Killer

8.1

Wu presste sich flach auf den Kamm des Hügels und verschmolz förmlich mit ihm; der Hautton harmonisierte mit dem Lehm, und die Bizepsmuskeln waren hart wie Stein. Er war ein Raubtier auf der Jagd, lag mit angespannten Sinnen auf der Lauer, bevor er zum Angriff ansetzte. Das war seit jeher seine Stärke gewesen, auch schon als Junge – als er seine Brüder beim Katz-und-Maus-Spiel übertrumpfte, das sie in den unbefestigten Seitenstraßen des Dorfs in Qinghai spielten, wo er seine Kindheit verbracht hatte. Er kannte noch immer diesen Kinderreim:

Die Kaulquappen im Ententeich

haben Füße nicht sogleich,

die wachsen später erst dem Tier.

Sie geben ab ihre Kiemen dafür,

dann verlieren sie ihr Schwänzelein,

ich möchte nie eine Kaulquappe sein.

Kheng Wu habe die Augen eines Kriegers, hatten die Bewohner der Stadt gesagt. Grün – die Farbe der Legende. Es war das Erbmal von Crassus’ verlorener Legion, der römischen Soldaten, die vor zweitausend Jahren in Gansu verschollen waren. Gerüchten zufolge waren sie als Söldner nach China weitergewandert und hatten auf ihrem langen Marsch exotische neue Blutlinien gezeugt. Und der junge Wu hatte bestimmt Soldatenblut in den Adern; sein Herz schlug mit der Wucht einer Kanone, und die seltenen grünen Augen funkelten, wenn er die Beute jagte und in den Schmutz warf. Er war der geborene Killer. Stark und rücksichtslos, aber nicht grausam – obwohl die Spiele immer eine Seite von ihm zum Vorschein brachten, die sonst verborgen blieb. Einmal losgelassen war er nicht mehr zu bändigen. Er nahm seine Brüder so hart ran, dass sie zum Schluss völlig erschöpft und blutig waren. Oft hatte er Jiang – der arme Jiang, der Langsamste, den man am leichtesten ausmanövrieren und übertölpeln konnte – zu Boden geworfen und so getan, als ob er ihn fressen wollte, während die anderen Jungen den siegreichen Tiger bejubelten. Und dann hatte Wu ihm mit der großmütigen Geste des Siegers wieder auf die Beine geholfen, und sie waren zur Wasserpumpe gegangen, um den Schmutz aus Jiangs aufgeschürften Ellbogen zu waschen. Anschließend waren sie zum Abendessen in Bao Zhis Hütte zurückgekehrt.

Und nach all diesen Jahren war aus dem Spiel nun Ernst geworden.

In ungefähr dreißig Metern Entfernung sah er auf der Böschung den gefangenen Marco, der mit Handschellen an ein Quad gefesselt war. Ein abgerissener bärtiger Mann in zusammengewürfelter Bekleidung hockte neben dem Amerikaner.

Wer war dieser Feind? Dass er kein richtiger Soldat war, stand schon einmal fest – Wu war sich sicher, dass er keiner regulären Armee angehörte. Allem Anschein nach war der Mann ein Deserteur. Miliz?

Ja. Ein Extremist in einer Privatarmee, vermutete Wu; schon vor der Auferstehung war Amerika von solchen Spinnern geplagt worden; von solchen Typen, deren Braut ihr Gewehr war.

Doch dieser Mann hatte es speziell auf Marco abgesehen – hatte ihn entführt. Und Wu hatte vor ein paar Augenblicken gehört, dass der Soldat Roger Ballards Namen erwähnt hatte.

Welche Miliz verfügte über ein solches Wissen, das sonst nur hochrangigen Geheimnisträgern vorbehalten war?

Und plötzlich wusste Wu Bescheid. Er spähte zu dem Quad und musterte es gründlich. Es war ein Modell »Eber« mit verbesserter Geländegängigkeit und Spezialausstattung für den militärischen Einsatz. Und dort, am Kühlergrill, wie er schon vermutet hatte …

… prangte ein Pferdeschädel. Er war stark ausgebleicht, und der Unterkiefer fehlte.

Ein Reiter, sagte Wu sich. Er spannte die Kiefermuskeln an. Das MSS hatte ihm beim Briefing auch ein Profil der Reiter präsentiert – Überlebenskämpfer, Anarchisten, eine postapokalyptische Armee, die sich irgendwo in den Wäldern von Kalifornien verborgen hielt. Die meisten von ihnen waren ehemalige Soldaten, gut trainierte und tödliche Kampfmaschinen; viele waren auch Aussteiger mit einem langen Vorstrafenregister, die froh waren über Amerikas Niedergang. Sie hatten die Evakuierung ignoriert, lebten auf dem Land – als Jäger und Sammler – und betätigten sich als Grabräuber der Zivilisation: Sie sammelten Bargeld und Schmuck, Waffen und Medikamente und was sie sonst noch alles in verlassenen Häusern und bei ausgebleichten Skeletten fanden. In Mexiko gab es einen großen Schwarzmarkt für diese fragwürdige Handelsware. Die südlichen Grenzen waren leicht zu überwinden. Wie schon vor der Auferstehung klafften große Lücken in der Grenzsicherung, und die Reiter verdienten gut damit, geraubtes Gut nach Mittel- und Südamerika zu transportierten: die Regionen, die von der Auferstehung noch nicht heimgesucht worden waren.

Wu runzelte die Stirn. Die Reiter waren gefährlich. Und zu allem Übel hatten sie auch noch Kontakte ins Ausland; das MSS hatte sie mit Terrororganisationen in Kasachstan und im Iran in Verbindung gebracht. Und jetzt waren sie auch noch auf der Suche nach der Ballard-DNA. Vor Wus geistigem Auge erschienen gesichtslose Terroristen, die im Dunkel lauerten und verschlüsselte Funksprüche aus den USA decodierten. Oder noch schlimmer: Sie hatten Informationen, die MSS-Agenten nach Peking weitergeleitet hatten, abgefangen und verfügten nun auch über das Wissen, das China sich durch das Hacken amerikanischer Großrechner angeeignet hatte.

Unterm Strich hatten die Terroristen bisher aber keine entscheidenden Erkenntnisse gewonnen, sagte er sich – so wichtige Details wie Ballards Aufenthalt in Sarsgard waren ihnen unbekannt. Für die Reiter stand es fest, dass Marco sie zu ihm führte. Sie waren wie Hyänen, die die Beute eines Löwen umkreisten und hofften, einen Happen zu schnappen. Sie wollten so lange warten, bis die Supermächte einen Impfstoff entwickelt hatten, und ihn dann stehlen und an ihre Terroristenfreunde verkaufen. Reiter waren Söldner – aber sie waren hoch motiviert und verstanden ihr Handwerk.

Diesen Feind zu besiegen würde schwierig werden. Sehr schwierig.

Was bedeutete, dass Wu sich nicht noch mehr Fehler wie den erlauben durfte, den er kürzlich im Sunset Limited gemacht hatte. Er hatte zwar gewusst, dass der Zug verfolgt wurde, aber leichtsinnigerweise angenommen, es handele sich um einen Agenten auf einer Solomission. Du Narr! Als Wu den Zug beschleunigt hatte, um das erste Reiter-Quad abzuschütteln, hatte der Fahrer einfach einen Funkspruch an einen Kameraden fünfzig Kilometer weiter nördlich abgesetzt.

Der zweite Reiter hatte dann mit dem Gas-Granatwerfer bereitgestanden, und Wu war ihm prompt in die Falle gegangen.

Wie viele von ihnen noch da draußen waren? Durch ganz Kalifornien patrouillierten? Aus allen Himmelsrichtungen durch die Wüste fuhren, um sich Henry Marco zu schnappen, während Wu hier mit Spekulationen Zeit vergeudete? Ein Reiter war schon schlimm genug. Du musst jetzt zuschlagen, bevor noch mehr auftauchen.

Als die Gasgranate vor einer halben Stunde in die Lokomotive geschossen worden war, war Wu vom Jäger zum Gejagten geworden. Er hatte sich auf das eigene Überleben konzentriert und ärgerte sich nun über die Rückstufung in der Nahrungskette. Er hatte sich auf den Boden geworfen, tief eingeatmet, und dann hatte orangefarbener Qualm den Führerstand erfüllt. Eine Lunge voll Sauerstoff – das war alles, was man ihm zugestanden hatte, und mehr brauchte er auch nicht. Er kroch, vom Rauch verfolgt, auf Händen und Knien den Gang entlang. Er schlängelte sich gerade über die mumifizierten Leichen der Mechaniker hinweg, als er hörte, wie Marco im Qualm würgte und gegen die Konsole prallte.

Wu konnte im Moment nichts für ihn tun. Seine Lunge schmerzte, und die Augen brannten wie Feuer. Schließlich erreichte er die Tür zum nächsten Waggon, hieb auf die Taste und brach zusammen, als die Tür sich noch öffnete. Ein paar Rauchschwaden züngelten nach ihm, doch dann schloss die Tür sich und schnitt sie ab.

Keuchend rollte er auf den Rücken. Die Augen tränten und wuschen das giftige Gas aus. Vom Fahrgestell des Zuges hörte er das Zischen der Luftdruckbremsen und verspürte einen kurzen Moment ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Der Zug wurde langsamer. Weil niemand mehr am Führertisch stand, hatte der Totmannwarner die Maschinen abgeschaltet und die Bremsen betätigt.

Er hustete und stieß einen bitter schmeckenden Schleimklumpen aus. Er bekam wieder einen freien Kopf und konnte klar denken.

Marco.

Der Amerikaner war zweifellos noch am Leben. Das Gas war nicht tödlich; Wu kannte den Gestank von Kolokol-1, einem alten sowjetischen Betäubungsgas, das noch immer illegal produziert wurde.

Natürlich ein Betäubungsgas. Eins mit tödlicher Wirkung wäre auch unsinnig gewesen; der Feind brauchte Marco schließlich lebendig, wenn er sie zu Roger Ballard führen sollte.

Wu versteifte sich und setzte sich aufrecht hin.

Der Feind brauchte nur Marco. Sie hatten wahrscheinlich den Befehl, Wu sofort zu exekutieren. Er konnte natürlich flüchten und versuchen, sich zu retten … Wenn sie jedoch feststellten, dass er nicht mehr im Zug war, würde Alarm geschlagen und die ganze Gegend abgesucht, bis man ihn gefunden und getötet hatte.

Was konnte er also dagegen unternehmen? Er zerbrach sich den Kopf, wälzte Ideen, und wenig später hatte er einen Plan entwickelt – zwar riskant, aber immerhin ein Plan. Doch die Zeit wurde knapp. Er musste handeln.

Er rappelte sich auf und drückte mit dem Ellbogen auf den Türöffner. Als die Tür stöhnend aufging, atmete er tief ein und füllte die Lunge wieder mit Luft.

Dann lief er in die von Rauch erfüllte Lokomotive zurück.

Der Qualm schlug über ihm zusammen und tauchte ihn in ein gespenstisches orangefarbenes Glühen. Sein Blick reichte zwar nicht weiter als bis zu den ausgestreckten Händen, aber er konnte sich nach dem Gedächtnis orientieren. Die toten Mechaniker erschienen zu seinen Füßen. Ohne zu zögern, packte er die obere Leiche an den Schultern und zog daran; schließlich löste sie sich mit einem lauten Knacken von der darunterliegenden Leiche.

Bisher klappte alles. Jedoch spürte Wu ein seltsames Ziehen zwischen den Rippen – er brauchte Luft. Beeile dich.

Mühsam schleppte er die Leiche nach vorne in den Führerstand. Marco lag dort reglos auf dem Boden, doch Wu hatte keine Zeit, ihm den Puls zu fühlen; er ließ die Leiche neben Marco auf den Boden fallen und drehte sie auf den Bauch.

Seine Uniformjacke hing über dem Hocker am Führertisch; er schnappte sie sich und streifte sie dem Mechaniker hastig über. Ein Täuschungsmanöver, das im verqualmten Führerstand durchaus Aussicht auf Erfolg hatte – allerdings nicht bei einer gründlichen Inspektion. Wu konnte nur hoffen, dass die ausfallen würde.

Die Seitentür der Lokomotive klapperte im Rahmen, und er schreckte auf.

Sie waren hier. Drangen ins Führerhaus ein.

Seine Lunge drohte zu platzen. Los jetzt! Er hatte keine Zeit mehr, im Qualm den Rucksack zu suchen. Verzweifelt umklammerte er seinen Hals, um die Luftröhre zu blockieren – nur ein Atemzug, und er würde erst das Bewusstsein und dann das Leben verlieren –, und rannte den Gang entlang, wobei die Messer am Gürtel hin und her baumelten. In dem Moment, als die Seitentür sich mit kreischenden Angeln öffnete, rannte Wu durch die Hintertür in den Durchgang zum ersten Waggon und duckte sich, während die Tür sich hinter ihm schloss.

Er riss den Mund auf und spürte, wie frischer Sauerstoff den Körper belebte.

Gierig sog er die Luft ein und wartete … eine halbe Minute verging … Er hatte die Mandarinenten-Haken gezückt und war bereit zuzustechen, wenn die Tür aufging … falls jemand ihn verfolgte.

Aber nichts geschah.

Vorsichtig stand er auf und lugte durchs Sichtfenster.

Das Gas hatte sich inzwischen so weit verdünnt, dass er durch den Korridor bis zum Führerstand sehen konnte. Er erkannte einen breitschultrigen Soldaten – nur einer, dachte Wu mit steigender Zuversicht –, der mit einer olivgrünen Uniformjacke und einem Barett bekleidet war und gerade am Führertisch zugange war. Der Mann, dessen Gesicht hinter einer schwarzen Gasmaske verborgen war, durch die er Darth Vader ähnelte, leuchtete mit einer Taschenlampe im Führerstand umher. Der Strahl fiel auf das Gesicht des bewusstlosen Marco …

… und verharrte dort, als ob der Mann nachdenken würde.

Dann wanderte der Lichtstrahl einen Meter weiter und erfasste den toten Mechaniker, der in der amerikanischen Uniformjacke steckte und mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag.

Wu verspannte sich und versuchte, den Mann durch die schiere Kraft seiner Gedanken zu beeinflussen.

Komm schon. Traue deinen Augen. Sei ein Narr.

Der Soldat bückte sich und legte dem bewusstlosen Marco Handschellen an. Dann stand er auf und zog eine Pistole aus dem Gürtel. Er zielte nach unten und gab zwei Schüsse in den Hinterkopf des toten Mechanikers ab.

Die Schüsse hallten wie Lachsalven in Wus Kopf wider. Er lächelte kalt und selbstzufrieden, als der Soldat die Waffe wieder einsteckte, Marco an den Fußknöcheln packte, ihn zur offenen Tür zog und nach draußen brachte.

Erleichtert drehte Wu sich um und rutschte an der Wand hinab. Der Gestank des Gases hatte sich in seinem Hemd festgesetzt. Er rümpfte die Nase und wischte sich die gereizten Augen mit dem Arm ab.

Wu wartete noch zehn Minuten, bis er sicher war, dass der Soldat den Zug wieder verlassen hatte. Dann kroch er nach draußen auf die Böschung. Die Morgensonne erhob sich gerade über die Hügel. Die Hitze brannte auf seinen Schultern wie ein Peitschenhieb.

Er sah, wie der bärtige Reiter hügelab Marco einen heftigen Schlag mit dem Handrücken versetzte. Wu zuckte zusammen und spürte heißen Zorn in sich aufwallen. Er runzelte die Stirn und wunderte sich über diese Reaktion. Ob der Amerikaner litt, war ihm egal – oder sollte es zumindest sein –, und doch hatte Wu das Gefühl, dass er persönlich betroffen war. Beleidigt. Ja, das war die Erklärung.

Henry Marco gehörte Wu, und Wu allein würde über die Bestrafung entscheiden.

Er verdrängte den Gedanken. Im Moment kam es darauf nicht an. Nur darauf, den Amerikaner lebend zurückzuholen, bevor noch mehr Milizionäre eintrafen …

Er riss die Augen auf.

Der Reiter hielt einen Zünder in der Hand.

Sofort versetzte Wu sich in die Lage des Feindes und erkannte die Logik seines Handels. Die Lokomotive war mit Sprengstoff präpariert worden – Plastiksprengstoff, dachte er flüchtig, C4 oder russischer PVV, obwohl das nun auch keine Rolle mehr spielte –, damit sie nicht mehr von anderen feindlichen Agenten benutzt werden konnte, die vielleicht noch hier auftauchten. Der Zug stand zehn Meter über ihm auf dem Hügel; so nah, dass er noch den beißenden Geruch des Gases zu riechen vermochte. In seinem Kopf formte sich ein Wort, hell und kurz wie ein Blitz – los! –, und dann reagierte er instinktiv; er katapultierte sich den Hügel hinab, weg von den Schienen, als die Explosion die Stille des Morgens zerriss und eine Feuerwalze über die Stelle hinwegrollte, an der er sich eben noch befunden hatte.

Einen Moment lang wurde er vom Blitz der Explosion geblendet, und er stürzte die Böschung hinunter. Er war sich aber ziemlich sicher, dass der Reiter ihn nicht bemerken würde – er vermutete, der Mann beschirmte die Augen vor der Explosion. Nach einer Rolle kam er wieder auf die Füße und sprintete zu den niedrigen Büschen in der Nähe der Stelle, wo Marco gefesselt auf der Erde lag. Er warf sich flach auf den Boden und verschmolz mit den Schatten, während Metallsplitter des explodierten Zugs mit lautem Scheppern auf die Schienen regneten.

Er blieb schwer atmend und angespannt dort liegen. Aber sein Kalkül war aufgegangen; sein Sprung in die Sicherheit war nicht bemerkt worden, und der Reiter griff ihn nicht an.

Nach wenigen Momenten war die Wüste wieder ruhig.

Aber nicht Wu. Er tobte innerlich und verfluchte den Reiter. Und er verfluchte sich selbst. Sein Rucksack und das Handy waren in der Lokomotive gewesen. Beides konnte er nun abschreiben. Er kniff die Augen zu und stieß die Luft aus.

Konzentriere dich, sagte er sich und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Beruhige dich. Plane den nächsten Schritt.

Schließlich hatte seine Atmung sich wieder beruhigt, und er schlich geschmeidig und lautlos wie ein Tiger um den Busch.

Jetzt war er in seinem Element – er war wieder der Jäger und lauerte mit gespitzten Ohren, angespannten Muskeln und geblähten Nasenlöchern auf den süßen Geruch der Beute. Er erreichte den Rand des Buschs und lugte durch die knorrigen Zweige. Der Söldner befand sich drei Meter unterhalb von ihm auf dem Hügel; er hatte sich über Marco gebeugt und ihm eine Pistole in den blutigen Mund gesteckt.

»Oder peng«, sagte der Soldat. »Wie bei Wu.«

Der Reiter lachte.

Diese blasphemische Nennung seines Namens erzürnte den ohnehin schon zornigen Wu noch mehr, und er spannte die Beinmuskeln an. Sein Körper schmerzte wie eine komprimierte Feder, die flehte, endlich losgelassen zu werden. Noch nicht.

Er grub die Fingernägel in den Erdboden, und der Schmerz diente ihm als mentaler Anker. Schweiß perlte auf seiner Haut und verdampfte in der frühmorgendlichen Wüstenhitze.

Er wartete. Geduld.

Schließlich zog der Soldat die Waffe wieder aus Marcos Mund und stand auf.

Jetzt!

Wu ließ seinem Zorn freien Lauf und setzte zum Sprung an – in der Luft visierte er seine Beute an, suchte die weiche Stelle im Nacken, in der er die Messer versenken wollte …

… doch die Sinne des Reiters waren ebenfalls geschärft, und seine Reflexe waren besser, als Wu vermutet hätte. Beim Geräusch kullernder Kieselsteine drehte der Soldat abrupt den Kopf, wirbelte herum …

… und als die Pistole losging und die Kugel ihn am Arm traf, wurde Wu sich bewusst, dass er sich verkalkuliert hatte – dass dieser abgerissene Soldat keine Beute war, sondern ein perfekter Killer wie er selbst –, und mit dem dumpfen Geräusch aufeinanderschlagender Knochen rollten die beiden blutverschmierten Räuber den Hügel hinunter. Es ging jetzt nur noch darum, wer wem die Kehle aufschlitzte und wer weiterleben würde, um wieder auf die Jagd zu gehen.

8.2

Marco sah zu. Es blieb ihm auch nichts anderes übrig, als zuzusehen – mit Handschellen ans Quad gefesselt und auf dem schmutzigen Erdboden liegend –, wie der bärtige Soldat mit erhobener Pistole herumwirbelte, ein schneller Schemen ihn von oben ansprang und die Waffe losging. Marco rollte hilflos herum und schloss schon einmal mit dem Leben ab.

Stattdessen ging jedoch der Soldat zu Boden. Angegriffen von einer … Leiche, sagte Marco sich, und sein Herz setzte einen Schlag aus.

Aber nein, Gott sei Dank … es war Wu.

Wu! Er blutete, war aber am Leben. Ein Schuss. Die Kugel hatte ihn gestreift und ein Stück Fleisch aus seinem Arm gerissen. Aus der Wunde spritzte es rot wie aus einem dämonischen Sprinkler, als Wu und der Soldat zwei ineinander verbissenen Tieren gleich den Hang hinunterrollten.

Die zwei Kämpfer landeten schließlich in einem letzten Salto auf dem Wüsten-Highway und kamen wieder auf die Beine. Sie sprangen auf wie Akrobaten, die eine misslungene Figur abbrachen. Beide Männer waren blutüberströmt, aber zum Äußersten entschlossen. Der Soldat schlug zuerst zu – ein wuchtiger Schlag gegen Wus linke Schulter, die durch die Schussverletzung schon stark in Mitleidenschaft gezogen war. Wu stieß einen lauten Schmerzensschrei aus und taumelte zurück, und der Soldat setzte nach und schlug wieder zu – diesmal versetzte er Wu mit der Pistole, die er noch in der Hand hielt, einen Schlag gegen das Kinn. Das laute Knacken ging Marco durch Mark und Bein. Wus Beine gaben nach, und er fiel auf den Rücken. Sofort hob der bärtige Mann die Waffe und zielte auf Wus Oberkörper …

»HEY!«, schrie Marco.

Der Soldat zuckte zusammen – kaum merklich, und er drehte auch nur ganz kurz den Kopf, doch das genügte schon.

Der auf dem Boden liegende Wu schien förmlich zu explodieren.

Ein weißer Lichtblitz verzehrte ihn, durchzuckte die Wüste und war im nächsten Moment schon wieder verschwunden. Marco sah, dass Wu wieder auf den Beinen war; die sichelförmige Klinge in seiner Hand reflektierte das Sonnenlicht. Aus dem Handgelenk schleuderte er das Messer wie einen tödlichen Diskus auf den abgelenkten Soldaten. Die Klinge rotierte zweimal und traf den Soldaten in die Waffenhand.

Der Mann stieß einen Schrei aus, als seine Schusswaffe scheppernd auf die Straße fiel und die abgetrennten Fingerkuppen davonflogen. Die Finger verspritzten Blut wie Schlauchdüsen. Der Daumen baumelte schlaff an der Hand. Er wurde nur noch von einem Fleischstrang gehalten – ein schauderhafter Anblick.

Wu war sofort wieder auf den Beinen und sprang auf seinen Gegner zu. In einer fließenden Bewegung kickte er die Pistole vom Highway ins Gestrüpp und schickte den Mann durch einen Tritt gegen die Fußknöchel auf den Asphalt.

Und dann wurde Marco von unerwartetem Lärm abgelenkt. Es hörte sich wie ein lautes Splittern an.

Die Bar auf der anderen Straßenseite. Bill’s. Die Tür war aufgebrochen worden.

Eine Leiche wankte ins Tageslicht. Sie hatte angefaulte Haut und war mit einer rot karierten, ärmellosen Weste bekleidet. Die Haut des kahlen Kopfes schälte sich ab, und das Haar an den Schläfen schlackerte in langen, zotteligen Strähnen um die Ohren. Der Mund klaffte bizarr auf; der Unterkiefer war gebrochen und hing der Leiche bis auf die Brust hinunter. Man sah das ganze untere Gebiss mit den verfaulten, hässlich braunen Backenzähnen und eine gespaltene Zunge, deren zwei Hälften obszön ineinander verschlungen waren. Die Leiche stolperte ein paar Schritte auf den schmutzigen Parkplatz hinaus wie ein Betrunkener, der nach einer durchzechten Nacht sein Auto suchte.

Nur dass dieses arme Schwein es anscheinend zu arg getrieben hatte.

»Ach du Scheiße«, sagte Marco stöhnend.

Die Leiche hatte noch ein paar Zechkumpane.

Die Bar leerte sich, und die Toten strömten rudelweise durch die Tür, angelockt durch die Explosion und den Faustkampf auf dem Highway. Sie kamen über den Parkplatz auf Wu und den Soldaten zu.

»Wu!«, rief Marco.

Auf der Straße war der Soldat wieder auf die Beine gekommen. Seine Waffenhand war unbrauchbar; das aus ihr quellende Blut fiel in dicken Tropfen auf den staubigen Asphalt und gerann sofort. Doch in der linken Hand hielt er nun auch ein Messer: ein großes Jagdmesser mit gezackter Klinge, mit dem er nun wie ein Berserker ausholte. Wu wich ihm aus und parierte den Schlag mit seinem noch verbliebenen Messer. Das laute metallische Geräusch, mit dem die beiden Klingen aufeinandertrafen, wurde den Hügel hinaufgetragen – und in diesem Moment erreichte die erste Leiche den Highway.

Hinter ihr folgte noch ein Dutzend weitere. Marco warf einen Blick zur Tür und sah, dass noch mehr Männer aus der Bar kamen – mit milchigen Augen, Trucker-Kappen, Cowboyhüten und Jeans mit Blut- und Bierflecken. Bei manchen klafften tiefe Schnittwunden im Hals, andere zogen ihre Eingeweide hinter sich her. Tote Männer, die bis in alle Ewigkeit an ihrer Lieblingstränke ausharrten. Und da war auch noch eine Frau, eine Kellnerin in einem kurzen Rock und mit schmierig-schwarz glänzenden Schenkeln. Sie hielt einen gläsernen Krug in der Hand. Und die Nachhut des Rudels bildete eine jüngere Leiche. Sie war allem Anschein nach noch minderjährig, hatte verschorfte Haut, schwarze Mitesser und einen knochigen Adamsapfel. Marco hätte wohl Mitleid mit ihr gehabt, wenn er nicht so eine Scheißangst gehabt hätte.

»Wu!«, rief er wieder. »Hinter dir!«

Doch Wu hörte nicht zu – konnte nicht zuhören –, denn der bärtige Mann holte schon wieder aus und durchschnitt mit dem Messer die Luft, wo sich gerade noch der Kopf des sich wegduckenden Wu befunden hatte …

… und machte einen Satz und rammte Wu den Ellbogen direkt über dem Auge gegen die Stirn; Wus Kopf flog zurück, und er ging wieder zu Boden, fiel den sich nähernden Leichen direkt vor die Füße. Die Toten waren nur noch fünf Schritte entfernt und glaubten, die Beute schon sicher zu haben.

Nein!

Die Erkenntnis, dass er Wu gleich würde sterben sehen, nachdem der ihm vor Kurzem das Leben gerettet hatte, traf Marco wie Sporen, die einem lahmen Gaul in die Flanken gerammt wurden. Er verspürte einen glühend heißen Adrenalinstoß. Du hast lang genug untätig zugeschaut. Tu etwas!

Er holte tief Luft und zerrte heftig an der Kette, mit der er an das Quad gefesselt war; sie straffte sich, und die Handschellen schnitten ihn schmerzhaft in die Gelenke. Es war völlig ausgeschlossen, die Hände freizubekommen – es sei denn, er würde jeden verdammten Handknochen zertrümmern. Scheiße! Er setzte sich mühsam auf, die Arme über dem Kopf verdreht, um besser sehen zu können …

… gerade noch rechtzeitig, um mitzubekommen, dass Wu wie von einer Feder geschnellt aufsprang und der Vokuhila- Leiche auswich, die zu einem Schlag gegen ihn ausholte. Die Horde der Toten rückte in einer Phalanx von der Bartür bis zum Highway vor. Und es kamen noch mehr. Wu sah sie nun alle – fünfzig hungrige, verweste Betrunkene, die ausschwärmten, während der feindliche Soldat ihn schon wieder frontal angriff.

Er ist erledigt, erkannte Marco plötzlich mit schrecklicher Gewissheit. Doch während Wus Augen sich noch erstaunt weiteten, war sein Körper schon in Aktion – mit einem Tritt rückwärts traf er die kahlköpfige Leiche voll gegen die Brust, sodass sie sich auf ihren knochigen Arsch setzte, und dann trat Wu blitzschnell mit dem anderen Fuß zu, sodass beide Bewegungen zu einer einzigen verschmolzen, und traf den angreifenden Soldaten direkt unterm Kinn. Der Mann taumelte zurück, stieß einen feuchten, gurgelnden Laut aus und fasste sich an die Kehle.

Marco hätte fast erleichtert gelacht. Heilige Scheiße, Wu. Dem hast du’s aber gegeben.

Der bärtige Soldat spuckte Blut und Rotz auf den Highway, hob das Messer und ging in Kampfstellung – den Arm angewinkelt und das Messer nach vorn gerichtet. Inzwischen waren andere Leichen vom Parkplatz hinter ihnen zur Straße vorgerückt und hatten die kämpfenden Männer zwischen zwei Fronten eingeschlossen. Der Soldat leckte sich die Lippen und grinste; Blut quoll aus der verwundeten Hand, als er die Fingerstummel krümmte und Wu damit zum Angriff einlud.

Die Botschaft war klar. Bringen wir es zu Ende.

Im ersten Moment wirkte Wu zu müde, um noch weiterzukämpfen. Erschöpft. Seine Schulter sah furchtbar aus; sie schillerte türkis und war mit Blut verkrustet. Es war auch noch Schmutz in die Wunde geraten. Der Brustkorb hob und senkte sich im Wechsel der mühsamen Atemzüge. Er schwankte, als ob die Fußknöchel jeden Moment einknicken würden. Das sichelförmige Messer baumelte in der Hand, als wäre es ihm plötzlich eine zu schwere Last geworden.

Und dann stieß Wu zu Marcos Erstaunen ein Brüllen aus – einen gellenden Kriegsschrei – und griff an.

Und was dann geschah, war der reine Wahnsinn.

Wu und der Soldat prallten zusammen und explodierten förmlich, und die Leichen liefen auf dem Highway Amok – es war ein Chaos aus Zombies und zwei kämpfenden Menschen in der Mitte.

Marco konnte nicht glauben, was er da sah – konnte nicht atmen, konnte nicht einmal blinzeln. Mein Gott

Der bärtige Mann schlug mit der Schnelligkeit eines Skorpions zu. Seine Messerklinge fegte nur ein paar Zentimeter über Wus Kopf hinweg, dann wurde er von hinten von einer Leiche mit einem Pferdeschwanz angegriffen. Der Soldat wirbelte herum, stieß der Leiche das Messer ins Ohr und zog es mit einem leisen schmatzenden Geräusch wieder heraus …

… während Wu sich duckte und einer dürren Biker-Leiche, die mit einer Bandana und einer mit Nieten beschlagenen Lederweste bekleidet war, einen Fersenkick gegen das Bein versetzte. Die Kniescheibe der Leiche wurde abgerissen und fiel in einer klebrigen Pfütze auf den Asphalt. Schon bevor die Leiche zu Boden ging, war Wu schon wieder auf den Beinen und hielt sich schützend das Messer vors Gesicht, um die Klinge seines Gegners zu blocken, die mit einem schrillen Quietschen daran abglitt …

… und dann packten die zwei toten Männer mit den Baseballkappen den bärtigen Soldaten an den Armen. Der Soldat riss die Ellbogen wie Schmiedehämmer zurück, zertrümmerte die weichen Nasenbeine der Toten und hinterließ tiefe Einschläge in ihren Gesichtern, und seine Arme schnellten wieder vorwärts und bohrten die Messerspitze in die Schusswunde in Wus Schulter.

Wu krümmte sich vor Schmerz …

… und immer mehr Leichen drangen von links und rechts auf sie ein, zogen den Kreis immer enger, bis ein richtiger Dreifronten-Krieg zwischen Wu und dem Soldaten und einem Haufen knurrender Leichen ausbrach.

Alle vom gleichen instinktiven Hunger getrieben. Dem gleichen Bedürfnis zu töten.

Marco war wie benebelt; er hatte den Atem angehalten, seitdem das Chaos ausgebrochen war – überwältigt von der Dynamik der Ereignisse und dem Geschick der Kämpfer. Es war, als hätte er einen Film in zwei Geschwindigkeiten zugleich gesehen: einerseits die Toten, die sich hölzern und träge bewegten, andererseits der Soldat und Wu mit wahnwitzig schnellen Bewegungen, als würde die Zeit um sie herum langsamer ablaufen, während sie den Leichen und sich gegenseitig unglaubliche Schlag- und Trittkombinationen versetzten. Es ging um alles oder nichts, und schon ein einziger Fehler, die geringste Fehleinschätzung der Geschwindigkeit oder Distanz würde zwischen Leben und Tod entscheiden.

Von dieser Vorstellung überwältigt, stieß Marco heftig die Luft aus und atmete tief ein.

Er bekam wieder einen klaren Kopf …

Ach du Scheiße.

Sechs oder sieben Leichen hatten die Straße überquert und erklommen die Böschung.

Sie kamen auf ihn zu.

Eine schnelle und einfache Mahlzeit, die da an das Quad gekettet war.

8.3

Beim Anblick der Leichen, die zu ihm heraufkletterten, bäumte Marco sich auf wie ein wilder Mustang. Er zerrte mit seinem ganzen Gewicht an der Kette; sie klirrte höhnisch und blieb fest um die Stoßstange des Quads geschlungen. Aber er versuchte es weiter, bis er Schmerzen wie Nadelstiche in den Schultern verspürte. Dann ließ er es bleiben. Hat keinen Zweck. Stattdessen stand er mühsam auf und krümmte sich, damit er sich nicht die Ellbogen auskugelte.

»Wu!«, schrie er und kam sich sofort wie ein Idiot vor.

Ja, genau.

Es bestand keine Aussicht, dass Wu ihm auch diesmal wieder aus der Patsche half – Wu steckte da unten auf der Straße selbst bis zum Hals in der Scheiße. Der Sergeant war gerade damit beschäftigt, einen skelettierten schwarzen Mann zu Boden zu schicken, während der feindliche Soldat neben ihm mit einer fetten alten Leiche in einem von Motten zerfressenen Dodgers-Trikot rang. Dann griff auch noch die tote Kellnerin ins Gefecht ein und schlang Wu von hinten ihren dürren Arm um den Hals. Wu reagierte sofort; er riss der Frau den Bierkrug aus der Hand und schlug ihr das Glas gegen die schwarzen Zähne. Das Zahnfleisch brach auf, und sie verschluckte ihre Zähne …

… während der bärtige Soldat der fetten Leiche ein ranziges Stück Speck aus dem Wanst schnitt, dann herumwirbelte und die blutige Messerspitze auf Wus Herz richtete …

… Doch Wu wich ihm blitzschnell aus, und der Soldat versenkte die Klinge stattdessen im Stammhirn der weiblichen Leiche, die sich noch immer an Wus Rücken klammerte.

Verdammt. Marco musste eine andere Lösung finden, und zwar schnell. Er ließ den Blick über die Böschung unter sich schweifen und überschlug, in wie vielen Sekunden die Leichen ihn voraussichtlich erreichen würden – Fünfzehn? Zwanzig? –, dann konzentrierte er sich wieder auf seine Handgelenke, die stabile Kette, die Stoßstange, das Quad …

Du blödes Arschloch.

Die Lösung war so gottverdammt offensichtlich, dass er sich verfluchte, weil er sie nicht schon viel früher erkannt hatte.

Die Waffen des Soldaten. Sie waren keine anderthalb Meter von ihm entfernt an dem Allradfahrzeug befestigt.

Die Kette ließ ihm genug Bewegungsfreiheit, um dorthin zu gelangen; er riss das Maschinengewehr los, aber die Waffe war so klobig, dass er sie mit gefesselten Händen nicht halten konnte. Das hatte keinen Zweck. Scheiße. Na schön, dann würde er sich eben mit der Schrotflinte behelfen müssen. Zwei Schuss.

Falls sie überhaupt geladen war.

Mit einem angestrengten Grunzen drückte er den Kolben gegen die Schulter und zielte die Böschung hinab. Die Leichen bildeten eine kompakte Gruppe; sie waren noch ein paar Schritte entfernt und wurden von einem Mann mit losen Hautfalten und geflochtenem Bart angeführt. Gebrochene Rippen stachen wie Dorne durch die Haut auf der rechten Seite seiner Brust. Marco visierte ihn mit der Schrotflinte an und feuerte; durch den Rückstoß wurde Marco zurückgeschleudert und prallte gegen das Quad, aber der Schuss war ein Volltreffer. Der Kopf des Mannes verdampfte in einer Wolke aus schwarzem Nebel; er ging zu Boden, und das Gehirn rutschte wie ein Pudding aus dem Kopf heraus und klatschte in den Schmutz.

Marco legte keine Pause ein, um sich zu diesem Erfolg zu gratulieren. Die Schrotflinte ging wieder los, verteilte weiträumig den Sauposten und perforierte die minderjährige Leiche, die er zuvor gesehen hatte – wussten deine Eltern überhaupt, dass du getrunken hast?, ging es Marco durch den Kopf –, und die Vokuhila-Leiche daneben. Beide wurden zurückgeschleudert und rollten den Abhang hinunter.

Zwei auf einen Streich. Bonuspunkte. Sehr schön.

Doch nun war die Schrotflinte nutzlos, und es waren immer noch vier Leichen übrig – drei Männer und eine Frau mit nacktem Oberkörper und gepiercten Brüsten, die wie Schläuche bis zum Gürtel der Jeans herunterhingen. Der Geruch von heißem Schießpulver kitzelte Marco in der Nase, und seine Daumen schmerzten noch durch den Rückstoß. Sei keine Pussy, sagte er sich. Die Frau griff ihn an, und er schwang die Schrotflinte wie einen Baseballschläger. Der Schlag geriet nur zu einem kraftlosen Fuchteln. Beschissene Handschellen. Die Leiche packte den Lauf der Waffe und riss sie ihm aus den Händen.

Na toll. Zeit für Plan B.

Die Axt.

Er riss die Waffe vom Quad und holte damit aus, als er plötzlich das metallische Glitzern einer vertrauten Form im Fahrzeug sah. Die Axt vollendete den Bogen und drang mit einem satten Geräusch durchs Ohr in den Schädel der Frau, während Marco sich endlich bewusst wurde, was er da gerade gesehen hatte.

Soll das ein Witz sein?

Er wirbelte zum Quad herum, noch bevor die zuckende Frau auf dem Boden aufschlug.

Der Schlüssel. Der Schlüssel steckte im gottverdammten Zündschloss.

Die männlichen Leichen waren noch ungefähr drei Meter entfernt. Marco stieg in das Quad und zog die Kette über die Lenkstange. Nun sah er auch, dass ein Tierschädel – ein Maultier? Ein Pferd? – wie eine martialische Kühlerfigur mit einer Schnur an der Front des Quads befestigt war. Was zum Teufel …?

Verdammt, ich hab jetzt keine Zeit für diesen Scheiß. Er konzentrierte sich auf die Zündung des Quads. Er hatte so ein Ding doch schon einmal gefahren – auf einer Abenteuertour in den Dünen in der Nähe von Sedona, ein Jahr vor der Auferstehung. Er und Benjamin. Sie hatten einen Männerausflug gemacht, während die Frauen, Danielle und ihre Schwester Trish, den Nachmittag in der Stadt in einem New-Age-Center verbrachten und irgendeinem Hokuspokus frönten, den sie als Energiebündelung bezeichneten.

Hey, ist alles in Ordnung?, hatte Ben ihn vor der Fahrt noch gefragt, ehe er sich den Helm aufsetzte.

Wie meinst du das?

Du weißt schon, Mann. Mit Danielle.

Ja, alles in Ordnung.

Weil Trish sagte

Es ist alles in Ordnung, Ben. Gottverdammt. Und dann hatte Marco den Motor gestartet, wie der Fahrlehrer es ihnen gezeigt hatte, und das Gespräch war im ohrenbetäubenden Motorenlärm untergegangen.

Nun rekonstruierte Marco schweißgebadet diesen ersten Schritt. Er drehte den Zündschlüssel in die Stellung »Ein«, blinzelte und versuchte verzweifelt, sich an die Fahrstunde an jenem Nachmittag zu erinnern, die von jahrelangem Leid und Elend verschüttet worden war. Er fummelte am Schlüssel herum. Sein Gedächtnis war wie leer gefegt. Die erste Leiche schlurfte heran; er versetzte ihr einen seitlichen Tritt und war sich vage bewusst, dass er die Kniescheibe des toten Mannes zertrümmert hatte. Die Leiche sackte neben dem Quad zusammen.

Handbremse! Da war sie, links von ihm; er zog am kleinen roten Griff, und Gott sei Dank hatte er damit auch die mentale Blockade gelöst. Der Rest war Routine: Er überprüfte den Benzinhahn, drückte den Starterknopf, und seine Zähne klapperten durch die Schwingungen, die vom kettensägenartig kreischenden Motor übertragen wurden. Wegen der Handschellen konnte er nicht beide Griffe der Lenkstange greifen. Deshalb hielt er mit der einen Hand den rechten Lenker fest, betätigte mit der anderen den Gasgriff und setzte das Quad genau in dem Moment in Bewegung, als die beiden letzten Leichen angriffen. Erde und Steine wurden hochgeschleudert, während das Quad erst nach links, dann nach rechts ausbrach und schließlich vorwärtsschoss. Es entwischte den Leichen und raste wie ein bockendes Wildpferd den Abhang hinunter, als wäre der Pferdeschädel an der Haube wieder lebendig geworden.

Er wäre fast von dem Gefährt heruntergefallen, was mit Sicherheit tödlich für ihn geendet hätte, doch er vermochte das Gleichgewicht zu halten und irgendwie zu lenken, auch wenn er nicht richtig im Sattel saß und ordentlich durchgeschüttelt wurde. Fast hätte er sich in die Hose gemacht, als er über einen flachen Felsbrocken hinwegflog, der wie eine Sprungschanze auf dem Boden lag. Dann schlug er mit einem Knirschen von Metall und Kunststoff wieder auf, und die Kette peitschte gegen die Lenkstange. Der Wind pfiff ihm um die Ohren.

Scheiße!

Der Highway raste auf ihn zu – die Kampfzone, das Schlachtfeld, wo die Leichen und der Soldat und Wu sich gegenseitig zerlegten, sich ein Stück nach dem anderen aus dem Leib rissen.

Er gab weniger Gas und wurde langsamer …

Ach, scheiß drauf.

Wu braucht Hilfe.

Er packte den Gasgriff mit beiden Händen, und das Quad schoss wieder vorwärts.

Seine Sinne schienen stimuliert zu werden, als würden sie von dem Motor angetrieben; er hörte und sah alles – die gequälten Schreie, die Messer, die in Haut einschnitten, den schwarzen Asphalt, der mit gefallenen Leichen, abgetrennten Armen und glitschigem, schillerndem Blut bedeckt war. Es sah aus wie ein furchtbarer Verkehrsunfall, nur ohne Autos, und während Wu und der Soldat sich gegenseitig mit Schlägen und Tritten eindeckten, wehrten sie die Angriffe der Leichen ab – und dann schoss das Quad auf den Highway, rammte Leichen mit heruntergefallenen Kinnladen und schleuderte sie mit gebrochenen Armen und Beinen weg.

Das Quad teilte die Menge wie ein Messer, und Marco pflügte mit schierem Vernichtungswillen durch die Horde der Zombies. Er versuchte krampfhaft, die Lenkstange gerade zu halten, und verbrannte den letzten Tropfen Adrenalin, während er die Lage peilte und unbeirrt auf das Ziel zuhielt …

Hey, Wu, alter Kumpel!

… und sechs Meter vor dem Kollisionspunkt erhaschte er einen Blick auf Wu. Er war von Blut durchtränkt, schmutzig, und die Farbe seiner Augen war zu einem matten Mintgrün verblasst. Er befand sich in einer tödlichen Umklammerung mit dem bärtigen Soldaten. Die Männer versuchten, sich gegenseitig die Kehle durchzuschneiden …

Jetzt bin ich an der Reihe, dir den Arsch zu retten.

Das Quad raste noch einmal drei Meter weiter, da schien irgendetwas in Wu zu zerbrechen. Die Lebensenergie strömte unaufhaltsam aus der Schusswunde. Der Soldat drückte die rasiermesserscharfe Klinge gegen die Drosselvene an Wus Hals. Ein roter Punkt erschien.

Du kannst dich später noch bedanken.

Noch anderthalb Meter – der Soldat wirbelte herum, als er das Motorengeräusch des herannahenden Quads hörte. Seine Augen waren groß und weiß, und der Bart war mit Schleim und Hautfetzen verklebt.

Fick dich!

Mit einem lauten dumpfen Schlag prallte das Quad wie eine zweihundert Kilo schwere Dampframme gegen den bärtigen Mann und richtete sich auf den Vorderrädern auf – und als Marco aus dem Sitz katapultiert wurde und sich an der Lenkstange festzuhalten versuchte, fragte er sich, ob das vielleicht die beschissenste Idee gewesen war, die er seit verdammt langer Zeit gehabt hatte.

8.4

Durch den Aufprall wurde der Soldat in die Luft geschleudert; er schien minutenlang mehr als einen halben Meter über dem Quad zu schweben. Arme und Beine waren ausgestreckt wie bei einem Fallschirmspringer im freien Fall. Und dann forderten Zeit und Schwerkraft ihren Tribut, und der Soldat knallte senkrecht auf die Motorhaube, während Marco sich halb über die Lenkstange beugte. Die Männer stießen mit den Schultern zusammen, durch den heftigen Aufprall wurde ihnen die Luft aus den Lungen gepresst …

… und einen schrecklichen Moment lang hing Marco so in der Schwebe: Er lag bäuchlings auf der Lenkstange, und die mit Handschellen gefesselten Arme waren unter ihm eingeklemmt. Der unheimliche Pferdeschädel an der Haube grinste ihn von unten an – nur ein paar Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, während er auf dem Quad lag wie auf einem Surfbrett. Und dann kippte das Fahrzeug wieder in die Horizontale, und die Hinterräder krachten auf die Straße; er hakte die Fußknöchel im Aluminiumgestell des Sitzes ein und zog sich gerade noch rechtzeitig in den Sitz, bevor das Quad unkontrolliert ausbrach. Der andere Mann hatte allerdings weniger Glück. Er geriet mit den Beinen unter die Stoßstange und klammerte sich schreiend in den Augenhöhlen des Schädels fest, während das Fahrzeug ihn über den Asphalt schleifte.

Marco hörte sich im Fahrersitz auch schreien. Er griff panisch nach der Lenkstange – aber nicht etwa, um zu steuern, sondern weil er sich irgendwo festhalten musste. Das Quad geriet auf die andere Straßenseite und kam schließlich von der Straße ab. Es walzte die dürren Sträucher platt und raste auf den schmutzigen Parkplatz der Bar. Das Rudel der Leichen fiel zurück, zehn Meter, zwanzig …

… und so entfernte das Quad sich aus der unmittelbaren Gefahrenzone. Der Soldat heulte auf und schlug auf die Motorhaube, wobei das Blut aus den verstümmelten Fingern rote Schlieren auf dem Metall hinterließ, der Pferdeschädel zerbrach, fiel vom Quad ab und wurde auf dem harten Erdboden zu hundert weißen Splittern zermalmt. Marcos Augen und die des Mannes trafen sich; das blutverschmierte Gesicht des Soldaten war grotesk verzerrt und schmerzerfüllt. Ein Schmerz, wurde Marco sich bewusst, den er diesem Mitmenschen zugefügt hatte – nicht einer Leiche, der es egal war und die es auch nicht spürte, wenn man ihr ein Bein brach oder einen Arm abhackte, sondern einem lebendigen, leidensfähigen Menschen. Die Erkenntnis ernüchterte ihn wie ein Eimer kaltes Wasser.

Der Adrenalinstoß verpuffte, und er nahm sofort die Hand vom Gasgriff.

»Es tut mir leid«, sagte er spontan und begriff dann, wie lächerlich das klang. Es tut mir leid, dass ich Sie überfahren und versucht habe, Sie umzubringen. Er zog die Bremse, und das Quad kam schlingernd in der Nähe einer schiefen hölzernen Veranda zum Stehen – dem Eingang der Bar.

Der Soldat rollte unter dem Stoßfänger hervor, als ob das Chassis ihn ausgespuckt hätte. Er drehte sich zwei- oder dreimal wie eine Stoffpuppe und blieb dann schlaff, keuchend und mit grotesk verrenkten Gliedmaßen liegen. Die Beine waren an den Knien zur Seite abgeknickt, und ein spitzer Knochen stach direkt unterhalb des Oberschenkels durch das linke Hosenbein. Seine Haut war klebrig, feucht von Blut und so dick mit Wüstenstaub überzogen, dass er wie ein in Mehl gewendeter Brotteig aussah.

Eine Hand packte Marco an der Schulter, und er wirbelte in Panik herum.

»Wu«, stieß er hervor.

Der Sergeant sackte am Quad zusammen; vor lauter Erschöpfung stand ihm der Mund offen. Er war durch die Bresche entkommen, die Marco in die Phalanx der Leichen geschlagen hatte. Die aristokratischen Wangenknochen waren violett angeschwollen, und das ganze Gesicht war, von der Stirn bis zum Kinn, mit zähem schwarzem Blut überzogen. Er sah aus wie ein Mechaniker, der während eines Ölwechsels verprügelt worden war. Er atmete stoßweise, und das Ein- und Ausatmen schien ihm gleichermaßen Schmerzen zu bereiten. Sein ganzer Körper verströmte den Geruch des Todes.

Marco verzog das Gesicht. Hinten auf dem Highway hatten die Leichen kehrtgemacht und marschierten nun zum Parkplatz zurück. Es war aber nur noch ungefähr ein Dutzend – Wu und der Soldat hatten sie stark dezimiert –, doch diese Überlebenden sahen noch genauso hungrig aus wie zuvor und knurrten zornig und frustriert. Wu schaute mühsam über die Schulter.

»Wir müssen verschwinden«, sagte er atemlos.

»Keine Einwände«, sagte Marco und sah mit einem Kopfnicken zu dem stöhnenden bärtigen Soldaten. Es war dem Mann gelungen, sich auf Hände und Knie aufzurichten, und nun schleppte er sich zur Bartür, um im Inneren Deckung zu finden. »Aber vorher sammeln wir noch unseren neuen Freund auf.«

Wus Augen verengten sich. Das linke Auge war blutunterlaufen. Er warf noch einen Blick auf die zerlumpten Leichen, dann löste er sich vom Quad und halb lief, halb humpelte er zu dem kriechenden Soldaten. Er stellte ihm seinen Stiefel auf den Nacken und drückte ihn nach unten. Mit einem gequälten Schrei fiel der Mann auf den steinigen Erdboden. Wu bückte sich, und Marco sah, dass er etwas aus dem Gürtel des Soldaten zog. Schließlich kehrte Wu zum Quad zurück.

»Für die Handschellen«, sagte er und reichte ihm einen kleinen silberfarbenen Schlüssel.

Marco stieß erleichtert die Luft aus. »Gute Idee. Diese Dinger passen irgendwie nicht zu meinem Stil.«

Er zuckte zusammen, als Wu die Handschellen grob packte. Der Schlüssel klickte im Schloss, und dann gaben die Ringe Marcos Hände frei. Die Kette baumelte lose herunter. Marco atmete tief aus. Verdammt, das tat weh. Er kühlte die hässlichen scharlachroten Abdrücke, die die Ringe auf der Haut hinterlassen hatten, indem er darauf blies.

»Danke«, sagte er. »Jetzt sollten wir zusehen, dass wir möglichst schnell …«

Doch er beendete den Satz nicht. Wu war mittlerweile zum verwundeten Soldaten zurückgekehrt und kniete nun neben dem Mann.

»Was tun Sie da?«, fragte Marco misstrauisch. Die Leichen hatten den Parkplatz schon zur Hälfte überquert und kamen ihnen gefährlich nah.

Ohne ihm zu antworten, packte Wu den Mann am Arm und zerrte daran. Der Soldat schrie auf, als sein freiliegender, gebrochener Oberschenkel über den Erdboden schleifte. Da war ein verrostetes quadratisches Gitter im Erdboden – ein Gullydeckel.

Die Handschellen blitzten in Wus Hand.

»Einen Moment …«, sagte Marco, den plötzlich ein böser Verdacht beschlich.

Doch zu spät. Wu hatte den Mann schon an einer Hand gefesselt.

Den anderen Ring befestigte er am Gitterrost.

»Nein!«, rief der Soldat mit zusammengebissenen Zähnen. Wu bückte sich und sagte dem Mann etwas ins Ohr – so leise, dass Marco es nicht zu hören vermochte. Marco wurde blass; seine Poren weiteten sich, der Schweiß brach ihm aus und kühlte ihn wie der Hauch des Todes. »Wu!«, schrie er. »Das können wir nicht machen!«

Mit einem ebenso trotzigen wie zornigen Blick warf Wu den Schlüssel in ein Gestrüpp hinter einem Stapel ausgebleichter orangefarbener Leitkegel. Marco drehte sich der Magen um.

Anscheinend konnten sie das doch machen.

Wu kletterte auf das Quad und setzte sich rückwärts in eine kleine Mulde hinter dem Sitz, die eigentlich für Vorräte und Ausrüstungsgegenstände vorgesehen war. Seine Beine baumelten über die Hinterradabdeckung. Furchtlos schaute er die Leichen an, die aus drei Metern Entfernung auf ihn zuschlurften.

»Los«, sagte er. Ein knapper, emotionsloser Befehl.

Nein, sagte Marco sich. Der rechte Daumen lag auf dem Gasgriff, und seine Gedanken überschlugen sich. Das Stöhnen der Leichen drang bereits aus großer, allzu großer Nähe an seine Ohren …

In wenigen Augenblicken würde er spüren, wie tote, steife Finger ihn an den Haaren rissen und vom Quad zerrten, während er laut schreiend mit den Beinen zappelte …

Ich kann nicht fahren. Ich kann nicht

»Los!«, brüllte Wu, als ein verwester, dicker Barkeeper in einer kotzbraunen Schürze sich auf ihn stürzte – und das riss Marco aus seiner Starre. Er hatte keine Zeit mehr, sich mit Wu zu streiten, keine Zeit für Rettungsaktionen, keine Zeit, um irgendetwas zu tun – außer das Schicksal des bärtigen Soldaten zu akzeptieren; frustriert schrie er »Scheiße!« und schob den Gasgriff bis zum Anschlag vor, sodass der Motor gequält aufjaulte.

Das Quad raste an dem todgeweihten Mann vorbei.

Einen kurzen Moment lang erinnerte Marco sich daran, wie er gestern in Maricopa unter dem Lkw eingeklemmt gewesen war und schon mit dem Leben abgeschlossen hatte. Dann spürte er, wie eine Bewusstseinsänderung mit ihm vorging, und er konnte plötzlich mit den Augen des feindlichen Soldaten sehen – diese letzten Sekunden im Leben des Mannes, wie das Quad ihn im Stich ließ und er mit den Händen an einen improvisierten Futtertrog für ein gieriges Rudel Kannibalen gekettet war. Er war ihnen hilflos ausgeliefert und würde gleich einen qualvollen Tod sterben. Marco schüttelte diese Gedanken ab, bevor er noch von ihnen überwältigt wurde.

Zum Glück befand er sich nicht in dieser Situation. Dieses Mal nicht.

»Bitte!«, flehte der Soldat von weit hinten, während seine Stimme mit zunehmender Entfernung immer leiser wurde.

Die Toten fielen über ihn her, und eine halbe Sekunde lang herrschte Stille.

Eine schreckliche, nervenzerreißende Stille.

Und dann wurde der Morgen von einem geradezu unmenschlichen Laut durchschnitten. Es war ein schrilles Kreischen, in dem alle Verdammnis und Qualen dieser Welt mitschwangen. Es schmerzte Marco nicht nur in den Ohren, sondern irgendwie am ganzen Körper. Ein Übelkeit erregender Schrei, der anhielt und anhielt …

Fahr weiter. Dreh dich nicht um.

… und anhielt und anhielt …

Sieh nicht hin.

… als wollte er nie mehr verstummen.

Scheiße. Marco bremste und drehte sich auf dem Sitz um. Die Leichen schälten den Mann regelrecht. Sie brachen ihn wie einen Hirsch auf, weideten ihn aus und saugten ihn aus – graue Finger stachen in die Augenhöhlen, die Nasenlöcher und in den kreischenden Mund, rissen die Wangen auf, während andere sich an Armen und Beinen zu schaffen machten … sie rissen ihm Fetzen von Muskelsträngen und Eingeweide heraus, die sich dehnten wie rosafarbener Gummi, und Marco sah noch, wie der tote Barkeeper an dem hervorstehenden gebrochenen Knochen nagte, während der Soldat sich krümmte und aufbäumte und unter Höllenqualen zugrunde ging.

Und dann wurde der Mann mit einem scheußlichen Knacken zerrissen. Der Erdboden wurde mit Knochen, Gehirnmasse und weichen Organen übersät, und die Leichen schnappten sich ihre Trophäen wie Kinder des Teufels, die Bonbons aufsammeln. Dem Soldaten entrang sich ein letzter schriller Schrei, bevor sie ihm den Kopf abrissen und Blut in einer Fontäne aus dem Hals spritzte.

Schließlich verstummte der Mann für immer und war endlich von seinen Qualen erlöst.

»Die Show ist vorbei, Doktor.« Wus Stimme.

Marco drehte sich um. Wie in Trance.

Wu sprach mit ihm. »Und jetzt fahren Sie bitte los, oder wir werden der Nachschlag sein.«

Marco versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, und betätigte mit einer mechanischen Bewegung den Gasgriff. Das Quad kurvte über den Parkplatz, verließ ihn durch die Zufahrt und bog auf den Highway ab. Die Morgensonne brannte nun unbarmherzig vom Himmel, und der Asphalt schien in der flimmernden Hitze Wellen zu schlagen. Nur weg von hier.

Ein Gedanke kristallisierte sich aus dem Nebel in Marcos Kopf heraus.

Ich habe soeben geholfen, einen Mann zu töten.

Und dann eine Frage.

Wie soll es nun weitergehen?