Der Ballard-Auftrag

3.1

Die Abbildung auf Marcos Bildschirm wurde verzerrt, als würde ein Erdbeben übertragen. Erschrocken sprang er vom Stuhl auf und schlug gegen die Webcam, sodass sie zur Decke zeigte. Er hatte keine Ahnung, wer gleich auf seinem Desktop auftauchen würde – aber er wollte es gottverdammt vermeiden, dass sie ihn sahen.

Die Abbildung stabilisierte sich wieder, und auf dem Bildschirm erschienen zwei mit Leberflecken übersäte Hände, die gefaltet auf Benjamins Studiotisch lagen. Sekunden später bewegte die Kamera sich erneut, und jemand richtete ein Licht aus, und nun sah Marco einen Mann Ende fünfzig am Tisch sitzen.

Der Fremde war mit einem blauen Hemd mit weißem Kragen bekleidet – nach Marcos Erfahrung die typische Garderobe eines Arschlochs. Das Haar des Mannes war ebenfalls weiß, halblang und straff zurückgekämmt; die Augen standen zu weit auseinander, und der Mund war zu breit für das vorspringende Kinn. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Piranha. Marco verspürte eine instinktive Abneigung gegen ihn.

»Henry Marco«, sagte der Mann, wobei er jede Silbe und jeden einzelnen Buchstaben präzise artikulierte. Seine Stimme war kühl und weich, fast schon wie eine Frauenstimme. »Sind Sie da?«

Marco erschauerte. Seit Jahren hatte ihn schon niemand mehr mit seinem vollen Namen angeredet – Danielle war die Letzte gewesen. Selbst Benjamin vermied es aufgrund einer stillschweigenden Übereinkunft zwischen ihnen, ihn so anzureden.

»Ja«, antwortete Marco. Er hustete.

Der Mann sah forschend auf seinen Bildschirm. »Sie brauchen sich nicht zu verstecken, Doktor Marco. Falls Sie befürchten, identifiziert zu werden – das ist bereits geschehen. Ich habe gerade über ein Dutzend Fotos von Ihnen in einem Dossier vor mir liegen. Ich habe sogar mehr Bilder von Ihnen als von meiner Frau.«

Marco zögerte. Er war noch nicht bereit, mit ihm zu sprechen. Nicht, bevor er sich einen besseren Überblick über die Lage verschafft hatte. Der Mann kannte offensichtlich seinen Namen und wusste auch sonst genug über ihn, um ihn bis zu Benjamins Atelier zurückzuverfolgen. Hatte ihn sogar Doktor genannt. Aber Marco würde sich nicht durch billige Tricks dazu verleiten lassen, unnötig Informationen preiszugeben. Nicht mehr als das, was der Mann sich selbst schon zusammengereimt hatte.

Als würde er Marcos Gedanken lesen, hielt der weißhaarige Mann ein kleines vergilbtes Foto an einer Ecke hoch. Marco sah sich selbst in einem Smoking. Er erinnerte sich auch an den Anlass. Er war damals als Spendensammler für den amerikanischen Neurologenverband aufgetreten, ein Jahr vor der Auferstehung.

»Sehen Sie, Doktor Marco, Sie sind kein so großes Geheimnis, wie Sie vielleicht glauben«, sagte der Mann. »Ich mache immer meine Hausaufgaben. Sollen wir die Unterlagen einmal abgleichen? Henry Carson Marco, 1976 in Philadelphia geboren, Eltern Albert und Caroline Marco.« Der Mann blickte unverwandt in die Kamera und nannte die Daten anscheinend aus dem Gedächtnis. Falls er sie doch von einem Papier außerhalb des Erfassungsbereichs der Webcam ablas, merkte man ihm das jedenfalls nicht an.

Der Mann fuhr fort. »Im Jahr 2006 haben Sie Ihren Abschluss am Weill Medical College im Fachbereich Neurologie und Naturwissenschaften gemacht und dann als Assistenzarzt im Cedars-Sinai-Krankenhaus in Los Angeles angefangen. 2010 haben Sie dann die Schauspielerin Danielle Pierce geheiratet …«

»Sie können jetzt damit aufhören«, unterbrach Marco ihn. »Ich habe schon verstanden.«

»Ja? Dann zeigen Sie sich, damit wir uns wie höfliche Erwachsene gegenseitig vorstellen können.«

»Ich lasse Ihnen den Vortritt«, sagte Marco. »Ich möchte zunächst nur hören, was Sie zu sagen haben.«

Der Mann zuckte die Achseln. »Wie Sie wünschen. Ich wäre wahrscheinlich sowieso zuerst an der Reihe, weil ich Ihren Namen ja schon kenne. Ich heiße Owen Osbourne und bin Interimsdirektor des Büros für Operative Koordination. Wir …« Er wies mit dem Kopf nach links, dann nach rechts und stellte die anderen Leute im Raum vor. Seine Hände blieben dabei auf dem Tisch gefaltet. »… wir repräsentieren das Ministerium für Heimatschutz.«

Marco hatte aufgehorcht, als der Mann seinen Namen nannte. Er kam ihm nämlich bekannt vor. Owen Osbourne war einer der prominenten Neuen Republikaner gewesen, als die Partei sich gerade etablierte. Ich wusste doch, dass du ein Arschloch bist. »Diese Männer, die Sie bei sich haben«, sagte Marco. »Sind das Polizisten?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Bundesagenten unter meinem Kommando.«

»Stecke ich denn in Schwierigkeiten?«, fragte Marco.

Der Mann – Osbourne – sah Marco an, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Die Daumen der verschränkten Hände berührten sich mehrmals in einem langsamen Rhythmus. »Dem Vernehmen nach«, sagte Osbourne schließlich, »bezeichnen die Leute Sie als den Zombie-Killer‹.«

Dieser Gedankensprung irritierte Marco. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Stecke ich in Schwierigkeiten?«

»Doktor Marco. Wenn Sie jetzt auf einer Antwort bestehen, dann werden Sie bestenfalls ein Ja und Nein‹ zu hören bekommen«, sagte Osbourne in einem Ton, als riefe er ein Kind zur Ordnung. Seine Nasenflügel bebten, und er atmete geräuschvoll aus. Als er weitersprach, klang die Stimme wieder fester. »Also bitte. Befriedigen wir zuerst meine Neugier und dann Ihre. Vielleicht sollten wir noch einmal ganz von vorn anfangen. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Sie durch den Vortrag Ihrer Biografie so überfahren habe. Und die Erwähnung Ihrer Frau war vielleicht etwas unter der Gürtellinie.«

Marco ignorierte den letzten Satz. »Na schön. Was möchten Sie also wissen?«

»Ich möchte etwas über den Zombie-Killer erfahren.«

Mein Gott, sagte Marco sich. Nannten die Leute in den Sicheren Staaten ihn wirklich so? Wie schrecklich. So, wie er Benjamin kannte, war der Name wahrscheinlich auf seinem Mist gewachsen, um ihr Geschäft zu beleben. Etwas Griffiges, würde Ben sagen. Marketing. Marco hätte natürlich dagegen protestieren können, doch er hatte grundsätzlich keinen Einfluss darauf, mit welchen Taktiken Benjamin Kunden akquirierte.

»Wie haben Sie überhaupt von mir erfahren?«, fragte er Osbourne.

Osbourne trennte die verschränkten Hände und legte sie flach auf den Tisch. Dann beugte er sich zur Kamera hin und sagte eindringlich: »Doktor Marco. Ich versuche, höflich zu sein – unter der Prämisse, dass dies ein freundschaftliches Gespräch ist, wobei wir beide als intelligente Menschen aber wissen, dass dies nicht der Fall ist. Also lassen Sie mich einen Moment lang Klartext reden. Wenn Sie mir noch einmal auch nur eine Frage stellen, bevor Sie eine meiner Fragen beantwortet haben, lasse ich Ihren Freund Mr. Ostroff hier ins Gefängnis werfen.«

Die Drohung hallte in Marcos Bewusstsein wider, während er den hässlichen Kerl auf dem Bildschirm musterte.

Osbourne wartete. Sein Blick drückte keinerlei Gefühle aus.

Wie ein Piranha, sagte Marco sich wieder. Der nur noch auf den richtigen Zeitpunkt zum Angriff wartete.

3.2

Im Hintergrund hörte Marco Benjamins Stimme.

»Kommen Sie schon, Mann«, sagte Ben nachdrücklich zu Osbourne. »Wir tun doch nichts Falsches. Marco, sprich doch mal mit dem Kerl. Er will uns benutzen. Das hat er mir selbst gesagt.«

Marco seufzte, senkte den Kopf und sah auf den stumpfen Hartholzboden, als wollte er ein Orakel befragen. Vielleicht gab es überhaupt keinen triftigen Grund für seine Skepsis. Vielleicht hatte Benjamin recht.

Sprich doch einfach mal mit dem Kerl. Hör dir an, was er zu sagen hat.

»In Ordnung«, sagte er schließlich entschlossen. »Also gut. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Osbourne lehnte sich zurück. »Gut. Fangen Sie bitte an, indem Sie mich über Ihre Aktivitäten aufklären.«

»Die Kurzversion?«, fragte Marco. Er machte sich nicht einmal die Mühe, seine Ungeduld zu kaschieren. Wozu die Befragung, wenn dieses Arschloch ohnehin schon Bescheid wusste?

Weil er weniger weiß, als er vorgibt. Also sag ihm nur das Notwendigste. Daraus kann er dir keinen Strick drehen.

»Vierzig Millionen Leichen durchstreifen die Evakuierten Staaten«, begann Marco. »Alle, denen während der Evakuierung nicht die Flucht gelungen ist. Und sie alle waren einmal Mutter oder Vater, Liebhaber oder bester Freund. Also wenden die Überlebenden – die Angehörigen in den Sicheren Staaten – sich an mich.«

»Zu welchem Zweck?«

Arschloch, sagte Marco sich. »Ich gebe die Leiche zurück.«

Osbourne sah ihn fragend an. »Sie geben sie zurück?«

»An die Toten. An die wirklich Toten.«

»Sie töten sie noch einmal, meinen Sie wohl«, konstatierte Osbourne. »Und es gibt Leute, die wollen, dass Sie das tun? Dass Sie ihren Angehörigen so etwas antun?«

Marco zuckte die Achseln. »Das ist immer noch besser, als zu wissen, dass Großmutter Josefine hier draußen ganz allein leidet – dem Verfall preisgegeben und von der Gier nach rohem Fleisch getrieben. Und vielleicht auch besser als der Gedanke, dass ihr der Zugang zum Himmel verwehrt ist – falls man denn daran glaubt. Also spielen Mitleid und Fürsorge eine Rolle. Und dann wäre da noch der Schlusspunkt. Das klar definierte Ende. Der gleiche Grund, weshalb die Leute auf Beerdigungen gehen und an Totenwachen teilnehmen. Durch den Anblick des Sargs – wenn sie begreifen, dass es wirklich vorbei ist – erkennen sie, dass das Leben für sie weitergeht.«

Osbourne nickte. »Also sucht Mr. Ostroff nach diesen Leuten, die in den Sicheren Staaten leben, und bietet ihnen Ihre Dienste an. Woher wissen Sie eigentlich, wo sie zu finden sind?«

»Fast jeder hat irgendjemanden verloren. Ben hört sich nur diskret um.« Marco musterte Osbournes Gesicht. Der Mann hatte keine Falten auf der Stirn, keine Runzeln im Gesicht. Und die Wangen spannten sich allzu straff – die künstliche Fassade plastischer Chirurgie.

Und wen hast du verloren?, fragte Marco sich.

»Ja«, sagte Osbourne, ohne die geringste Regung zu zeigen. »Ich habe aber etwas anderes gemeint: Woher wissen Sie, wo die Leichen zu finden sind, mit deren Tötung Sie beauftragt wurden? Sie könnten doch überall sein.«

»Eigentlich nicht.«

»Was meinen Sie damit?«

»Die Welt ist groß«, sagte Marco. »Doch das Leben der Menschen spielt sich in einem überschaubaren Rahmen ab. Die meisten Leute verbringen neunzig Prozent ihrer Lebenszeit an Orten, die man an einer Hand abzählen kann – zu Hause, am Arbeitsplatz, am bevorzugten Urlaubsort, in der Lieblingskneipe. Diese geografischen Faktoren sind quasi in uns programmiert; also fange ich auch an diesen Orten mit der Suche an. In der Regel wird eine Leiche irgendwann dort auftauchen, wo sie sich schon als Mensch aufgehalten hat. Also suche ich diese Orte ebenfalls auf. Außer …« Marco hielt inne. »Manchmal erscheinen sie aber auch nicht, und dann wird es schon etwas komplizierter. Dann muss man die emotionale Geografie berücksichtigen.«

»Emotionale Geografie?«

»Orte mit einer gefühlsmäßigen Komponente«, fuhr Marco fort. »Emotionen verstärken die Programmierung. Auch hier steht das Zuhause wieder an erster Stelle, doch darüber hinaus gibt es auch noch Orte wie zum Beispiel den Strand, an dem man seiner Frau den Heiratsantrag gemacht hat, oder der Urlaubsort, an dem man die Flitterwochen verbracht hat. Das Krankenhaus, in dem das erste Kind zur Welt kam. Wie ich schon sagte, ein Ort, der einem etwas bedeutet. Ich versuche, vom Klienten – ich meine, vom Familienangehörigen oder Partner – alles über die Zielperson in Erfahrung zu bringen, und dann gehe ich auf die Jagd.«

Osbourne rutschte auf dem Stuhl herum und schlug die Beine akkurat übereinander, sodass das eine Knie sich exakt unter dem anderem befand. »Wollen Sie damit sagen«, fragte er, »dass die Toten sich an ihr Leben erinnern?«

»In gewisser Weise. Ich würde aber nicht sagen, dass es sich um eine bewusste Erinnerung handelt. Das menschliche Gehirn ist komplex – Erinnerungen an Ereignisse werden im Neocortex gespeichert, aber es gibt auch starke Indizien dafür, dass eine Verknüpfung im limbischen System erfolgt …«

»Doktor Marco«, unterbrach Osbourne ihn. »Nun sind Sie aber derjenige, der auf die Pauke haut. Bitte ohne medizinische Fachterminologie.«

»Verzeihung. Grundsätzlich werden unsere Erinnerungen in den höher entwickelten Regionen unseres Gehirns gespeichert – in dem Teil, den nur Säugetiere und Menschen besitzen. Lebenserfahrungen, die von starken Emotionen begleitet werden, werden jedoch markiert‹, bevor sie abgespeichert werden, und zwar von einem primitiveren Teil unseres Gehirns – einem Teil, der sich lange vor der Evolution des Menschen entwickelte und bis zu den niederen Tieren zurückgeht. In diesem primitiven Gehirn geht es ziemlich hoch her. Aggression, Zorn, Hunger … alle grundlegenden Überlebensinstinkte haben dort ihren Ursprung. Eine auferstandene Leiche scheint die höheren Hirnfunktionen verloren zu haben und wird stattdessen vom primitiven Gehirn dirigiert. Haben Sie schon einmal von Dudley und Stephens gehört?«

Osbourne runzelte die Brauen. »Nein.«

»Das waren Kannibalen. Ein großer Kriminalfall Ende des neunzehnten Jahrhunderts in England«, erklärte Marco. »Drei Männer, die sich nach einem Schiffsuntergang in ein Rettungsboot geflüchtet hatten und vom Hungertod bedroht waren, töteten und aßen den Schiffsjungen. Der Grund dafür war, dass ihre unterernährten Körper Energie sparten, indem sie das höhere Gehirn abschalteten und nur noch mit dem Stammhirn arbeiteten. Mit dem Reptiliengehirn, wie es oft bezeichnet wird. Höher entwickelte Funktionen wie Ethik und Moral verpufften einfach. Für die Reptiliengehirne der Männer gab es nur eine Alternative – den Jungen fressen oder sterben. Also aßen sie ihn. Und diese Leichen unterscheiden sich nicht wesentlich davon.«

»Interessant. Aber ich warte immer noch darauf, etwas über die Funktionsweise ihrer Erinnerung zu hören.«

»Nun, sie haben eindeutig noch etwas Saft – soll heißen, Bioelektrizität –, die zwischen den Gehirnsystemen fließt. Zwar nicht viel, aber dieser Strom muss noch fließen. Also ist diese Verbindung zwischen dem Reptilienhirn und dem höheren Gehirn noch immer aktiv, und hin und wieder gehen quasi ein paar Lichter an. Bedenken Sie, diese Dinger sind zwar tot, aber es sind noch immer eine Billiarde Megabyte an Daten in ihren Gehirnzellen gespeichert – die Informationen eines ganzen Lebens. Also haben sie vielleicht einmal einen lichten Moment und folgen, vom Instinkt getrieben, den schönen Bildern. Vielleicht wollen sie sich sogar wieder lebendig fühlen.«

Osbournes Mundwinkel zuckte, und Marco war fast schon geneigt, das als Lächeln zu interpretieren. Aber er lächelte nicht. Stattdessen machte er eine Handbewegung, und ein Beamter erschien auf dem Bildschirm und stellte ein Glas Wasser auf den Tisch. Osbourne führte das Glas zum Mund, nahm einen Schluck und spülte sich den Mund aus. Als er fertig war, fuhr er sich mit einem Finger über die Unterlippe, um einen letzten Tropfen wegzuwischen.

Dann faltete er wieder die Hände.

»Vielen Dank, Doktor Marco«, sagte er knapp. »Das war informativ. Und wie ich schon sagte, zuerst wird meine Neugier befriedigt und dann Ihre. Wir sind jetzt so weit. Um mit Ihrer ersten Frage zu beginnen, Sie befinden sich nicht in Schwierigkeiten – vorausgesetzt, Sie sind weiterhin so kooperativ.«

»Sie wollen mich engagieren«, mutmaßte Marco.

»Ja«, räumte Osbourne ein. »Den finanziellen Aspekt habe ich bereits mit Mr. Ostroff erörtert. Der Vertrag ist großzügig ausgestaltet, und die Einkünfte wären auch von der obligatorischen Überlebenden-Steuer befreit.«

»Wahnsinn. Sind Sie sich auch sicher, dass Sie sich das überhaupt leisten können?«

Der Direktor ignorierte das. »Was ich Mr. Ostroff aber noch nicht mitgeteilt habe, sind die Details des Auftrags.«

»Die da wären?«

Osbourne blickte mit seinen grauen Augen direkt in die Kamera. »Die würde ich Ihnen gerne erläutern, Doktor. Aber ich werde nicht gegen Ihre Zimmerdecke sprechen. Bitte richten Sie Ihre Kamera so aus, dass ich Sie sehen kann.«

Verdammt. Marco krümmte den Hals, sodass die Wirbel knackten. Ach, zum Teufel. Darauf kam es jetzt wohl auch nicht mehr an. Er streckte die Hand aus und richtete die Kamera wieder auf sich. Osbourne nickte.

»Schon viel besser. Ich spreche nämlich nicht gerne ins Nichts.«

»Das tun Sie noch immer«, sagte Marco mit einem halben Lachen.

»Vielleicht«, sagte Osbourne ungerührt. »Sie sehen auf jeden Fall schlechter aus als auf Ihren Fotos. Die Lebensbedingungen müssen dort hart für Sie sein.«

»So gut in Form war ich noch nie im Leben. Lassen Sie uns über die Details sprechen.«

»Ein echter Soldat. Also gut, die Details. Ich möchte, dass Sie eine Person – eine Leiche – an der Westküste finden. Sarsgard, Kalifornien. Ich kann bei Ihnen uneingeschränkte Reisebereitschaft voraussetzen, wenn es um die Erledigung von Aufträgen geht?«

Kalifornien. Marco verspürte ein flaues Gefühl im Magen. Scheiße. Er war zuletzt vor drei Jahren dort gewesen. Er war nicht sicher, ob sein Herz eine weitere solche Reise verkraften würde.

»Ja«, sagte er ohne allzu große Begeisterung. »Können Sie. Ich nehme an, dass Benjamin das auch schon in das Honorar einbezogen hat, das er Ihnen genannt hat.«

Osbourne machte eine wegwerfende Geste. »Ja, ja. Ich bin nicht hier, um mit Ihnen zu feilschen.«

»Also gut. Der Einsatz in Kalifornien wird aber ziemlich lange dauern. Je dichter bevölkert ein Gebiet ist, desto vorsichtiger bin ich. Desto langsamer gehe ich vor.« Marco rieb sich die Kehle; er war erschöpft von dem ganzen Gerede, als wäre die bloße Erwähnung von Kalifornien schon zu viel für ihn gewesen. »Hören Sie«, sagte er schließlich. »Sie kennen meine Geschichte. Familie und Freundeskreis, das alles. Also – wer genau ist der geliebte Familienangehörige, dem ich im Auftrag des Ministeriums für Heimatschutz der Vereinigten Staaten eine Kugel verpassen soll? Ich habe so ein Gefühl, dass es nicht Oma Josefine ist.«

»Ihr Gefühl trügt Sie nicht«, bemerkte Osbourne. »Es geht nicht um irgendwelche Großmütter. Sie sollen einen Mann suchen. Einen Arzt namens Roger Terrence Ballard.«

Marco versteifte sich.

Osbourne musterte ihn einen Moment und fuhr dann fort. »Ich nehme an, dass Sie auch alles wissen wollen, was ich weiß. Dieser Doktor Ballard wurde zuletzt in einem Gefängniskrankenhaus in Sarsgard gesehen, in der Woche nach dem Ausbruch. Die Einrichtung war zu diesem Zeitpunkt schon überrannt worden, und die Insassen waren alle auferstanden. Einer Radiomeldung zufolge hat es jedoch auch eine Anzahl Überlebender gegeben, darunter Doktor Ballard, die sich in einem Wachraum verbarrikadiert hatten. Eine anschließende Rettungsmission durch Evakuierungsstreitkräfte misslang und forderte leider einige Todesopfer – Doktor Ballard erlitt dabei eine schwere Armverletzung, und das Rettungsteam war nicht in der Lage, zu ihm vorzudringen und ihn rauszuholen. Sie wurden zum Rückzug gezwungen und mussten ihn abschreiben. Bisswunden sind natürlich zu hundert Prozent tödlich. Ehrlich gesagt wissen wir nicht, ob er auferstanden war oder ob er aufgefressen wurde, bevor es überhaupt so weit kam. Doch nur um sicherzugehen, würde ich gern den Zombie-Killer engagieren, um den Platz des Geschehens noch einmal zu kontrollieren.«

Marco hatte ein unsauberes Gefühl im Mund, den schalen Beigeschmack von überlagertem künstlichem Orangensaftpulver. Er hatte die Hälfte von dem, was Osbourne gesagt hatte, gar nicht mitbekommen; hatte es nicht zu verarbeiten vermocht, weil seine Gedanken unablässig nur um diesen Namen kreisten:

Roger Ballard.

Roger Ballard.

»Ich kenne ihn«, sagte Marco ausdruckslos.

Osbourne nickte. »Ja«, sagte er. »Ich weiß, dass Sie ihn kennen.«

3.3

»Haben Sie sich deshalb an mich gewandt?«, fragte Marco. »Weil ich Roger kenne?«

Direktor Osbourne runzelte die Stirn. »Ich habe mich an Sie gewandt, Doktor, weil Sie wissen, wie man Leichen findet. Das ist Ihr Spezialgebiet. Es war ein glücklicher Zufall, dass wir bei Ihrem Background-Check auf Ballards Namen gestoßen sind. Ich nehme an, dass es nur von Vorteil sein kann, dass Sie ihn persönlich kennen.«

»Sie haben Rogers Namen in meiner Akte gesehen und daraus gleich den Schluss gezogen, dass ich Ihnen helfen will? Meine Güte. Sind Sie Ihren Freunden gegenüber auch so loyal?«

»Ich sagte mir, dass Sie dadurch vielleicht nützlicher wären«, sagte Osbourne ungerührt. »Aber um noch einmal auf Ihre Motivation zurückzukommen, Doktor Marco, Sie haben doch selbst gesagt, es sei ein Akt der Gnade – des Mitgefühls – für diese Leute, derer Sie sich annehmen.«

Marco schnaubte. »Kommen Sie mir jetzt nicht auf diese Tour! Um Roger geht es Ihnen doch gar nicht. Das ist nicht der wahre Grund. Was ist es dann? Was steckt wirklich dahinter?«

»Es handelt sich um eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit.«

»Echt? Und was bedeutet das konkret?«

»Wieso sollte das überhaupt eine Rolle für Sie spielen, Doktor Marco?

»Es spielt sehr wohl eine Rolle für mich. Ich nehme nämlich nicht jeden Auftrag an.«

»Sie spielen wohl auf den Giancomo-Auftrag an. Ein Gangsterboss, der aus purer Rachsucht Anschläge auf Leichen einer verfeindeten Familie angeordnet hatte. Sie haben ihn letztes Jahr abblitzen lassen.«

»Gehen Sie zum Teufel«, rief Marco zornig. Seine Stirn glühte fiebrig. »Dann werden Sie wohl auch alles andere wissen, oder?«

»Ich hatte es Ihnen eingangs doch schon gesagt, Doktor. Ich mache immer meine Hausaufgaben. Und ich habe Ihnen auch noch Anschauungsmaterial mitgebracht. Vielleicht wird das Ihre Motivation steigern.« Osbourne rutschte mit dem Stuhl vom Tisch zurück, und der Arm eines anderen Mannes erschien auf dem Bildschirm. Am blauen Ärmel war ein Aufnäher zu erkennen – DHS war in gelben Buchstaben aufgestickt.

Marco hörte vier oder fünf leise Mausklicks, und das Fenster auf seinem Bildschirm verdunkelte sich. Im nächsten Moment erhellte es sich wieder. Doch die Szenerie war völlig verändert.

Was er nun sah, war ein körniger Schwarz-Weiß-Stummfilm von einem Gefängniszellentrakt, der von einer im obersten Stockwerk installierten Sicherheitskamera aufgenommen worden war. Zur Rechten verlief ein aus Gitterrosten bestehender Laufsteg entlang einer Reihe dunkler, offener Zellen, von wo aus man eine identische Galerie auf der darunterliegenden Ebene überblickte, und darunter wiederum befand sich ein langer rechteckiger Innenhof. Hunderte Gefängnisinsassen in anthrazitfarbenen Overalls bewegten sich gemächlich in dem offenen Bereich, verschwanden in Eingängen und kamen aus ihnen hervor.

»Gefängniskrankenhaus Sarsgard am 12. März 2014, acht Tage nach dem Ausbruch«, unterlegte Osbournes Stimme das Video. »Das Bildmaterial wurde während der gescheiterten Rettungsaktion aus dem zentralen Sicherheitssystem geborgen. Ich dachte, eins der Highlights würde Sie vielleicht interessieren.«

Marco konzentrierte sich auf die Häftlinge. Leichen. Ihre Gesichter waren bleich und wirkten aus der Ferne amorph, doch Marco erkannte sie am ruckartigen Gang und dem leichten seitlichen Kopfwackeln.

Er stieß die Luft aus und ließ die Szene auf sich wirken. Der Boden war mit zerfetzten Leichen von Wachtposten und Häftlingen übersät, und herausgerissene Organe und Gedärme lagen überall herum. Spuren einer schillernden schwarzen Flüssigkeit zogen sich über den Boden. Er konnte den Urin, den Kot, den Gestank nach Krankheit und Verwesung fast riechen. In den Ecken des Hofs hatten die Toten sich zusammengerottet, kauerten auf dem Boden und krochen übereinander hinweg, um Fleisch aus Leichen zu reißen, die sie beiseitegeschafft hatten. Gott sei Dank musste er wegen der fehlenden Tonspur nicht mit anhören, wie sie genüsslich die Knochen abnagten und mit blutverschmierten Mündern laut schmatzten. Marco sah, wie an einer Wand zwei uniformierte Beine – ein Wärter, der noch lebendig unter einem Haufen fressender Leichen lag und sich verzweifelt zu befreien versuchte – plötzlich zuckten und dann reglos dalagen, während ein dunkler Fleck sich in seiner Leistengegend ausbreitete.

Marco rutschte auf dem Stuhl herum. Seit Jahren hatte er niemanden mehr so sterben sehen. Wenigstens gab es heute in den Evakuierten Staaten keine Menschen mehr, die die Leichen fressen konnten.

Naja, fast keine. Sie haben immer noch mich.

Eine Bewegung am anderen Ende des Korridors erregte Marcos Aufmerksamkeit. Die Tür zum Treppenhaus wurde aufgestoßen, und drei Männer stürmten auf die Galerie. Lebendige Menschen.

»Drei tapfere Helden«, sagte Osbourne.

Die Männer rannten fünfzehn Meter auf der Galerie in Richtung Kamera. Zwei von ihnen waren uniformierte Soldaten, deren Oberkörper von schusssicheren Westen geschützt wurden und deren Gesichter unter Plexiglashelmen verborgen waren; in vollem Lauf schwenkten sie martialisch aussehende Sturmgewehre. Der dritte Mann sah etwas anders aus – er trug eine Brille, ein zerrissenes weißes Hemd und eine helle Hose. Ein Verband mit schwarzen Flecken war um den linken Arm gewickelt. Dann blieben die Männer abrupt knapp einen halben Meter vor der Kamera stehen.

Der Mann mit der Brille öffnete entsetzt den Mund.

»Roger«, sagte Marco. Der Anblick erstaunte ihn nicht im Geringsten. Er hatte das natürlich schon erwartet – wozu sonst das Video? Dennoch drehte sich ihm unwillkürlich der Magen um.

»Ja«, sagte Osbourne nur.

Die drei Männer reagierten auf irgendwelche Vorgänge außerhalb des Blickwinkels der Kamera vor ihnen auf der Galerie; dann wichen sie ein paar Schritte zurück, machten kehrt und rannten in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Doch die Tür zum Treppenhaus flog auf, bevor sie sie noch erreichten, und Leichen strömten heraus. Die Toten drängten sich auf der Galerie und hielten auf die Männer zu.

Roger und die Wachtposten machten wieder kehrt und stießen zusammen – ein lustiger und zugleich entsetzlicher Anblick. Man konnte sogar als Zuschauer in Panik geraten. Schemenhafte Konturen erschienen im unteren Bereich des Videobildschirms; sie näherten sich der Kamera von unten.

Köpfe. Schultern.

Noch mehr Leichen, die das andere Ende der Galerie blockierten.

Die Männer saßen in der Falle.

Der erste Soldat stellte sich dem Ansturm toter Häftlinge aus dem Treppenhaus entgegen. Mit beiden Händen packte er den Lauf des Gewehrs und hielt es wie einen Baseballschläger. Marco verstand. Er hatte keine Munition mehr. Der Soldat schwang das Gewehr und drehte sich durch die Wucht des Schlags. Der Gewehrkolben traf die erste Leiche im Rudel, einen riesigen, kahl geschorenen Häftling mit einem großen tätowierten Kopf und einem Augapfel, der ihm fast bis auf die Wange herunterhing. Durch den Schlag wurde der Leiche der Unterkiefer abgerissen, aber das hatte keine tödliche Wirkung; Zähne und eine schwarze Flüssigkeit quollen aus der Wunde, während die Leiche den Soldaten mit zwei mächtigen Händen packte.

Die Leiche drückte den zappelnden Mann an die Brust und wollte ihm ins Gesicht beißen; die Schneidezähne glitten an der Plexiglasmaske ab, aber der Soldat war dennoch zum Tode verurteilt. Nach ein paar Sekunden fielen auch die anderen Leichen über ihn her, umringten ihn und zerrten an Armen und Beinen. Marco zuckte zusammen, als ein langhaariger nackter Häftling mit muskelbepackten Schultern dem Soldaten einen wuchtigen Hieb gegen den ungeschützten Nacken versetzte. Blut spritzte und benetzte den Mob.

»Wir hatten ziemlich hohe Verluste erlitten«, sagte Osbourne. »Wir haben allerdings Konsequenzen daraus gezogen. Unter anderem dient diese spezielle Evakuierung uns nun als ein Negativbeispiel bei Einsatzübungen. Der Schwerpunkt liegt nun auf dem sparsamen Umgang mit Munition. Ein Kopf, eine Kugel‹, so lautet die neue Devise.«

Marco antwortete nicht. Er verfolgte, wie Roger Ballard und der andere Soldat die Galerie entlangrannten und an Zellentüren rüttelten – in der Hoffnung, eine Tür zu finden, hinter der sie sich einschließen konnten. Aber sie hatten kein Glück. Die Türen waren in der geöffneten Stellung verriegelt.

Die Leichenmassen nahmen sie von beiden Seiten in die Zange. Sie waren nur noch ein paar Meter voneinander entfernt. Voller Entsetzen hielt der Soldat seine Waffe mit ausgestreckten Armen vor sich, als könnte er den Angriff so noch abwehren.

Ballards Lippen bewegten sich; er rief dem Soldaten etwas zu. Der Mann antwortete nicht.

Ballard rief noch einmal und stürmte zum Geländer der Galerie. Hundert graue, angefaulte Hände griffen nach ihm, als er mit einem kräftigen Beinschwung über die Galerie flankte; die Füße waren nach oben gestreckt, und die weißen Hemdzipfel flatterten wie ein Schwalbenschwanz in der Luft.

Dann war er weg. Verschwunden.

Die Fallhöhe musste um die zehn Meter betragen haben. Wo auch immer er auf dem Betonboden aufgeschlagen war – noch lebendig oder alle Knochen im Leib gebrochen –, er war aus dem Erfassungsbereich der Kamera verschwunden.

Der einsame Soldat starrte auf das Geländer, über das Ballard sich geschwungen hatte. Der Mann schob unschlüssig die Schultern nach vorn, zog sie zurück und schob sie dann wieder nach vorn. Als er schließlich eine Entscheidung traf, war es schon zu spät für ihn. Er setzte gerade zum Sprung über das Geländer an, da drangen die Leichen von links und rechts auf ihn ein und packten ihn. Ihre Übermacht war so erdrückend, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Er stand unbeweglich da, als wäre er in einen Schraubstock eingespannt worden. Sein schreiendes Gesicht war hinter der Maske verborgen, während sein Körper von wild schnappenden Zähnen und klauenartigen Fingernägeln zerrissen wurde. Uniform- und Hautfetzen regneten wie Konfetti über die Monster. Blut spritzte wie eine Fontäne.

Und Leichen – sie waren nun überall, auf jeder Galerie. Sie hatten sich in kurzer Zeit um ein paar Hundert vermehrt, und nun stürmten sie blutverschmiert und im Mordrausch den Innenhof.

Eine Gefängnisrevolte nach dem Vorbild von Dantes Inferno.

Marco schauderte. Dann verschwand das Video gnädigerweise vom Bildschirm. Es erschien wieder Osbournes hässliches Gesicht, das im Vergleich zu diesen Bildern aber geradezu ästhetisch wirkte.

»Rufen Sie mich an, wenn Sie dort angekommen sind«, sagte Osbourne.

3.4

Die Sonne war hinter Marco am Himmel weitergewandert. Sie fiel nun durch ein anderes Fenster in sein Arbeitszimmer und warf Reflexe auf den Computerbildschirm. Die untere Hälfte von Osbournes Gesicht war jetzt im hellen Licht nicht mehr klar zu sehen. Nur die auf Marco gerichteten Augen waren noch deutlich zu erkennen. Marco erwiderte den Blick. Das Arschloch wollte ihn bloß provozieren.

Ein paar Sekunden vergingen. Dann schniefte Marco, um seine Nase freizubekommen. »Danke für den netten Film«, sagte er. »Aber was veranlasst Sie überhaupt zu der Annahme, dass ich das schaffe? Wenn nicht einmal eine ganze Evakuierungstruppe von dort entkommen konnte?«

»Zum einen ist Doktor Ballard vielleicht gar nicht mehr dort«, sagte Osbourne. Seine Stimme war wieder ruhig und vermittelte Zuversicht; Marco hatte das Gefühl, ein Vater spräche mit seinem Kind. »Er ist vielleicht schon verschwunden, wie Sie vermutet hatten. Emotionale Geografie, stimmt’s?«

»Nicht, wenn er dort drin gefangen ist. In einem Gefängnis.«

»Die ganze Einrichtung war zum Schluss so löchrig wie ein Schweizer Käse, und in der Gefängnismauer klaffte ein großes Loch. Er hätte leicht entkommen können. Und wenn nicht, dann sollten Sie sich nicht unter Wert verkaufen, Doktor Marco. Sie haben doch schon jahrelang da draußen überlebt. Sie müssen doch ein paar Tricks parat haben, Millionen Leichen aus dem Weg zu gehen. Oder zumindest großes Glück. Wie dem auch sei, Sie haben die Erfahrung, über die wir zugegebenermaßen nicht verfügen.«

»Ja, ich bin ein echter Experte.«

Osbourne zuckte die Achseln. »Sie werden natürlich Hilfe bekommen.«

Marco hielt mitten im Atemzug inne. »Hilfe? Von wem denn?«

»Militär, Doktor Marco. Spezialkräfte, die AAE – Anti-Auferstehungs-Einheit. Während wir miteinander sprechen, halte ich ein paar Kilometer von Ihrem Anwesen ein Team in sicherer Position in Bereitschaft. Es hat Anweisungen, Sie morgen abzuholen und nach Sarsgard zu eskortieren. Sie haben das Anwesen schon seit einer Woche observiert und auf Ihre Rückkehr gewartet.«

Hurensohn, dachte Marco. Mit gerunzelter Stirn kniff er sich in das lädierte linke Ohrläppchen mit der alten Hundebissnarbe, bis er sich bewusst wurde, dass Osbourne ihn beobachtete. Er nahm die Hand wieder herunter. Wollte man ihm eine Falle stellen? War das vielleicht irgendein Trick? Um ihn auf dem falschen Fuß zu erwischen, zu überrumpeln und in Gewahrsam zu nehmen? Er bezweifelte zwar, dass er diesen Aufwand wert war, aber trotzdem …

»Ich brauche keine Hilfe«, sagte er.

»Das ist nicht verhandelbar«, konstatierte Osbourne ungerührt. »Sie werden mit Ihnen gehen.«

»Sie werden ohne mich gehen. Weil ich den Auftrag nämlich nicht annehme.«

»Unsinn«, sagte Osbourne spöttisch. »Sie sind die Schlüsselfigur.«

»Und wieso bilden Sie sich das ein?«

»Falls Ballard sich nicht mehr in diesem Gefängnis befindet, dann kommt es tatsächlich auf Sie an. Roger Ballard hat zurückgezogen gelebt; es ist uns nicht bekannt, dass er Familie oder Freunde gehabt hätte. Aus meinen Quellen geht hervor, dass Sie sein engster Bekannter waren. Falls seine Leiche entkommen und zu einem Ort gewandert ist, der eine persönliche Bedeutung hat, dann werden wir uns von Ihren Einsichten bezüglich seines Wesens leiten lassen.«

Marco lachte. »Glauben Sie wirklich, ich hätte irgendwelche Einsichten in Roger? Dann haben Sie wirklich gar keine Ahnung.«

»Mein Reden, Doktor. Ich brauche Sie, um die Ballard-Leiche zu finden. Falls Sie Bedenken wegen der persönlichen Note des Auftrags haben – Sie müssen den Abzug nicht selbst betätigen. Die AAE wird sich um alles Weitere kümmern, sobald Ballard gefunden wurde.«

»Aber Sie wollen mir nicht den Grund nennen.«

Osbourne saß reglos wie eine Statue da. Selbst die Lippen bewegten sich kaum. »Nein.«

»Ich verstehe das nicht …«, sagte Marco. »Ich verstehe nicht, weshalb Sie so erpicht darauf sind, dass Roger zurückgegeben wird. Und bei Dingen, die ich nicht verstehe, werde ich immer nervös.« Er schüttelte den Kopf. »Ich lehne Ihr Angebot ab.«

Es trat eine Pause ein. Dann wurde Marco von Benjamins körperloser Stimme aufgeschreckt. Er hatte ganz vergessen, dass Ben auch noch da war und alles mit anhörte. »Marco, überleg doch mal …«

Osbourne fiel ihm ins Wort. »Mr. Ostroff«, sagte er streng und hob einen Finger, ohne auch nur den Kopf zu drehen. Sein Blick blieb auf Marco gerichtet.

Marco hörte ein Murmeln im Hintergrund.

»Doktor Marco«, fuhr Osbourne fort, »damit wir uns auch richtig verstehen: Sie hatten damals den Evakuierungsbefehl missachtet und haben deshalb die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten verwirkt. Und Ihre Geschäftstätigkeit mit Mr. Ostroff über die Sichere Grenze hinweg verstößt auch gegen das Handelssicherheitsgesetz, wodurch Sie formal gesehen zum Terroristen werden und Mr. Ostroff zum Verräter. Es liegt im Rahmen meiner offiziellen Befugnisse, Mr. Ostroff zu inhaftieren – oder meiner inoffiziellen, ihn einfach verschwinden zu lassen. Trotzdem habe ich mich für eine freundlichere Option entschieden, weil ich nämlich den Wert Ihrer Dienste erkenne. Und nicht nur für mich und in diesem Moment, sondern auch für die Zukunft. Ich bin nicht herzlos. Mir ist durchaus bewusst, was Sie für die Überlebenden tun und was das für den Wiederaufbau unserer Nation bedeutet. Und ich bin auch gewillt, das zu tolerieren – allerdings inoffiziell, wenn Sie verstehen; das ist keine amtliche Genehmigung. Für diesen Vertrag ist ein Reptilienfonds eingerichtet worden. Aber damit eines klar ist – das ist kein Angebot. Sie werden tun, was ich sage.«

»Oder …?«, fragte Marco nach einer kurzen Pause.

Osbourne öffnete die übereinandergeschlagenen Beine und seufzte. »Also wirklich, Doktor. Ich versuche, uns die Peinlichkeit harter Fakten zu ersparen. Aber Sie scheinen es geradezu darauf anzulegen. Also … Sie werden tun, was ich sage, oder Mr. Ostroff wird mit einem Kopfschuss liquidiert. Sie können ihn sogar live sterben sehen. Und wenn ich einen Bericht schreiben müsste, würde ich es damit begründen, dass er sich bei seiner Verhaftung einem Bundesbeamten widersetzt hätte. Nur dass ich überhaupt keine Berichte schreiben muss.«

Marco schloss die Augen. Der Magen drehte sich ihm um. »Ben, bist du noch da?«

War das vielleicht nur ein Bluff? Würden sie Benjamin wirklich töten …?

»Ja, Mann, ich bin hier.« Benjamin klang selbst auch verunsichert. Er räusperte sich. »Das Honorar ist gut, Marco. Es ist wirklich gut.«

»Und«, sagte Osbourne, »da wäre noch etwas zu bedenken. Ihre Frau.«

Marco riss die Augen auf, und Osbourne fuhr fort. »Sie suchen doch nach ihr, nicht wahr, Doktor Marco? Das ist auch der Grund, weshalb Sie dortgeblieben sind. Und aus Ihrem betroffenen Gesichtsausdruck schließe ich, dass Sie sie noch immer nicht gefunden haben. Wie lange ist das nun schon her? Vier Jahre? Für die Ausführung eines Auftrags brauchen Sie in der Regel – wie lange, einen Monat? Wieso hat es beim letzten so lange gedauert?«

Marco schluckte. »Ich weiß nicht«, sagte er heiser. Er wusste es wirklich nicht. Er rieb sich die Augen und spürte wieder die Müdigkeit. Er sehnte sich danach, sich ins Bett zu legen und die Decke über den Kopf zu ziehen. Von Dunkelheit umfangen zu werden.

»Vier Jahre«, wiederholte Osbourne. »Vielleicht haben Sie sich auch schon einmal gefragt, ob Sie sie überhaupt wiederfinden werden.« Er zog eine Augenbraue hoch, und Marco hätte ihm am liebsten eins in seine selbstgefällige Visage gehauen.

Nach einem Moment fuhr Osbourne fort. »Aber ich will hier keine Schwarzmalerei betreiben. Ich bin sicher, dass Sie am Ende doch noch Erfolg haben werden. Egal ob Sie sie nun … zurückgeben‹ werden, wie Sie es bezeichnet haben, oder ob Sie eines Tages doch beschließen werden, die Suche aufzugeben. Und was dann? Sie haben die Evakuierungsfrist verpasst und die Quarantäne gebrochen, und deshalb werden Sie nie mehr in die Sicheren Staaten einreisen dürfen. Sie werden für immer dort draußen umherwandern, bis Sie gefressen werden oder bis Sie selbst ein Zombie werden. Was mich veranlasst, Ihnen einen besonderen Anreiz zu bieten. Das Sahnehäubchen auf der Torte sozusagen.«

Marco glaubte zu spüren, wie Osbourne in seinem Bewusstsein schürfte – wie ein Gärtner mit einer Harke den Boden umgrub, während seine gemeinen Worte sich wie Würmer ins Erdreich wanden. Er empfand diese Vorstellung als abstoßend. Aber diese Worte wirkten und taten das, was Würmer tun – das Erdreich auflockern. Und er kam zu der Erkenntnis, dass das, was ihn eigentlich abstieß, die Gedanken waren, die sie zutage förderten – Vorstellungen, die vor so langer Zeit in seinem Unterbewusstsein geprägt und dann vergraben worden waren. Auch wenn die Jahre an der Oberfläche gekratzt hatten.

Wieso hat der letzte so lange gedauert …?

Vier Jahre …?

Vielleicht haben Sie sich auch schon einmal gefragt …?

Er wurde sich bewusst, dass Osbourne wartete.

»Sagen Sie’s mir«, sagte Marco und staunte selbst über die Bedürftigkeit, die in seiner Stimme mitschwang.

Osbourne legte die Hände flach auf den Tisch und beugte sich nach vorn. »Amnestie.« Der Direktor krümmte die knochigen Finger und sprach weiter: »Einreisegenehmigung in die Sicheren Staaten – wenn die Zeit reif ist und wenn Sie bereit sind. Dann können Sie wieder in die Zivilisation zurückkehren und ein neues Leben beginnen. Mit den Lebenden.«

Marco räusperte sich. »Wieso haben Sie noch mal eins draufgesetzt? Das Sahnehäubchen?«

»Für den Fall, dass ich falsch eingeschätzt hätte, wie weit Ihre Sympathie für Mr. Ostroff reicht. Für den Fall, dass Ihnen sein Leben und/oder das Geld egal gewesen wären. Ich motiviere Sie mit einer Sache, von der ich sicher bin, dass Ihnen etwas daran liegt. Mit der Heimkehr.«

»Mir liegt durchaus etwas an Ben. Doch was das Letztere betrifft, so irren Sie sich. Das spielt für mich überhaupt keine Rolle.«

»Ich glaube schon, Doktor. Ich glaube sogar, dass es eine sehr große Rolle für Sie spielt. Sie wollen doch nicht im Ernst für immer da draußen bei den Toten bleiben. Doch ohne meine Hilfe sitzen Sie dort fest.«

Marco fröstelte in seinem feuchten Hemd. Gott verdammt, er fror. Und er war müde. Der Kopf fühlte sich kaum noch dem Körper zugehörig, als hätte der Hals als Bindeglied versagt. Er brauchte mehr Sudafed, mehr abgelaufenes beschissenes Sudafed, das wahrscheinlich eh nicht mehr wirken würde.

»Ich kann Sie wieder reinholen«, sagte Osbourne. »Sie können das alles hinter sich lassen.«

Nicht nur das Sudafed. Es funktionierte überhaupt nichts mehr. Alles hier draußen war nur noch ein einziges großes Verfallsdatum.

»Suchen Sie Roger Ballard.« Osbournes Stimme schwappte über ihn hinweg. »Suchen Sie ihn, oder Mr. Ostroff stirbt noch heute. Suchen Sie ihn und verschaffen Sie sich eine neue Zukunftsperspektive. Das ist die Wahrheit. Nicht das Angebot.«

Marco drehte sich auf dem Stuhl zum Fenster herum. Für einen Moment waren die Superstition Mountains verschwunden. Vor seinem geistigen Auge sah er stattdessen das Meer – den Atlantik, schäumende Gischt vor der Küste von Maine, einen rostigen roten Leuchtturm: der Tag, an dem er Danielle am Strand einen Heiratsantrag gemacht hatte. Er wollte einschlafen und sich an diese Dinge erinnern.

Und dann wollte er aufwachen, genauso wie Joan Roark morgen aufwachen und mit ihrem Tagewerk beginnen würde.

»In Ordnung«, sagte er. »Ich werde Roger zurückgeben.«

Zum ersten Mal lächelte Osbourne. Seine Piranhazähne strahlten in einem unnatürlichen Weiß. Marco musste beinahe lachen. Dieser Tage wollte jeder, dem er begegnete, ihn partout fressen.