwechselbelastung war zu groß. Sie ist gestorben.«

Ballard schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Ich kann sie retten, Henry.«

»Du hast sie getötet«, spie Marco förmlich aus. Er spürte, dass sein Körper gegen seinen Willen einen Ortswechsel vornahm, als würde er weggeschleift, und nun stand er im Flur vor der Neugeborenen-Intensivstation. Er wollte eintreten, doch die Tür zum Behandlungsraum war verschlossen, und der Knauf bewegte sich nicht. Plötzlich bebte die Tür. Er hörte jemanden auf der anderen Seite schreien. Dann verstummten die Schreie, und der Türknauf klickte. Die Tür öffnete sich, und Rogers verweste Leiche schlurfte heraus. Sie hatte einen besorgten, gequälten Gesichtsausdruck. »Lungenblutung«, sagte sie. »Hirntod.«

»Wieso, Roger?«, fragte Marco verzweifelt. »Wieso hast du das getan?«

Ballard musterte Marco. Er wirkte verloren. Sein Mund öffnete sich und suchte nach Worten.

»Du hättest mir diese E-Mail nicht schicken sollen«, sagte Marco stöhnend. Und zuckte zusammen, als ein weiterer schmerzhafter Peitschenhieb seine Wange traf.

Aufwachen. Klatsch. Klatsch.

Klatsch.

Seine Augenlider öffneten sich, obwohl die Augäpfel noch immer umherrollten. Der Himmel war rosafarben, die Morgendämmerung hatte gerade eingesetzt, und der Horizont neigte sich wie eine Wippe – rauf und runter. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Wolle ausgestopft; eine kompakte Masse, die den Raum zwischen den Ohren ausfüllte und den Schädel schalldicht isolierte. Er hörte nur gedämpfte Geräusche und ein Krächzen, als ob jemand sich übergab – er wurde sich bewusst, dass er selbst das war: Warmes Erbrochenes benetzte sein Kinn –, und er erinnerte sich, dass man ihn an den Füßen gepackt und über einen schmutzigen Boden gezerrt hatte. Das mochte hundert Jahre her sein oder auch nur ein paar Sekunden.

Sein Gehirn arbeitete nur träge. Er spürte, wie die Gedanken sich hartnäckig am Rand des Unterbewusstseins festklammerten, und er wartete jedes Mal minutenlang, bis ein einzelner Gedanke sich abgelöst hatte und emporstieg – an die Oberfläche trieb und wie eine Blase platzte, sodass die Bedeutung ans Licht kam.

Klatsch.

Irgendjemand hatte ihm gerade einen Schlag auf den lädierten Wangenknochen versetzt.

»Aufwachen.«

Die Stimme glich einer scharfen Schere, die die Wolle in seinem Kopf durchtrennte.

»Roger?«, fragte er desorientiert. Noch immer ein Traum? Nein. Ja.

Nein.

Er versuchte es mit: »Wu?«

Er lag auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf ausgestreckt. Er starrte auf die weit entfernten Füße. Die Augen wollten sich nicht fokussieren, und er wurde durch die verschwommenen Konturen seiner Beine verwirrt. Er versuchte, sich aufzusetzen. Aber es ging nicht. Die Arme waren unbeweglich – er wusste nicht, warum. Eine verschwommene Gestalt mit den groben Umrissen eines Menschen schwebte über ihm. Wu?

»Geburtsasphyxie«, nuschelte Marco. Sein Mund war taub. Er hatte Schwierigkeiten, die komplexen Silben zu artikulieren. »Hypoxische … ischämische … Enzephalopathie.«

»Was hast du gesagt?«, ertönte wieder die scharfe Stimme.

Marco versuchte weiter, sich trotz der anhaltenden Benommenheit zu konzentrieren. »Neonataler Zustand – Neugeborenes – ohne Atemfunktion. Kein Sauerstoff zum Gehirn. Roger verursachte Hypothermie. Standardbehandlung, Gehirn auf dreiunddreißig Grad herunterkühlen, drei Tage. Roger ist aber noch weiter runtergegangen. Riskant. Die Asphyxie war schwer. Er wollte sie retten, kein Gehirnschaden. Aber. Sie starb.«

»Roger wer?«, fragte die Stimme schroff. »Roger Ballard?«

Marco befeuchtete die Lippen mit der Zunge. Er hatte hämmernde Kopfschmerzen, doch in seinen Ohren knackte es, und sie wurden frei. Er spürte, wie eine kühle, frische Morgenbrise ihm über die Stirn fächelte. Die Worte kamen ihm nun zusammenhängender und flüssiger über die Lippen. »Roger will das Gehirn am Leben erhalten. Ohne Sauerstoff.«

Er verstummte und runzelte die Stirn. Sein Blick klärte sich, und die Umgebung nahm endlich wieder Gestalt an. Er lag in einem Gewirr aus grauen Ästen und Büschen auf einem steinigen Wüstenabhang. Der Erdboden war kalkweiß, noch bleicher als in Arizona. Sechs Meter tiefer ging der Hügel in einen öden zweispurigen Highway über. Telefonmasten erstreckten sich in einer endlosen Prozession in Nord-Süd-Richtung, schmalere Straßen zweigten vom Highway ab und verliefen zu entfernten Häusern und hässlichen Bauwerken, die wie Lagerhäuser aussahen. Er sah verrottete Heuballen, die in regelmäßigen Abständen auf verdorrten Feldern gestapelt waren – das waren die Randgebiete irgendeiner entlegenen kalifornischen Stadt.

Auf der anderen Straßenseite entdeckte er ein verfallenes Gebäude mit einer Schindelfassade – eine bessere Baracke. Davor dehnte sich ein dreckiger Parkplatz aus, auf dem gespenstisch ausgebleichte Autos standen. Orangefarbene Leitkegel markierten die Ecken des Platzes. Das Grundstück wurde von einem stellenweise aufgerissenen Netz aus Nylonseilen eingezäunt, die um verrostete Metallpfosten geschlungen waren. Kleine blaue, gelbe und rote Wimpel aus Plastik dienten als Dekoration. Über dem Eingang formten ausgebrannte verschnörkelte Neonröhren die Worte Bill’s und einen riesigen Bierkrug mit einer Schaumkrone.

Eine Bar.

Das konnte nicht sein. Es dauerte noch einen Moment, bis Marco den Grund dafür erkannte.

»Wieso sind wir nicht im Zug?«, fragte er.

Die banale Frage schien auch noch die letzten Schranken im Kopf zu durchbrechen; plötzlich war er geistig wieder voll präsent und erlangte die Erinnerung zurück. »Runter!«, hatte Wu geschrien, und dann die explodierte Frontscheibe, die Granate, der Rauch. Jemand hatte einen Gasangriff auf die Lokomotive ausgeführt – und Marco wäre dadurch fast ins Koma gefallen. Er hatte noch immer den Geschmack des giftigen Gases im Mund; er hustete und spuckte in den Staub aus.

Und dann erkannte er auch den Grund, weshalb er sich nicht mehr zu bewegen vermochte. Er war mit Handschellen gefesselt. War an irgendetwas gefesselt, das sich über Kopfhöhe hinter ihm befand. Er krümmte sich mit einem Grunzen und verdrehte den Kopf.

Er war an die hintere Stoßstange eines Quad gefesselt. Das schmutzige lehmbraune Vehikel hatte ein Wüstentarnmuster und war so groß wie ein Golfwagen, nur kompakter und mit weniger Bodenfreiheit. Es verfügte über einen Schalensitz für den Fahrer und über eine Lenkstange. Von hinten sah es aus wie ein umgebautes Motorrad mit vier riesigen Reifen, deren grobes Profil auch im Gelände gute Traktion garantierte.

»Wu!«, rief er besorgt und drehte den Kopf ruckartig wieder dorthin, wo er die schemenhafte Gestalt gesehen hatte.

»Was zum Teufel …«, sagte er. Dann holte er tief Luft.

»Sie sind nicht Wu«, sagte er.

Der Mann, der neben ihm kniete, hatte dunkle Haut und einen dichten schwarzen Bart, der rissige Lippen und schiefe gelbe Zähne einrahmte. Er trug ein beigefarbenes Barett, eine Uniformjacke mit grünem Fleckentarnmuster und eine legere Cargohose. Der militärischen Kleiderordnung entsprach dieser Aufzug jedenfalls nicht.

Es war fraglich, ob er überhaupt ein regulärer Soldat war. Dafür war er zu zerzaust und seine Kleidung zu zusammengewürfelt. Vielleicht gehörte er irgendeiner Guerilla- oder Söldnertruppe an. In der US-Armee diente er sicher nicht. Lose Fäden und helle Umrisse an den Brusttaschen und auf den Schultern deuteten darauf hin, dass Schulterklappen und andere militärische Erkennungszeichen abgerissen worden waren – als ob er keiner Fahne, keiner Einheit und keiner Nation den Treueid geleistet hätte.

»Wu.« Der Mann grinste. »Wer is’n das – dein Freund?« Er hatte eine tiefe Stimme. Er war ein Amerikaner.

Marco zerrte an der Kette und ließ den Blick nach links und rechts schweifen; es stand ihm schon wieder der Schweiß auf der Stirn. Keine Spur von Wu. Er drehte sich zu dem Fremden um. »Wer zum Teufel sind Sie?«

Das Grinsen verschwand aus dem hässlichen Gesicht des Soldaten. Er beugte sich vor und versetzte Marco mit dem Handrücken einen festen Hieb gegen das linke Ohr. Ein weißer Blitz zuckte in der Wüste auf; Marco drückte die Augen zu und spürte, wie eine Träne auf die Wimpern tropfte. Den Schmerz kannte er schon. Er wartete, bis er nachließ, und schlug die Augen wieder auf. Er erinnerte sich an die Halbträume, die er gehabt hatte, nachdem er durch das Gas in Ohnmacht gefallen war, und an das Gefühl, geschlagen zu werden. Aufwachen.

Dieser Drecksack hatte ihn geschlagen.

Nun rieb der Mann sich die Fingerknöchel am Bart und grinste wieder. Er hatte einen bösartigen Ausdruck in den hellblauen Augen. »Das geht dich nix an«, sagte er. »Geht dich einen Scheiß an, wer ich bin.«

»Freut mich auch, Ihre Bekanntschaft zu machen«, murmelte Marco. Das Ohrläppchen schmerzte noch immer. Trotz der sarkastischen Bemerkung hatte er Angst – er hatte das Gefühl, zerquetscht zu werden, als stünde das zweihundert Kilo schwere Quad auf seinem Oberkörper. Er schluckte trocken.

Oh Gott. Ich stecke tief in der Scheiße.

Die Sonne hatte sich inzwischen höher über den Horizont erhoben und kitzelte noch mehr Farben aus dem Land. In der Nähe wuchsen gelbe Sonnenblumen. Sie schauten Marco mit fröhlichen Gesichtern an. Er sah die Glock und die AK-47 neben einem staubigen braunen Rucksack auf dem Erdboden liegen. Und daneben lag eine Waffe, die wie ein Granatwerfer aussah – damit war wahrscheinlich das Gas in den Zug geschossen worden. Der Soldat hob die Kalaschnikow auf und brachte sie zum Quad. An der Seite des Fahrzeugs war eine improvisierte Waffenhalterung angebracht: ein Netz aus ausgefransten Nylonsträngen, in dem sich eine Schrotflinte, eine Axt und eine kurzläufige Maschinenpistole befanden. Er fügte die Kalaschnikow der Sammlung hinzu, kam zurück und kniete sich neben den Rucksack.

Marco zögerte … und wagte es dann, die Frage zu stellen: »Wo ist Wu?«

Er befürchte schon, statt einer Antwort wieder einen Schlag versetzt zu bekommen.

Doch der Mann ignorierte ihn. Stattdessen zog er ein ziegelsteingroßes Walkie-Talkie aus einer Seitentasche des Rucksacks und schaltete es ein. »Conquest Drei«, rief er mit bellender Stimme.

Eine heisere Stimme ertönte im Lautsprecher. »Conquest Drei, was hast’n?«

Der Soldat entfernte sich, sodass Marco dem Gespräch nicht mehr folgen konnte. Wenig später kam er zurück. »Ja, zum Teufel«, sagte er und nickte. »Bis dann.« Er schaltete das Funkgerät aus.

Marco versuchte es noch einmal. »Wo ist Wu?«

Der Soldat hob die Hand, als wollte er ihn zur Geduld mahnen. Er verstaute das Funkgerät im Rucksack, und dann kam er zu Marco und packte ihn an den Fußgelenken. Bevor Marco noch reagieren und ihm einen Tritt versetzen konnte, zog der Soldat ihn im Halbkreis herum, sodass seine Füße die Böschung hinaufzeigten. Das Blut schoss Marco in den Kopf und beeinträchtigte sein Sehvermögen. Er wurde mit dem Rücken über den harten und steinigen Erdboden gezerrt, und die Handschellen klapperten dabei.

Dann ließ der Soldat ihn wie einen nassen Sack in den Schmutz fallen.

»Ist dein Kumpel noch im Zug?«, fragte er und deutete an Marcos Füßen vorbei nach Westen.

Marco folgte dem ausgestreckten Finger mit den Augen. Aus seiner neuen Position konnte er am Dornbusch vorbei den Hügel überblicken. Dort war der Sunset Limited. Er stand reglos und tot auf den Schienen. Der Totmannwarner hatte die führerlose Lokomotive gestoppt. Orangefarbener Qualm waberte aus einem Loch in der Frontscheibe.

»Wu, stimmt’s?«, sagte der Soldat mit einem Grinsen. Er schien den Namen irgendwie lustig zu finden. »Ja, ich hab ihn dort oben gefunden, als er ein Nickerchen machte. Das Gas hatte ihn ins Reich der Träume geschickt.« Er formte mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole, hielt sich die imaginäre Waffe an die Schläfe und drückte ab. »Peng«, sagte er und veranschaulichte mit gespreizten Fingern, wie sein Schädel explodierte. »Schlechte Neuigkeiten. Ich habe Wu erschossen.«

Marco verzog das Gesicht und spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. Wu ist tot. Der Gedanke schnürte ihn wie eine weitere stählerne Fessel ein, so fest wie die Handschellen um seine zitternden Arme. Er war nun allein. Es gab keinen Ausweg mehr. Wu ist tot, und ich bin im Arsch.

Er verspürte ein dumpfes Gefühl der Trauer; so zwiespältig sein Verhältnis zu Wu auch gewesen war, er war es leid, verdammt noch mal leid, dass Leute um ihn herum starben.

Noch immer lächelnd griff der bärtige Soldat an den Gürtel. Er nahm einen Schlüsselanhänger vom Karabinerhaken und ließ ihn theatralisch ein paar Zentimeter vor Marcos Gesicht baumeln. Ein kleines schwarzes Kästchen hing vor Marcos Nasenspitze. Es war so eine Art Funkfernbedienung mit einer runden roten Taste in der Mitte. Nachdem der Soldat sich davon überzeugt hatte, dass Marco das Ding auch gesehen hatte, nahm er es wieder weg und legte den Daumen auf die Taste. Die Zwischenräume seiner Fingerknöchel waren mit eingetrocknetem braunem Blut verkrustet.

»Tschau mit Au, Wu«, sagte der Mann. Und drückte auf die Taste.

Eine rote Leuchtdiode blinkte dreimal auf dem Kästchen.

Eine ganze Sekunde lang schien die Wüste in stummer Erwartung den Atem anzuhalten, dann explodierte sie förmlich. Aus allen Richtungen gleichzeitig wurden Marcos Kopf Hammerschläge versetzt, und seine Trommelfelle drohten zu platzen. Er schrie schmerzerfüllt auf, als die Lokomotive wie bei einem Vulkanausbruch explodierte: Ein riesiger Feuerball breitete sich unaufhaltsam aus, als wäre die Sonne vom Himmel gefallen und wollte die Wüste verzehren. Die Lokomotive wackelte auf den Gleisen. Druckwellen rasten den Hügel herab und pressten Marco die Luft aus der Lunge, während ein mächtiger Feuerblitz durch den Himmel zuckte. Glassplitter regneten auf die Schienen. Und dann wurde es wieder still. Die geschwärzte Hülle der Lokomotive fiel auf die Erde zurück. Die Seiten waren nach außen gebogen, und schwarzer Rauch quoll aus Rissen zwischen den Stahlplatten. Flämmchen züngelten zwischen den hölzernen Schienenschwellen.

Ein zwölf Meter langes Schrapnell.

Und ein Sarg für Wu.

Marco schloss fest die Augen. Sein Mund stand offen, und die malträtierten Trommelfelle vibrierten noch immer.

Plötzlich stieß etwas mit einem klackenden Geräusch gegen seine Schneidezähne. Metall. Der Soldat hatte Marco den Lauf der Glock in den Mund gerammt. Er schmeckte nach Rauch und Öl.

»Und jetzt wirst du mich zu Roger Ballard bringen«, sagte der Soldat. »Klar?«

Seine blauen Augen glühten wie Gaslaternen. Er schob Marco die Waffe tiefer in den Mund, sodass es schmerzte, und krümmte den Zeigefinger.

»Oder peng. Wie bei Wu.«

Der Soldat lachte.