Aufbau der Fleisch-Falle

2.1

»Noch etwas«, sagte Joan Roark. Ihr körniges Bild, das aus den Sicheren Staaten übertragen wurde, erschien auf dem Computerbildschirm auf Marcos Schreibtisch. Er saß im Dunkeln in seinem Arbeitszimmer; es war noch eine Stunde bis zur Morgendämmerung. Um Mitternacht war er in die Basis zurückgekehrt – in das Haus, das vor der Auferstehung ein Jahr lang Danielle und ihm gemeinsam gehört hatte. Arme und Beine schmerzten vom Fieber, das ihn auf der Reise befallen hatte. Monatelange Unterernährung und Schlafmangel hatten sein Immunsystem radikal geschwächt.

Ist nur eine Grippe. Die Frage, ob er womöglich doch von der Auferstehung befallen worden war, wollte er sich lieber gar nicht erst stellen. Er hatte das mit einer Kette gesicherte eiserne Tor geöffnet und war mit dem Jeep die lange, gepflasterte Auffahrt hinaufgefahren, während die in den Hügeln heulenden Kojoten ihn wieder in Arizona willkommen hießen. Dann ging er ins Haus und lag für ein paar Stunden mit Magenkrämpfen und Halsschmerzen im Bett, bevor er wieder aufstand und Joan anrief. Er hatte im Arbeitszimmer kein Licht angemacht. Auf dem Bildschirm sah er, dass Joans Zimmer hell war; in Baltimore war die Sonne schon aufgegangen. Die Sicheren Staaten erstreckten sich bis zum Ostufer des Mississippi – eine natürliche, leicht zu verteidigende Grenze, hinter der Amerika noch intakt war. Die Regierung hatte sich zurückgezogen, als die Auferstehung im Westen ihren Anfang nahm und sich dann unkontrolliert ausbreitete. Nun waren die Sicheren Staaten abgeriegelt – niemand kam rein, und niemand kam raus. Die Evakuierten Staaten waren den Toten überlassen worden.

Hier in Marcos Arbeitszimmer glich das Bild von Joans Gesicht einem glühenden Fenster in der Dunkelheit; es wirkte geradezu übernatürlich. Er hatte den Computer schon abschalten wollen. Stattdessen nickte er ihr auf dem Bildschirm zu. Das war ein Trick, um Augenkontakt zu vermeiden; die Webcam auf dem Schreibtisch erfasste ihn im Halbprofil, sodass sie seinen Gesichtsausdruck und damit seine Gedanken nicht zu lesen vermochte. Er war froh, dass er die Abschlussbesprechung nicht persönlich durchführen musste. Wie er diese unangenehmen Augenblicke gehasst hatte, als er im renommierten Cedars-Sinai-Krankenhaus als Arzt praktiziert und den Patienten und ihren besorgten Angehörigen EEG-Diagramme erklärt hatte. Oft hatte er sich dabei ertappt, nervös mit dem Kugelschreiber auf der Seite herumzutippen, als hätte er selbst ein neurologisches Problem.

Er sah, dass Joan auf ihrem Sitz herumrutschte. Sie senkte den Blick. Vielleicht spürte sie, dass der Ehering ihres Mannes auf seinem Schreibtisch lag. Marco steckte ihn diskret ein. Es musste nicht sein, dass sie ihn noch einmal zu sehen bekam.

»Entschuldigung«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich wollte nicht … es ist nur … es ist nur so, dass ich Sie das fragen wollte. Ich meine, Sie haben schon so viele dieser Aufträge ausgeführt. Sie müssen es doch wissen.«

Sie sah furchtbar aus. Er hatte sie vor ein paar Wochen zum letzten Mal gesehen, und die Veränderung, die seitdem mit ihr vorgegangen war, erschreckte ihn. Sie trug im Gegensatz zu früher kein Make-up mehr, und er verspürte den Anflug eines Schuldgefühls, weil ihm das überhaupt aufgefallen war. Ihre Augen waren blutunterlaufen und die unteren Augenlider grau und aufgedunsen. Ein Schleimbrocken hing unter ihrem rechten Nasenloch; sie zog ihn schniefend hoch, doch er kam sofort wieder zum Vorschein. Die Schultern waren nach vorn gebeugt, die Arme ausgestreckt und die Hände zwischen den Knien eingeklemmt. Sie trug ein dunkelgrünes Sweatshirt mit einem auffälligen ausgebleichten Fleck auf der Schulter – das erste Mal, dass er sie nicht in schicken Designerklamotten sah –, und er hatte die Vermutung, dass sie auch darin schlief. Im eng anliegenden Sweatshirt kamen ihre Brüste deutlich zur Geltung; obwohl sie schon in den Fünfzigern war, hatte sie noch immer eine gute Figur. Doch ihr Gesicht sah älter aus – verhärmt, als wäre sie um ein paar zusätzliche Jahre gealtert, seit sie zur Witwe geworden war.

»Wissen?«, fragte er schließlich.

»Ja«, sagte sie. Sie sah ihn mit festem Blick an. »Ob ich auch das Richtige getan habe?«

Er sog den Atem ein.

Sie fuhr fort und geriet wieder ins Stocken. »Bitte, ich möchte doch nur die Wahrheit wissen – seien Sie ehrlich zu mir, Mr. Marco, als ob Sie mit einer Freundin sprechen würden. Sie können es mir jetzt ruhig sagen. Ich habe schon bezahlt, und Sie haben geliefert – es kommt also nicht mehr darauf an. Also, bitte.« Ihre Unterlippe zuckte. Sie beugte sich zur Kamera hin, und ihr Gesicht füllte den Bildschirm aus.

»Habe ich auch das Richtige getan?«, fragte sie.

Er überlegte einen Moment – und wunderte sich selbst darüber. Nicht etwa, weil sie ihm die Frage gestellt hatte, sondern weil er tatsächlich über die Antwort nachdachte. Seine Klienten waren wie Kinder, unerfahren und unsicher; die Welt war für sie auf den Kopf gestellt worden. Die alten Regeln galten nicht mehr, und die neuen mussten sie erst noch lernen.

Brutale neue Regeln.

Niemand wusste, was nach der Auferstehung zu tun war, wie man sie emotional bewältigen und wie man sich den neuen Lebensumständen anpassen sollte. Die Evakuierten Staaten waren eine menschenleere Ödnis; die Sicheren Staaten ein Hexenkessel – durch fünfzig Millionen Flüchtlinge aus dem Westen überfüllt, die Wirtschaft am Boden, nicht genug Arbeitsplätze und Nahrung für alle. Der Verlust der kontaminierten landwirtschaftlichen Anbaugebiete zwischen dem Mittleren Westen und Kalifornien war eine Katastrophe gewesen. Die halbe Bevölkerung lebte von Sozialleistungen wie Essensmarken, Lastenausgleich oder Grundsicherung; in den Monaten nach der Grenzschließung hatte die Regierung Garrett Hilfspakete im Wert von mehreren Milliarden Dollar bewilligt. Doch Garrett war nun nicht mehr im Amt; die Neuen Republikaner waren an die Regierung gewählt worden und schraubten die Hilfsprogramme zurück.

Es war überwältigend … und zugleich doch deprimierend. Und oft wandten Marcos Klienten sich Rat suchend an ihn, als hätte er irgendeine geheime Einsicht in die Auferstehung – weshalb sie das getan hatte, was sie denn von ihnen wollte –, nur weil er der Mann vor Ort war, der ihr da draußen, wo alles begonnen hatte, Auge in Auge gegenübergestanden hatte. Und am Ende des miserablen Tages sollte er diese armen Leute quasi zu Bett bringen, ihnen einen Gutenachtkuss geben und ihnen sagen, dass alles schon gut werden würde.

Ich als Vaterfigur. Da hat das Universum sich aber einen schlechten Scherz mit mir erlaubt.

»Habe ich auch das Richtige getan?«, hatte Joan Roark gefragt.

Er seufzte, und dann sagte er ihr beinahe die Wahrheit – dass er sich nicht sicher sei, ob es darauf überhaupt ankam oder ob sie sich dann besser fühlen würde. Aber er mochte Joan. Also sagte er ihr stattdessen, was sie hören wollte, und dann nickte er bedächtig. Bedächtig bedeutete in diesem Fall ernsthaft. Als ob er niemals lügen würde.

»Ich glaube, dass Sie das Richtige getan haben«, sagte er. »Ja.«

Daraufhin begann sie wieder zu weinen und hielt sich die Hand vor den Mund. Ihre Wangen bebten. Ein einkarätiger Diamant funkelte an ihrem Ringfinger.

»Sie haben es sich nicht leicht gemacht«, räumte er ein. »Aber Sie haben Ihrem Mann Frieden geschenkt. An meiner Stelle – ich meine, wenn ich derjenige da draußen wäre – hätte ich mir gewünscht, dass Sie genauso gehandelt hätten.«

Sie schüttelte den Kopf. Er war sich nicht sicher, ob sie mit dem, was er gerade gesagt hatte, nicht einverstanden war oder ob sie nur selbst darüber erschrocken war, mit welcher Leichtigkeit sie das akzeptierte.

»Joan«, sagte er mit leiser Stimme. »Hören Sie mir zu.«

Sie hielt inne und sah ihn an; und er fragte sich, wie er wohl auf ihrem Bildschirm in den Sicheren Staaten aussah – ob er mehr als ein bloßer Schemen war, der aus seinem dunklen Büro projiziert wurde. Konnte sie sein fiebriges Gesicht sehen, die kalten Schweißtropfen? »Sie haben seine Seele erlöst«, sagte er. »Er ist dorthin zurückkehrt, wohin auch wir irgendwann voraussichtlich gehen werden. Als es vorbei war, wirkte er … friedlich.«

Vielleicht glaubte sie ihm. Vielleicht kam es aber auch gar nicht darauf an, dass sie ihm glaubte; vielleicht genügte es ihr auch schon zu hören, dass jemand diese Worte sagte. Sie lachte, und der Schleimbrocken fiel aus der Nase auf die Lippe.

»In Ordnung«, sagte sie und sah ihn mit einem Kopfnicken an.

»Das ist die Wahrheit.« Die Zunge klebte ihm förmlich an den Zähnen, als er das sagte. Zumindest die halbe Wahrheit.

»In Ordnung«, sagte sie noch einmal. »Vielen Dank.« Sie zog ein Papiertaschentuch außerhalb des Blickwinkels der Webcam hervor und putzte sich die Nase. »Entschuldigung. Ich muss bei jedem Film weinen, auch bei schlechten. Sogar bei Komödien. Das hat Andy jedes Mal verrückt gemacht.« Sie zuckte die Achseln. »Wie dem auch sei. Vorbei ist vorbei.«

Er schluckte, und der Speichel rann wie Säure durch seinen wunden Hals. Die paar Sekunden des Schweigens schienen beiden als Abschiedsgruß zu genügen. »Alles Gute«, war alles, was er dann noch sagte.

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ihnen auch alles Gute, Mr. Marco.«

Er wartete noch einen Moment. Der Instinkt sagte ihm, dass es wichtig für Joan Roark war, endgültig damit abzuschließen – dass sie die Hand ausstreckte und den Computer ausschaltete und sich dann von ihrem Stuhl in Baltimore erhob und sich wieder anderen Dingen widmete. Im nächsten Moment verdunkelte der Bildschirm sich. Für Joan würde das Leben nun in den Sicheren Staaten weitergehen. Für sie war dieses Kapitel abgeschlossen. Sie hatte es selbst gesagt.

Vorbei ist vorbei.

»Aber nicht für mich«, stellte er fest, während seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Ist es denn falsch, wenn ich eifersüchtig bin?, fragte er sich dann.

Ein freudloses Grinsen erschien in seinem Gesicht.

Siehst du, Joan?, sagte er sich. Jeder hat so seine Zweifel.

2.2

Marco schaltete den Computer aus und ging den Flur entlang zum Badezimmer. Sein Herz hämmerte, und bei jedem Atemzug strömte die Luft schmerzhaft durch die trockene Nase. Er holte eine Flasche mit Sudafed-Gelkapseln aus dem Medizinschrank. Zu verbrauchen bis Oktober 2016, stand auf dem Etikett. Das Verfallsdatum war also schon zwei Jahre abgelaufen.

Er schluckte trotzdem drei Kapseln; wäre ja möglich, dass sie noch wirkten. Er würde bei der nächsten Reise bei Walgreens in Apache Junction haltmachen und seine Vorräte auffrischen müssen, doch sehr wahrscheinlich hatten die Medikamente auch dort schon das Verfallsdatum überschritten. Alles vergammelte in den Apotheken und den Supermärkten, sogar die Trockenwaren. So würde er auf Dauer nicht überleben können.

Er war erschöpft, doch die Vorstellung, sich wieder ins Bett zu legen und die nächsten vierundzwanzig Stunden zu verschlafen, gefiel ihm auch nicht. Bei seiner Rückkehr letzte Nacht war er halb im Koma gewesen und hatte das Anwesen deshalb nicht auf Einbrüche überprüft. Wenn er das jetzt nicht nachholte, würde er grob fahrlässig handeln. Die Barrikade, die er errichtet hatte, war fast leichensicher, aber eben nicht hundertprozentig. Außerdem musste er die Falle überprüfen.

Zu seiner Verärgerung stieg seine Hoffnung – ein eigentlich unbegründeter Optimismus, dass heute vielleicht der Tag wäre. Das Ende seiner Jagd. Vielleicht …

Hör auf damit, sagte er sich unwirsch und ging in sein Büro zurück.

Er würde warten, bis es draußen hell wurde. Noch eine halbe Stunde. Er nahm eine Decke von der Ledercouch und öffnete die Glastür zum Balkon. Der Morgen brachte die Kälte der Wüstennacht mit sich; er spürte sie frisch auf der Haut. Er wickelte sich in die Decke, stützte die Unterarme auf das Balkongeländer und blickte über das Land. Am östlichen Horizont grenzte ein hellblaues Band die Erde vom Weltraum ab, während darunter eine pink- und orangefarbene Morgendämmerung durchschimmerte. Die Superstition Mountains ragten am Horizont empor und nagten an den Sternen wie mächtige schwarze Backenzähne in einem Kieferknochen aus trockener Erde. Unter ihnen lagen die Bajadas, ein Geländeabschnitt mit sanften Hügeln und trockener Vegetation, der mit Saguaro-Kakteen und Kreosotbüschen übersät und von Eidechsen und Eulen bevölkert war.

Vor der Auferstehung hatte er nach den anstrengenden Schichten im Krankenhaus abends oft Frieden hier draußen gefunden. Mit einem Glas Rotwein und Danielles Händen, die ihm den Nacken massierten, war die Anspannung so schnell von ihm abgefallen, wie der Wüstenboden die Wärme abgab. Alles hatte sich beruhigt. Doch nun vermochte er sich gar nicht mehr zu entspannen – nicht mit hundert Kakteen, die ihn aus den Bajadas anstarrten und hinter deren mannshohen Silhouetten sich leicht eine Leiche verbergen konnte, die aufs Anwesen vorrückte.

Er zitterte trotz der Decke und dachte an Joan Roark. Sie hatte ihm eine heikle Frage gestellt, und er hatte sie beantwortet. Er versuchte, sich an den genauen Wortlaut der Antwort zu erinnern. Er war sich nicht mehr ganz sicher, doch ein Wort hatte sich förmlich ins Bewusstsein eingebrannt. Seele.

Hatte er ihr das wirklich gesagt? Sie haben seine Seele erlöst. Er fühlte sich plötzlich schuldig und bekam heiße Ohren. Er kam sich vor wie ein schmieriger Fernsehprediger, der den Leuten den größten Mist erzählte, nur um sich die Taschen zu füllen. Aber nein – das war nicht fair. Er hatte das ja nicht wegen des Honorarschecks gesagt. Er wollte nur, dass sie sich gut fühlte.

Mit dem Begriff »Seele« hatte er schon seit der Highschool nichts mehr anfangen können, als er ein braver katholischer Schüler war. An der medizinischen Fakultät war dieser Begriff dann einem profanen empirischen Verständnis gewichen.

»Es gibt nur eine Lebenskraft«, hatte er einmal gegenüber Danielle bemerkt, als sie nach einem Abendessen mit ihren kalifornischen Freunden auf dem Heimweg waren. Sie hatten sich allen Ernstes über Chakras und Energieheilung unterhalten – so absurde Konzepte, dass er wohl laut gelacht hätte, wenn er damit nicht ihre Gefühle verletzt hätte. Danielles Glaube an die Spiritualität machte nämlich einen Teil ihres Charmes aus; einer von vielen Gründen, weshalb er sie liebte. Und sie fand ihn anscheinend immer genauso charmant – genauso der Realität entrückt –, wenn er seine Glaubenssätze artikulierte. »Der elektrophysiologische Strom von hundert Milliarden Neuronen«, sagte er. »Das ist das Geheimnis des menschlichen Lebens.«

»Jawohl, Herr Doktor«, antwortete sie vom Rücksitz aus sarkastisch, beugte sich vor und zwickte ihm ins Ohr. Sie verstand es, ihm mit einer einzigen Geste ihre Liebe und Missbilligung zugleich zu bekunden. »Aber das ist dein Problem, mein Lieber. Du willst es immer ganz genau wissen. Hast du denn gar keinen Sinn für Magie?«

»Tut mir leid«, entgegnete er mit einem sardonischen Grinsen. »Aber die Seminare für Magie waren an der Uni schon alle belegt. Ich musste deshalb auf Medizin ausweichen.«

»Du Blödmann«, sagte sie lachend und biss ihm scherzhaft in die Hand.

Doch wenn Marco auch mit Seelen nichts anfangen konnte, an Identität glaubte er auf jeden Fall. Die Summe der persönlichen Erfahrung, alles, was man jemals getan oder gedacht hatte – Erinnerungen, die magnetisch in Gehirnzellen gespeichert waren. Identität war – bei allen Wechselfällen des Lebens – eine Konstante, isoliert wie ein geschlossener Trakt einer Bibliothek mit vergilbten und muffig riechenden Büchern. Identität war ein physikalisches und anatomisches Phänomen. Kein spirituelles.

Andrew Roark war gestorben. Und doch war er noch immer Andrew Roark und würde es auch immer sein, bis sein Körper bis hinunter auf die zelluläre Ebene zerfallen war. Seine Identität lag einfach in seiner Leiche begraben.

Wie hätte man es also richtig machen sollen? Marco erinnerte sich an eine Frau in Florida, ein paar Jahre vor der Auferstehung – sie war Opfer eines Autounfalls geworden und hatte jahrelang im Krankenhaus im Koma gelegen; aber ihre Augen waren geöffnet gewesen, und manchmal hatte sie sich sogar bewegt. Vor Gericht entbrannte ein heftiger Streit bezüglich der Interpretation ihrer Patientenverfügung, und es entspannten sich lautstarke Debatten, ob ihr geschädigtes Gehirn überhaupt noch ein Bewusstsein besaß oder nicht. Schließlich wurden ihre lebenserhaltenden Geräte jedoch abgeschaltet. Marco, der das an jenem Morgen auf CNN verfolgte, nippte an seinem Kaffee und war erleichtert, dass dieser ganze Kladderadatsch nicht im Cedars-Sinai passiert war. Danielle saß ihm am Frühstückstisch gegenüber, schnitt sich eine Scheibe von einer Melone ab und verfolgte ein Interview mit dem deprimierten Ehemann der Frau.

»Ich hoffe nur, dass dir nie so etwas passiert«, sagte Danielle mit feuchten Augen. Er fragte sich, wen sie überhaupt meinte – den Mann oder die Frau. Doch dann verzehrte Danielle ihre Melone und brach zu einem Vorsprechen auf, und er fragte sie später auch nicht mehr danach.

Wenigstens wusste er nun, was für eine tragische Figur er heute darstellte. Und nur aus dem Grund, weil es jetzt seine Entscheidung war – ob der Stecker gezogen oder nicht –, bekannte er sich zu seiner wahren Einstellung.

Manchmal war Euthanasie doch die richtige Entscheidung.

Er musste wieder an Joan Roark denken. An ihr kreidebleiches, ungeschminktes Gesicht, an die Haut, die an der Nasenwurzel zwischen den Augenbrauen abschuppte. Er hoffte, dass es ihr gut ging. Er hoffte auch, dass sie genug Geld hatte, um ein vernünftiges Leben zu führen; denn die Guthaben vieler Leute waren draußen im Westen eingefroren und lagen nutzlos in dunklen Sparkassen und Kreditinstituten herum. Zwar waren Vermittlerbanken in den Sicheren Staaten eingerichtet worden, um Gelder zu transferieren, doch das war ein langsamer und bürokratischer Vorgang. Hoffentlich hatte Joan ihr Geld noch retten können.

Gottverdammt. Weshalb verschwendete er überhaupt noch einen Gedanken an Joan Roark? Wenn er den Computer herunterfuhr, nachdem der Auftrag erledigt und abgeschlossen war, verschwand das Leben des Klienten normalerweise genauso schnell aus seinem Bewusstsein wie die Bildschirmanzeige. Der Fall war abgeschlossen, und er hatte nur noch Gedanken für den nächsten Vertrag, das nächste Leben, an dem er teilhaben würde. Für die nächste Leiche, die er zurückgeben würde.

Doch vielleicht bestand sein Problem auch nur darin, dass der Termin für den nächsten Auftrag erst in einem Vierteljahr war. Bevor er nach Montana aufgebrochen war, hatte er Benjamin gesagt, er müsse einmal richtig ausspannen. Benjamin war sein Geschäftspartner in den Sicheren Staaten und zugleich sein ehemaliger Schwager.

Fürs Erste keinen neuen Auftrag mehr, hatte Marco gesagt. Ich bin müde, Ben.

Obwohl Benjamin sich zunächst sträubte – Marco war an und für sich kein neugieriger Typ, aber hin und wieder fragte er sich schon, welche finanziellen Verpflichtungen Ben in den Sicheren Staaten wohl hatte –, war er dann doch einverstanden. Keine neuen Verträge. Der Laden war also von Oktober bis einschließlich Dezember geschlossen und würde erst im Januar wieder geöffnet. Ben schloss dann den nächsten Kontrakt für eine Leiche namens Thomas Flynn, einen sechsundzwanzig Jahre alten Holzfäller, der zuletzt irgendwo in einem Gebiet mit einer Ausdehnung von einer Million Quadratkilometern in den feuchten Wäldern von Oregon gesichtet worden war.

Na toll, sagte Marco zu Ben. Um diese Zeit muss der Schnee dort fast zweieinhalb Meter hoch liegen. Soll das etwa eine Retourkutsche sein?

Was für eine Frage, antwortete Ben. Außerdem wirst du nach dem Urlaub doch wieder fit und erholt sein.

Doch die eigentliche Frage lautete – auch wenn Ben dem entgangenen Geschäft noch so sehr nachtrauerte –, welche Wahl hätte er gehabt? Marco war schließlich sein einziger Mitarbeiter – derjenige, der seinen Arsch in einer Notzone voller Zombies riskierte. Wenn er eine Pause brauchte, gottverdammt, dann sollte er sie auch bekommen.

Das Talent. So hätte Danielle ihn bezeichnet. Man muss das Talent bei Laune halten.

Er zuckte zusammen. Manchmal ertappte er sich dabei, dass er wie ein Bühnenautor Zeilen für sie verfasste, und dann hörte er wirklich ihre Stimme, wie sie in seinem Kopf vorsprach. Ihre laszive, sinnliche Altstimme, begleitet von entsprechenden Mundbewegungen, dieser drollige, verschmitzte Blick, wenn sie ihn neckte, und ihr Atem auf seiner Wange – diese Beschwörung ihrer körperlichen Präsenz war schmerzhaft für ihn.

Er hatte sich in letzter Zeit zu oft an sie erinnert. Es ging ihm besser, wenn sie eine Abstraktion blieb, ein amorpher Nebel mit einem Namen.

Er hustete, und dann war sie wieder verschwunden. Vom Dach kommend kurvte eine braune Fledermaus im Tiefflug über den Balkon und schnappte sich noch einen letzten Käfer, ehe sie den Heimflug in die Berge antrat. Die Morgendämmerung war unspektakulär hereingebrochen – ohne die Bonbonfarben, auf die er sich schon gefreut hatte. Stattdessen wurde das Licht nur allmählich stärker und enthüllte im Osten einen wolkenlosen Himmel. Die Details des Balkons gewannen an Kontur, und er sah dort die Reste seines letzten Abendessens – vom Vorabend des Tages, an dem er sich nach Montana aufgemacht hatte, um Roark zu suchen.

Er war an jenem Abend in einer düsteren Stimmung gewesen wie ein Soldat, der am nächsten Tag in den Einsatz geschickt wurde. Eine Weinflasche lag in der Asche des aus Lehmziegeln gemauerten Kamins; auf der Bank war sein Weinglas umgekippt und von einem eingetrockneten roten Fleck umgeben. Er hatte es voll dort stehen lassen. Es musste einem Eichhörnchen zu einem schönen Schwips verholfen haben.

In seinen verstopften Gehörgängen knackte es, als er herzhaft gähnte. Er beugte sich über das Balkongeländer. Mit einem Finger drückte er gegen die Nase und blies den Rotz erst aus dem einen, dann aus dem anderen Nasenloch auf den Hof unter dem Balkon. Eine Angewohnheit, die er als Bergläufer in Arizona entwickelt hatte. Das war zwar höchst unkultiviert, aber es gab jetzt niemanden mehr außer ihm selbst, der daran Anstoß nehmen konnte.

Noch schlimmer, er hatte seit Wochen schon nicht mehr geduscht. Und wann hatte er sich eigentlich zum letzten Mal den Hintern abgewischt?

Irritiert durch diese Überlegungen ging er wieder ins Haus. Er wollte endlich die Sicherheitsüberprüfung des Anwesens durchführen. Er schloss die Balkontür und hatte den Raum schon fast zur Hälfte durchquert, als er sich wieder an den Ehering in der Tasche erinnerte. Er holte ihn heraus und ging zum Schreibtisch zurück. Aus der seitlichen Schublade holte er einen Schnellhefter mit dem Etikett »ROARK« heraus. Es war eine dicke Mappe, die von einem roten Gummiband zusammengehalten wurde und den ganzen Vorgang umfasste: von ausgedruckten Fotos und Überweisungsbelegen bis hin zu Abschriften seiner Gespräche mit Joan. In der Schublade war auch eine Schachtel Gefrierbeutel. Er steckte Roarks Ring in einen solchen Beutel und verstaute ihn in dem Ordner. Dann legte er den Ordner in die Schreibtischschublade zurück und schloss sie. Irgendwann würde er ihn Joan zurückgeben. Irgendwann würde er auch all die anderen Dinge zurückgeben, die er dort aufbewahrte – Reminiszenzen an vergangene Jobs. Er würde sie den trauernden Familien der Toten zurückgeben.

Falls die Quarantäne jemals aufgehoben wurde und falls er jemals wieder in die Sicheren Staaten zurückkehren durfte.

Falls die Lebenden ihm vergeben konnten.

2.3

Auf dem Weg nach unten suchte Marco noch die Waffenkammer auf, die er in dem begehbaren Kleiderschrank des Schlafzimmers eingerichtet hatte, und steckte sich die nachgeladene Glock in den Gürtel.

Er hatte noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben, irgendwann in die Sicheren Staaten zurückkehren zu können. Tolle Aussichten, sagte er sich ernüchtert. Nicht, wenn Hoff im Weißen Haus saß, nicht wenn die Neuen Republikaner ein strenges Regiment führten und beim geringsten Anzeichen von Ärger hart durchgreifen würden.

Neue Republikaner. Machthungrige Mistkerle, ein Haufen Eiferer, der aus dem alten rechten Flügel hervorgegangen war. Nach der Auferstehung hatten ihre Ideale sich wie eine Infektion verbreitet und dabei die Schwachstellen des waidwunden Amerika ausgenutzt. In den Sicheren Staaten regierte die Angst. Alle hielten in Erwartung eines neuen Ausbruchs den Atem an und fragten sich, wann die Auferstehung über sie kommen würde, um ihnen den Rest zu geben. Die Krankenhäuser waren für den Katastrophenfall gerüstet, Plakate in den Zügen ermahnten die Leute Worauf Sie achten müssen! und veranschaulichten dies noch mit Auferstehungs-Patienten im Alphastadium mit eingefallenen, blutleeren Wangen, vertrockneten Lippen und rötlichen, wässrigen Augen, die starr über die Schultern nervöser morgendlicher Pendler blickten.

Die Neuen Republikaner hatten versprochen, die Ängste zu lindern, doch stattdessen schürten sie sie nur noch. Hoff betonte im Wahlkampf von 2016, dass die Gefahr noch nicht gebannt sei: Präsident Garrett sei pflichtvergessen und schwach gewesen und habe es versäumt, das Virus aufzuhalten – vielleicht ein Terroranschlag? –, das den Westen der USA vernichtete. Wenn Garrett wieder versagt, sind wir alle tot, warnte die Wahlwerbung im Fernsehen, auf Plakatwänden und im Radio. Hoff errang einen erdrutschartigen Wahlsieg.

Marco hatte diese Ereignisse in Arizona enttäuscht an seinem Laptop verfolgt; als Expatriierter ohne Stimmrecht. Mist, hatte er sich gesagt. Diese Typen kennen die Formel der Macht. Ängste schüren und zur Vorsicht mahnen. Ängstliche Bürger waren nämlich eher bereit, Freiheit gegen Sicherheit einzutauschen.

Und folgerichtig wurden strengere Gesetze erlassen; der Patriot Act wurde weiter verschärft und griff noch tiefer in die Privatsphäre ein. Zwangsweise Bluttests. Gerichtlich angeordnete Krankenhausbesuche. Benzinrationierung gemäß der vom Ressourcen-Büro festgelegten Transportnotwendigkeit. Truppen patrouillierten in Schützenpanzern durch ärmere Wohnviertel. Die umstrittene Überlebenden-Steuer – erzwungene Mildtätigkeit, wie Kritiker sie bezeichneten – presste zusätzlich Geld aus jedermann, um den Wiederaufbau zu finanzieren.

Solche Gesetze wurden am laufenden Band verabschiedet. Auf Capitol Hill regierte das Chaos; Stimmen des »Geister-Kongresses« – Senatoren und Abgeordnete aus den nun menschenleeren Bundesstaaten – wurden für verfassungswidrig und anschließend für ungültig erklärt. Innerhalb eines Jahres hatte Präsident Hoff mehr Macht über achtundzwanzig Sichere Staaten erlangt, als er jemals über alle fünfzig ausgeübt hätte. Die Neuen Republikaner dominierten das Parlament.

Und die Quarantäne würde auch nicht aufgehoben werden, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit.

Durch die Quarantäne wurde die Angst der Leute weiter geschürt.

Marco stand im Flur und schüttelte den Kopf. Glaubst du wirklich, sie würden dich zurückkehren lassen?, fragte er sich. Natürlich – geh einfach zur Grenze, winke fröhlich und sage: »Hallo Leute! Ich bin vier Jahre lang mit den Leichen hier draußen gewesen! Aber ich schwöre, dass ich keinen Auferstehungs-Erreger in mir trage!«

Ja nee, is klar. Sie würden dich schon erschießen, ehe du auch nur deinen dummen Mund aufgemacht hättest.

Er zuckte die Achseln. Zum Teufel damit. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt deswegen Gedanken zu machen.

Er musste die Falle kontrollieren.

Hinten im Wandschrank lehnte ein Baseballschläger aus Aluminium, dessen Griff mit mehreren Streifen Isolierband umwickelt war. Den nahm er auch mit. Wenn er den Schläger dabeihatte, kam er sich zwar immer etwas blöd vor; aber es hatte auch keinen Sinn, Munition zu verschwenden, wenn ein kräftiger Schlag genügte, um eine einzelne Leiche niederzustrecken.

Er ging über die Hintertreppe zur Küche hinunter. Der Raum war einmal hell und luftig gewesen, und der Frühstückstisch war extra so platziert, dass man von dort aus eine atemberaubende Aussicht auf die Superstitions hatte. Doch dann hatte er alle Fenster im Erdgeschoss mit mehreren Lagen Pool-Abdeckplane gesichert. Nun war das einzige Licht ein rechteckiger Strahl, der durch ein Oberlicht in der Decke fiel und wie ein Spot die Kücheninsel mit roten und orangefarbenen Mosaikkacheln anstrahlte. Die Küche war der einzige Raum im Haus, wo Danielle auf einem Wüstendekor bestanden hatte. Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie, wenn man bedachte, dass sie die Cuisine des amerikanischen Südwestens nicht mochte. Aber wüstenfarbene Küchenkacheln? Dafür hatte sie ein Faible gehabt.

Er goss sich ein Glas Orangensaft aus dem Kühlschrank ein – natürlich nicht aus richtigen Orangen, sondern nur aus dem gleichen Pulver, das er schon seit Jahren verwendete. Wenigstens deckte es hundert Prozent des täglichen Bedarfs an Vitamin C ab, um die Grippe zu bekämpfen. Er hatte keine Besserung durch das abgelaufene Sudafed festgestellt. Das Getränk brannte in seiner rauen Kehle.

Mit dem Handrücken wischte er sich den Mund ab, dann nahm er den Schläger. Er fühlte sich wie die Parodie eines Kindes, das am Samstag zum Ballspielen auf den Sportplatz ging. Jetzt hätte nur noch seine Mutter gefehlt, die ihm sagte, dass er zum Mittagessen wieder zu Hause sein sollte. Er verließ die Küche und ging durchs Treppenhaus zur Garage; selbst mit der verstopften Nase roch die Garage nach Öl und Schmierfett. Der strapazierte Jeep stand auf dem Stellplatz und erholte sich von der langen Heimfahrt. Der Tank war fast leer. Er würde ihn später mit den Spritreserven draußen auftanken.

Er schloss die Seitentür auf und ging auf den Hof hinaus.

Das Satteldach hinter ihm warf einen scharfen Schatten auf den Boden. Das Haus war im spanischen Stil errichtet worden, als eine moderne Interpretation aus verschiedenen Dachlinien und Wandpfeilern aus Gips, die sich bogenförmig um einen großen, mit Schieferplatten ausgelegten Hof zogen. Das Domizil eines Drogenbarons, hatte er einmal scherzhaft zu Danielle gesagt, nur um sie vor dem Immobilienmakler in Verlegenheit zu bringen, obwohl er das Haus insgeheim bewundert hatte.

Ein paar Sekunden lang stand er angespannt da und lauschte, um sich zu vergewissern, dass alles ruhig war. Dann verließ er die Deckung. Schon zu dieser frühen Stunde fühlte sich die Sonne wie ein stechendes Insekt im Nacken an, als er über das Wüstengrundstück zur Barrikade am westlichen Ende ging.

Die Barrikade. Sein Meisterwerk. Im ersten Jahr nach der Evakuierung hatte er sich hier draußen abgerackert. Er war wie besessen gewesen von dem Drang, die hüfthohe Ziegelmauer, die das Grundstück umgab, zu erhöhen – mit großen Sperrholzplatten und Aluminium-Wellblech, das er aus einem Baumarkt gestohlen hatte. Und dann hatte er noch alles, was er in der näheren Umgebung fand, als Verstärkung an der Innenseite angehäuft – Steine, Betonziegel, Holzblöcke, Schubkarren, Grills, Gartentische, Sonnenschirme, Gießkannen. Alles, was der Barrikade mehr Stabilität und Masse verlieh, bis der Wall sich schließlich von der linken Seite des Zufahrtstors um das ganze Haus bis zur rechten Seite des Tors erstreckte.

Wochenlang arbeitete er in jenem Sommer in einer geradezu höllischen Hitze. Trotz des Sonnenbrands, der Blasen und der nässenden Schrammen an den Armen hörte er nicht auf, schleppte Tonnen von Material und krönte das Bauwerk zum Schluss noch mit einer Meile Stacheldraht. Und jedes Mal, wenn er sich umdrehte, rechnete er damit, im nächsten Moment die Toten durch eine Lücke fluten zu sehen, die er noch nicht geschlossen hatte. Und nachts versuchte er schweißgebadet, in der stickigen Hitze des Dachgeschosses zu schlafen, und redete sich dabei ständig ein, dass das Anwesen nicht sicher sei.

Doch dann besserten die Dinge sich allmählich. Wenn er morgens nach draußen ging, verspürte er immer öfter ein Gefühl der Zufriedenheit. Der Ruhe. Der Kontrolle – der erste Anflug dieses Gefühls nach einer langen, langen Zeit.

Die Barrikade überragte ihn. Sie war zu hoch, als dass die Wesen sie zu erklimmen vermochten, aber immer noch niedrig genug, um darüber hinwegsehen zu können, wenn er auf der Veranda des Hauses stand. Auf ganzer Länge ermöglichte sie ihm die Beobachtung der Wüste und der verlassenen Häuser im Gold Canyon unterhalb des Anwesens.

Er erinnerte sich an eine von Danielles Freundinnen, diese mit Perlenketten behangene Hippiebraut Janis, die oben in Sedona lebte und aus Schrott Skulpturen anfertigte. Wenn Janis das nur sehen könnte – seine Barrikade mit diesen fantasievollen Applikationen. Die chaotische, aber dennoch planvolle Anordnung, der krasse Kontrast von erdfarbenem Rost und bunten Kunststoffen. Eine solche künstlerische Leistung hatte er noch nie im Leben vollbracht. Alles, was es jetzt noch brauchte, war ein Name. Materialismus als Verteidigungs-mechanismus.

Schon mal nicht schlecht. Oder wie wär’s mit Schrott – zur Kunstform erhoben.

Genau. Diese zweite Version war besser.

Er ging nun die Barrikade ab und suchte sorgfältig nach Breschen. Im Hinterhof hörte er, wie der Generator im Schuppen tuckerte. Er war durch die Zeitschaltung aktiviert worden, die er zwecks Benzineinsparung installiert hatte. Dann hielt er inne und bewunderte die Superstitions im Norden, den blauen Himmel, an dem sich weder Wolken noch Geier zeigten. Er hatte es schon lange aufgegeben, nach Militärflugzeugen oder Hubschraubern Ausschau zu halten; in jenem ersten Sommer war er schon beim ersten entfernten Geräusch eines Triebwerks zurück ins Haus gerannt, doch die Luftwaffe hatte die Überflüge vor drei Jahren eingestellt. Wegen des Mangels an Flugbenzin befand sich die Luftwaffe mittlerweile zum größten Teil am Boden. Zumal es auch keine Überlebenden mehr gab, die man hätte retten können.

Als er sich davon überzeugt hatte, dass der Hinterhof sicher war, setzte er den Rundgang zur anderen Seite des Hauses fort und ging dabei hinter der leeren Betongrube des ehemaligen Swimmingpools vorbei. In der hinteren Ecke des Anwesens war Danielles sogenannter Garten – nichts, was sie selbst angepflanzt hätte, sondern nur ein abgetrennter Bereich mit Wildblumen. Gelbe Nachtkerzen und purpurfarbene Bachblüten wuchsen dort ohne jede Pflege. Sie hatten ihm schon deshalb immer gefallen, weil sie auch gediehen, wenn er sie total vernachlässigte.

Und er blieb stehen, als er um die Ecke bog.

Irgendetwas hatte die Falle ausgelöst.

Etwa sechs Meter entfernt wurde die weiße Signalflagge, die an der Stelle hing, wo die Fiberglasstange mit der Schlinge sich über die Barrikade bog, von einem unsichtbaren Gewicht auf der anderen Seite heruntergezogen. Die Stange bewegte sich nicht. Was auch immer in der Schlinge gefangen war, leistete kaum Widerstand.

Marco holte tief Luft, legte den Baseballschläger ab und griff zur Glock. Er hielt sie in der schwitzigen rechten Hand.

Schon wieder ein Kojote. Oder ein Puma.

Mein Gott. Wollte er, dass sie es war, oder nicht?

In der Nähe der Stelle, wo die Schlingenstange in den Boden gerammt war, stand eine verschlissene Holzleiter. Er lehnte sie gegen die Barrikade und hielt noch einmal inne. Kein Laut von der anderen Seite. Er packte die Stange und zog daran. Sie schwankte zuerst in seine Richtung und dann wieder in die andere – ein natürliches Biegeverhalten, ohne äußere Krafteinwirkung. Trotzdem bog das Ende sich noch immer zum Erdboden auf der anderen Seite der Mauer, und die Leine war gespannt. Da war auf jeden Fall etwas. Er erklomm die ersten paar Sprossen, wobei ihm unter den Achselhöhlen und in der Leistengegend der kalte Schweiß ausbrach.

Er hielt die Luft an und streckte den Kopf über den Rand der Barrikade.

Danielle

… war nicht dort und lächelte ihn auch nicht mit verwestem Gesicht und schwarzen, verkrusteten Lippen an, wie es in seinen schrecklichen Albträumen geschah.

Er lachte kurz, allerdings nicht fröhlich, und atmete geräuschvoll aus.

Am Ende der Leine hing ein Arm. Ein behaarter Männerarm, der direkt über dem Ellbogen vom Körper abgerissen worden war. Fliegen umschwärmten das frische Fleisch und den Gelenkknochen. Der Kaninchenkadaver, den Marco als Köder ausgelegt hatte, war verschwunden. Die Drahtschlinge hatte ins Handgelenk eingeschnitten und einen purpurfarbenen, aber unblutigen Striemen verursacht – je fester man an der Schlinge zerrte, desto enger zog sie sich zu –, und Marco vermutete, dass die Leiche so lange daran gerissen hatte, bis sie unter Verlust eines Körperteils entkommen war.

Er sah sich um. Wohin auch immer das Ding verschwunden war, er sah keine Spur mehr von ihm.

Er legte die Glock auf die Mauerkrone, um beide Hände freizuhaben, und zog sich hinauf. Er lag bereits mit dem Unterleib auf der Barrikade, als er nach der Leine griff; sein Körper war mit ungünstigem Schwerpunkt ausgestreckt. Sofort erkannte er diesen Fehler – fast schon eine Vorahnung, wieder dieser »Zombie-Sinn« –, und er hakte reflexartig den Fuß unter die rostige Metallstange eines alten roten Stoppschilds, das aus der Patchwork-Barrikade ragte …

… sonst wäre er von der Barrikade gefallen, als die Leiche plötzlich aus der Deckung der Mauer auftauchte und ihn angriff.

Die Kreatur hatte sich im toten Winkel am Fuß der Mauer versteckt, wo Marco sie nicht sehen konnte – ja, er hätte auch diese Stelle kontrollieren müssen, doch diesmal hatte er das gottverdammt nicht getan, denn er war abgelenkt und erschöpft, krank an Körper und Seele. Nur so konnte es geschehen, dass das Ding ihn mit einem Zischen ansprang, als er sich über die Mauer beugte. Mit rauen Fingern umklammerte es sein Handgelenk und zerrte ihn fast einen halben Meter weit über die Mauer. Er stieß einen überraschten Schrei aus, hörte, wie die Jeans am Beton scheuerte, und spürte den Schmerz, als er sich den Fußknöchel unter dem Stoppschild verrenkte. Mit der freien Hand schlug er gegen die Wand und tastete nach der Glock.

Er konnte sie aber nicht finden. Konnte sich auch nicht umdrehen, um nach ihr zu suchen.

Er schrie und fluchte und sein Gesicht brannte vor Frustration.

Die Leiche verstärkte den Griff um sein Handgelenk. Und zog unablässig daran.

2.4

Marco lag mit der Hüfte auf der Barrikade und sah nach unten in die Augen einer männlichen Leiche mit struppigen grauen Augenbrauen und schwach ausgeprägtem Kinn. Die Augen waren auf eine widerwärtige Weise blutunterlaufen, und der klaffende Mund hatte keine Zunge mehr – doch dafür waren die Zähne noch alle vorhanden, die die Leiche nun fletschte und mit denen sie aus kurzer Distanz nach Marco schnappte.

Dort, wo sich einmal der linke Arm befunden hatte, war nur noch ein zerfetzter Stumpf zu sehen. Aber das kümmerte die Leiche nicht. Mit der verbliebenen Hand zerrte sie wild an Marco, hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht an ihn, und Marco sah schreckerfüllt, wie sein Unterarm langsam, aber stetig auf die schnappenden Zähne zugezogen wurde. Ein Biss wäre fatal; die Auferstehung wurde nämlich über große Wunden übertragen. Ein Kratzer würde einen vielleicht nicht umbringen – würden die Zähne jedoch in die Unterhautschicht geschlagen, in die Schicht, wo die Blutgefäße verliefen und der Lebenssaft strömte … wenn das geschah, dann war man erledigt.

Großer Gott – das Ding war stark. Ein Griff wie eine Handschelle.

Kalte Finger. Unlösbar.

Marco versuchte es dennoch und zog den Arm hoch, als würde er mit Hanteln trainieren. Die Nackenmuskulatur spannte sich an, und der Bizeps bebte. Er griff mit der freien Hand zur Unterstützung nach dem Ellbogen und geriet immer mehr aus dem Gleichgewicht. Verzweifelt krümmte er den Rücken zu einem Buckel, um möglichst weit oben zu bleiben; er befürchtete, das Ding könnte einen Satz machen und ihm ins Gesicht beißen.

Die Armmuskeln waren bis zum Reißen gespannt. Er kämpfte die aufsteigende Panik nieder und verspürte den schier unwiderstehlichen Drang, die Muskulatur zu entspannen. Nur dass ihm dann der Arm abgerissen würde – also krümmte er sich und versuchte, die gesamte Körperkraft im Handgelenk zu konzentrieren.

Der Arm wurde weiter heruntergezogen. Immer weiter.

Die Leiche stemmte die Füße in den Wüstenboden und grunzte wie ein Eber. Brauner Speichel aus dem verrotteten Maul des Dings benetzte Marcos Hand. Marco kniff die Augen zu und konzentrierte sich. Er glitt immer weiter nach vorn und verlor Zentimeter für Zentimeter an den toten Mann, der an ihm zog.

Hinter Marco war das Stoppschild aus der Barrikade gerutscht – nun hatte er diesen Halt auch noch verloren. Das breite Metallschild schlug scheppernd gegen den Beton und grub sich in Marcos Kniekehle, während er auf der Mauerkrone schwankte. Nun wurde er nur noch von den Oberschenkeln gehalten. Hüfte, Oberkörper und Gesicht baumelten in der Luft.

Die Verstopfung der Nebenhöhlen konzentrierte sich nun an einem Punkt hinter den Augen und machte sich als starker Druck bemerkbar, der ihm die Sinne vernebelte und Brechreiz verursachte. Fiebriger Schweiß quoll ihm aus allen Poren.

Du musst dagegen ankämpfen, sagte er sich. Die Schmerzen im Arm und im Rücken waren unerträglich.

Er wurde unaufhaltsam hinuntergezogen.

»Du musst dagegen ankämpfen«, sagte er keuchend.

Heute würde er also sterben.

Nein. Nicht heute.

Er öffnete die Augen und starrte die Leiche an. Sie erwiderte den Blick. Ihr blasses Gesicht war schon dicht an seinem; nah genug, dass Marco es hätte berühren können, wenn er das Kreuz wieder durchgedrückt hätte. Das rechte Auge des toten Mannes war durch die Anstrengung aus der Höhle getreten, und Blut rann wie Tränen die Wange herunter, an der gebrochenen Nase entlang in die Lücken zwischen den zerklüfteten Zähnen.

Einen Moment lang verspürte Marco Mitleid und sogar Verständnis – eine Kreatur, die ums Überleben kämpfte und sich damit gar nicht so sehr von ihm unterschied. Und dann zielte er, schwang den Oberkörper wie einen Schmiedehammer nach unten und rammte dem toten Mann die Stirn frontal gegen den Schädel.

Er sah Sterne und verspürte einen stechenden Schmerz, doch das verging schnell wieder; und dann sah er, wie die Leiche hart mit dem Hinterteil auf den Boden prallte, sein Handgelenk losließ und den Mund vor Erstaunen zu einer kreisrunden Öffnung formte. Marco schlug mit dem Oberkörper nach unten gegen die Mauer, sodass ihm die Luft wegblieb. Da hing er nun; das linke Bein hatte sich am Stoppschild verfangen, das in den blauen Himmel über ihm ragte.

Scheiße. Er brauchte dieses Schild.

Er versuchte mit aller Macht, das Bein zu befreien, und zuckte zusammen, als das Metall sich ins Fleisch grub. Er hörte die Leiche grunzen und schlug blindlings um sich, um den Angriff abzuwehren, von dem er nicht wusste, wie er erfolgte. Und dann löste das Schild sich aus der Mauer, knallte ihm auf den Rücken und fiel mit ihm zusammen auf den harten Erdboden.

Er rappelte sich auf und drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um die Leiche auf sich zustürmen zu sehen. Er machte einen Ausfallschritt und versetzte dem Ding einen heftigen Tritt in den Rücken, sodass es wieder bäuchlings auf dem Boden landete. Der Armstumpf zuckte, als es sich herumrollte, Staub aufwirbelte und einen üblen, fäkalienartigen Gestank absonderte. Marco wirbelte herum und suchte nach dem Stoppschild.

Dort – in einem Wüstenstrauch, einem Brittlebrush. Er bückte sich und packte die grüne Metallstange mit beiden Händen. Die Leiche ging in die Hocke und straffte sich. Dann richtete sie sich zu voller Größe auf und torkelte auf ihn zu.

Mach schnell, sagte Marco sich. Er vollführte eine Schulterdrehung und stemmte sich mit den Beinen gegen den Boden. Durch das Gewicht wurden ihm die Arme lang gezogen, und die Ellbogen drohten ausgekugelt zu werden, während das Schild über den Erdboden schrappte.

Er wirbelte einmal um die eigene Achse, um die Dynamik zu erhöhen; das Schild schrappte noch ein Stück über den steinigen Boden und löste sich schließlich. Es erhob sich seitlich in die Luft wie die Klinge einer großen achteckigen Axt und segelte an einem Panorama roter Hügel und dicker Kakteen vorbei – die majestätischen Superstitions im Hintergrund.

Bei der schnellen Körperdrehung verlor er die Leiche für einen Moment aus den Augen und hörte nichts außer dem hohlen Pfeifen der wirbelnden Klinge, die ihm schwer in den Händen lag. Er vollendete den Kreis, und da war auch schon wieder die Leiche, die wie von Sinnen auf ihn zustürmte.

Die scharfe Kante des Stoppschilds traf sie am Hals …

… drang unterhalb des Kinns in den Hals ein …

… und trat auf der anderen Seite wieder aus. Marco spürte nicht einmal einen Widerstand.

In einer fließenden Bewegung flog der abgetrennte Kopf in die Luft, und Marco holte erneut aus, vollführte eine weitere Drehung und kehrte gerade noch rechtzeitig in die Ausgangsposition zurück, um die geköpfte einarmige Leiche zu Boden gehen zu sehen. Ein Schwall einer schwarzen zähen Flüssigkeit spritzte aus dem Hals.

Marco ließ das Schild los und entspannte die Arme. Das Verkehrsschild schlitterte durch den Schmutz und blieb wieder in dem Brittlebrush stecken. Er stolperte ein paar Schritte vorwärts, um den Schwung abzufangen, und blieb dann zitternd stehen. Der Atem rasselte pfeifend in seiner zugeschnürten Kehle. Die Hände schmerzten. Die rostige Stange hatte zwei blutige Striemen auf den Handflächen hinterlassen; Verletzungen, die tagelang schmerzen würden. Er fuhr sich mit dem Arm über die Stirn und spürte, dass sie fiebrig heiß war.

Ich müsste eigentlich schon seit einer Stunde im Bett liegen.

Er ging zu der Stelle, wo die enthauptete Leiche lag – ein stinkender Haufen aus brauner Kleidung, die Beine und der eine Arm waren in drei verschiedene Richtungen ausgestreckt wie bei einer kaputten, schmutzigen Puppe. Der Kopf lag etwa einen Meter entfernt auf der Seite – das Gesicht von Marco abgewandt, als ob es schmollte.

»Hey, komm schon«, sagte Marco. »Niemand mag schlechte Verlierer.«

Er lächelte beinahe. Und dann traten ihm abrupt Tränen in die Augen und benetzten heiß die unteren Augenlider. Geh wieder ins Haus. Es haben vielleicht noch zwanzig andere Leichen diesen Lärm gehört, und sie werden hier herumschnüffeln.

Er zog sich wieder in den Schatten der Barrikade zurück und ging dabei an dem Verkehrsschild vorbei. Die weißen Buchstaben auf dem roten Achteck sprangen ihm ins Auge:

STOP

»Ich will’s versuchen«, antwortete er. »Wirklich.«

2.5

Schweißgebadet umrundete Marco das Anwesen außerhalb der Barrikade und schloss das Haupttor auf. Er kehrte auf den Hof zurück und ging von dort zur Schlingenstange; die Leiter war noch angelehnt. Er erklomm sie, wickelte die Leine auf und entfernte den Arm.

Das war ein schauderhafter Anblick – wie die noch immer elastischen Hautfetzen um den Ellbogen schlackerten. Als er den Arm berührte, schien er noch einen Rest Verwesungsgestank zu verströmen. Er rümpfte die Nase und warf die Extremität über die Mauer. Sie landete in der Nähe der kopflosen Leiche.

Nachdem er wieder in den Hinterhof zurückgekehrt war, ging er in den Schuppen und nahm eine Plastikwanne von einem Regal neben dem Generator. Er öffnete den Deckel, und der Gestank toter Kaninchen stieg ihm in die Nase. Die struppigen Kadaver waren in Reihen aufgestapelt; etwa ein Dutzend, die er draußen im Unterholz mit ausgelegten Ködern vergiftet hatte, bevor er nach Montana aufgebrochen war. Er nahm einen Kadaver von oben weg und platzierte ihn in der Schlinge, sodass die Falle wieder in der Nacht zuschnappen konnte.

Manchmal überkam ihn jedoch Ungeduld, und dann spielte er mit dem Gedanken, um die gesamte Barrikade herum Fallen aufzustellen. Doch die Befürchtung, dass dadurch die Luft im Umkreis von Meilen mit dem Fleischgeruch geschwängert und mehr Leichen angelockt würden, als er zu bekämpfen vermochte, hatte ihn bisher davon abgehalten. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, die Zombies zu einer Fressorgie einzuladen.

Ein glücklicher Gewinner pro Tag. Das war das Limit.

Nur dass er bisher noch kein Glück gehabt hatte. Keine Danielle.

Mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung beendete er die Sicherheitsüberprüfung und ging zum Haus zurück. In der Küche wusch er sich die Hände, Handgelenke und Unterarme bis zu den wunden Ellbogen hinauf, schrubbte sie geradezu masochistisch mit Seife und Peroxid ab, bis das schmutzige Gefühl verschwunden war, das der Griff der Leiche hinterlassen hatte.

Er bekam schon wieder einen klaren Kopf, und der Hals war auch nicht mehr so wund; also hatte das Sudafed vielleicht doch noch gewirkt. Er rieb sich die Augen, wobei die Augenlider über die geschwollenen Äderchen rubbelten. Es waren keine Monster auf dem Hof, deshalb konnte er wieder an Schlaf denken.

Er deponierte die Glock und den Baseballschläger oben im Wandschrank. Er fragte sich, wie Joan Roark den Rest des Tages verbringen würde, während er schlief. Er stellte sich vor, wie auch sie völlig erledigt ins Bett fiel, vielleicht noch mit einer schönen Dosis Valium.

Dann fiel ihm siedend heiß ein, dass er sich noch gar nicht bei Benjamin zurückgemeldet hatte. Er verspürte Gewissensbisse.

Scheiße.

Marco schaute sehnsüchtig den Flur entlang zum Schlafzimmer. Die Tür winkte, die verlockende Dunkelheit dahinter, die heruntergelassenen Rollos, und er spürte beinahe, wie die Schaumstoffmatratze sich an seinen erschöpften Körper schmiegte. Aber er wusste auch, dass sein Freund wahrscheinlich schon verzweifelt auf seinen Anruf wartete. Die Reise nach Montana hatte länger gedauert als die meisten anderen Aufträge, und der arme Ben vermutete wahrscheinlich schon das Schlimmste – dass Marcos Knochen irgendwo auf einem namenlosen Berg in der Sonne bleichten.

Eine kurze Rückmeldung, mehr nicht, beschloss Marco. Hallo, ich bin noch gesund und munter, und Tschüss.

Im Büro fuhr er den Computer hoch und wartete auf eine Satellitenverbindung. Es dauerte manchmal mehrere Minuten, bis die Schüssel auf dem Dach ein Signal aus dem Westen empfing, doch heute hatte er Glück; er hatte sich kaum auf seinen Stuhl gesetzt, als das Fenster der Webcam sich auch schon öffnete und Benjamins Telefon im Lautsprecher klingelte.

Marco wartete. Das Telefon klingelte unaufhörlich. Eine Minute, dann zwei. Er sah auf die Uhr. Fast schon neun Uhr morgens – er war bisher immer durchgekommen, wenn er um diese Zeit angerufen hatte. Benjamin hob normalerweise sofort ab oder ließ, wenn er nicht zu Hause war, Anrufe an sein Handy weiterleiten. Ben lebte allein in Pittsburgh. Seine Frau Trish – Danielles Schwester – war während der Auferstehung gestorben. Auf schreckliche Weise. Leichen hatten Trish vor Bens Augen von einem Evac-Fahrzeug gezerrt; der hysterisch schreiende Ben musste von Evac-Soldaten zurückgehalten werden. Er war nach Pennsylvania gezogen und hatte drei Jahre lang in einem Überlebenden-Wohnheim gewohnt – staatlich subventionierte Wohnungen, die die Garrett-Regierung hatte bauen lassen, um den Zustrom arbeitsloser Evakuierter zu kanalisieren. Im letzten Frühling war Ben dann endlich in der Lage gewesen, ein eigenes Haus in einem Vorort der Stadt zu kaufen. Er hatte bar bezahlt – mit »Leichengeld«, wie Ben es genannt hatte. Einkünfte aus sechsundzwanzig Aufträgen.

Und mit Andrew Roark waren es bereits siebenundzwanzig.

Das Telefon klingelte wieder. Marco wurde allmählich nervös. Er sehnte sich nach der Zeit vor der Auferstehung zurück, als es nicht unbedingt etwas bedeuten musste, wenn jemand nicht ans Telefon ging. Heute neigte man jedoch dazu, gleich den Teufel an die Wand zu malen.

Aber vielleicht stand Benjamin auch nur gerade unter der Dusche oder war auf dem Klo.

Sicher. Oder vielleicht gab es auch einen neuen Ausbruch der Auferstehung, überlegte Marco und verspannte sich. Und jetzt ist die andere Hälfte von Amerika auch noch im Arsch.

Das Telefon klingelte noch weitere vierzehn Mal. Marco zählte mit.

Jedes Klingeln strapazierte seine Nerven etwas mehr, und er spürte, dass die Grippesymptome sich wieder verstärkten. Der Schweiß, der Druck hinter den Augen. Komm schon, Ben.

Und dann ein lautes Klicken, und Benjamin nahm ab.

Sein Gesicht erschien sofort auf dem Bildschirm: nah und mit weicher rosiger Haut. Er trug die Brille mit dem schwarzen Drahtgestell, die ihm das Aussehen eines heruntergekommenen Dichters verlieh. Ben war tatsächlich ein Künstler, ein Maler. Und er hatte sich den Kopf kahl geschoren, seit Marco ihn zum letzten Mal gesehen hatte; er fuhr sich über den mit blonden Stoppeln besetzten Schädel.

»Mein Gott, Marco«, sagte er und schüttelte den Kopf.

»Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht«, schimpfte Marco. Absurd, aber wahr. Und als er das sagte, wurde er sich bewusst, dass er mit den Nerven wirklich am Ende war. Er brauchte definitiv eine Auszeit.

Benjamins blaue Augen weiteten sich. »Nicht zu fassen, du hast dir Sorgen gemacht? Ach so, ich verstehe – zwei Minuten lang hattest du die Situation mal nicht unter Kontrolle. Und ich warte schon seit drei Wochen darauf, dass du dich meldest, Arschloch.«

Beide Männer verstummten, und Marco spürte, dass Benjamin sich genauso mies fühlte wie er.

»Tut mir leid«, sagte Marco. »Das war wohl eine missglückte Begrüßung.«

Benjamin zuckte die Achseln. »Schon in Ordnung, Mann – tut mir auch leid. Ich hatte nur so lange schon nichts mehr von dir gehört, das ist alles.« Er lehnte sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und musterte Marco. »Du hast noch mehr Gewicht verloren.«

»Ja. Gut möglich.«

»Das ist nicht gut, Mann. Du solltest mal was essen.«

»Du hörst dich schon an wie meine Großmutter.«

Benjamin runzelte die Stirn. »Das ist mein Ernst, Marco. Du siehst aus wie ein Kriegsgefangener. Wie dieser Typ, den Rambo in Teil zwei, wo er Kriegsgefangene aus Vietnam rausholt, aus dem Wasserkäfig zieht.«

Marco lachte. Er und Benjamin waren gleich alt, doch in vielerlei Hinsicht so verschieden wie Tag und Nacht.

»Bei dem, was du gerade gesagt hast, bin ich froh, dass ich noch nie solche Filme gesehen habe«, erwiderte Marco. »Aber schon gut, ich hab’ verstanden – ich verspreche dir, dass ich in Zukunft mehr Müsliriegel mampfen werde.«

Marco sprach langsamer, als er sah, dass Benjamin den Blick plötzlich vom Bildschirm abwandte. Und dann wurde ihm bewusst, dass tatsächlich etwas nicht stimmte – seine Besorgnis war also begründet gewesen. Es war ihm zuerst gar nicht aufgefallen, doch Benjamins Gesicht wirkte ernster als sonst, und die Fältchen unter den Augen waren tiefer.

Ein untrügliches Anzeichen von Anspannung.

»Alles in Ordnung?«, fragte Marco.

»Ja, Mann.« Doch Marco konnte ihm anhören, dass eben nicht alles in Ordnung war.

»Na gut«, sagte Marco. »Das Guthaben der Roarks ist doch freigegeben worden, oder?«

Diesmal war er sich sicher, dass Benjamin zusammenzuckte. »Ja, da gab es keine Probleme.«

Zu schnell und zu vage. Ben nahm es zwar nicht so genau mit dem Geld – er meldete die Einkünfte nicht, weil weder er noch Marco mit Sicherheit wussten, ob ihre Aktivitäten überhaupt legal waren –, doch so locker nun auch wieder nicht. Marco sah, dass Benjamin sich heftig am Hinterkopf kratzte.

»Und wie ist es in Montana gelaufen?«, fragte Benjamin. »Ich nehme an, dass Roark erledigt ist.«

»Wenn du es so nennen willst«, sagte Marco. »Die Reise war anstrengend. Ich hatte Mühe, ihn überhaupt zu finden – erst beim dritten Versuch hat es geklappt. Es war wie diese alte Weisheit in Bezug auf verlorene Gegenstände: Sie sind immer dort, wo man zuletzt nach ihnen sucht. Obendrein hat es auf dem ganzen Rückweg geregnet, und jetzt bin ich auch noch krank. Fix und fertig. Die Details bekommst du morgen. Und jetzt will ich mich nur noch in ein schönes weiches Bett fallen lassen.«

Er räusperte sich und sah, dass Benjamin nervös zuckte. In Ordnung. Genug Rätselraten. »So hat das keinen Sinn, Ben – würdest du bitte Klartext reden und mir sagen, was überhaupt los ist?«

Benjamin erstarrte mit offenem Mund. Dann seufzte er und sagte: »Scheiße.«

Über den Lautsprecher hörte Marco ein Murmeln. Stimmen.

Leute. Dort bei Benjamin.

Marco legte den Zeigefinger auf den Ausschalter. »Sind ein paar Freunde zum Kaffeetrinken vorbeigekommen?«, fragte er mit einem bitteren Lächeln.

Benjamin hob die Hand. »Entspann dich, Marco«, sagte er. »Kein Grund zur Sorge – ich habe die Sache im Griff. Es sind nur ein paar Leute hier, die sich gern einmal mit dir unterhalten möchten. Mehr nicht. Neue Klienten.«

»Neue Klienten kommen aber nicht zu uns. Du gehst zu ihnen.« Marco schluckte und umklammerte die Seiten der Tastatur. Er schloss die Augen. »Gott verdammt, Ben.«

Benjamin setzte sich gerade hin und sagte trotzig: »Ich habe sie doch nicht eingeladen, um Gottes willen. Sie sind uns – dir – auf die Schliche gekommen. Komm schon, Mann, glaubst du etwa, mir würden solche Hausbesuche gefallen?« Er schüttelte den Kopf und lehnte sich wieder zurück. »Sie sind schon eine ganze Woche hier. Haben sich fast gewaltsam Einlass verschafft. Ich habe ihnen erklärt, wie das läuft … dass ich nicht wüsste, wann zum Teufel du zurückkommst. Also sind sie einfach hiergeblieben – in meinem Haus – und haben auf dich gewartet. Ich hatte keine Wahl.«

Er zeigte mit dem Daumen auf eine Stelle außerhalb des Erfassungsbereichs der Webcam. »Du wirst es schon selbst sehen, wenn du den großen Boss hier kennenlernst. Und weshalb ich sauer wurde, als du endlich angerufen hast.«

Marco versteifte sich. »Such die Schuld dafür jetzt nicht bei anderen, Benjamin.«

»Marco, Mann, du hast es immer noch nicht kapiert.« Benjamins Gesicht vergrößerte sich auf dem Bildschirm. »Ich liebe dich – du bist wie ein Bruder für mich, aber ich habe … keine … Wahl.« Er streckte die Hand nach der Webcam aus und drehte sie. Marco sah auf seinem Bildschirm einen Schwenk durch Benjamins Künstleratelier. Sein Blick fiel auf Wände, die mit farbenfrohen Gemälden im Pollock-Stil behängt waren, auf weiße Leinwände, Staffeleien …

Auf Männer in schwarzer Kampfausrüstung, die mit Gewehren bewaffnet waren.

»Oh«, sagte Marco. Jetzt wurde ihm plötzlich alles klar.

Es wurden neue Regeln aufgestellt.