Todesurteile

11.1

Marco jaulte beim Aufprall auf, und Katastrophenszenarien spielten sich vor seinem geistigen Auge ab …

… er sah, wie der Lkw sich überschlug, als metallischer grüner Schemen auf dem Asphalt zerbrach und Leichen sein rosiges Fleisch aus dem Wrack schälten…

… doch Gott sei Dank trat das nicht ein. Stattdessen wurde der Zaun zerrissen, und der sieben Tonnen schwere Lkw prallte gegen die Leichenmenge, die sich hinter dem Zaun zusammengerottet hatte. Der Schrei blieb Marco in der Kehle stecken, als der Maschendrahtzaun sich um den Kühlergrill des Lkw wickelte. Das MTVR riss den Zaun auf einer Länge von fast zehn Metern von den Pfosten ab, als wäre er aus Papier. Der Gefängnishof hallte von metallischem Zischen und einem Geräusch, als wären hundert Luftballons geplatzt, wider – das waren Fäulnisgase und unter Druck stehende Luft, die aus den Lungen der toten Häftlinge entwich, als der Lkw sie niederwalzte.

Mit dem Zaun vor dem Kühler walzte der Lkw wie ein bizarrer Bulldozer über den Hof und pflügte Leichen um. Diejenigen, die es zuerst erwischte, klammerten sich am Zaun fest und krallten ihre verkrüppelten Finger in das Drahtgeflecht. Einen Moment lang trafen Marcos Blicke sich mit denen eines verwildert wirkenden Mannes; eine Messernarbe zog sich wie ein Blitz über seine aschfahle Wange. Hunderte Leichen drängten sich hinter ihm, vier bis fünf Reihen tief gestaffelt, während der Lkw mit hoher Geschwindigkeit eine blutige Schneise der Verwüstung durch den Hof zog. Er schleuderte einen Ständer mit Gewichten zur Seite, wirbelte Hanteln durch die Luft, fuhr über die weißen Linien eines Basketballfelds und hielt frontal auf die Ziegelsteinmauer vor ihnen zu.

Marco schrie wieder auf.

Die Toten dämpften den Aufprall – ein Puffer aus fünfzig Leichen zwischen der Wand und dem Lkw. Marco zuckte beim lauten Knacken von tausend splitternden Knochen zusammen, als Köpfe wie Korken aus einer Champagnerflasche von den Körpern flogen. Ein Hagel aus zähem Leichenfleisch klatschte auf die Motorhaube – kleine quadratische Stücke, die wie eine Wurstmasse durch die Maschen des Zauns gepresst worden waren. Die vernarbten Lippen des Mannes öffneten sich beim Aufprall, und er spie den Magen aus – er baumelte geradezu obszön wie eine riesige, purpurfarbene schleimtriefende Zunge heraus.

Marco prallte heftig mit dem Brustbein gegen das Lenkrad, und ihm blieb die Luft weg. Sein Kopf ruckte herum, als der Lkw schließlich zum Stehen kam; sein Mund öffnete und schloss sich und rang vergeblich nach Atem. Es vergingen fünf Sekunden, bis er die Sprache wiederfand.

»Heilige … Scheiße!«, stieß er hervor.

Wus Gesicht war eine schmerzverzerrte Maske, und er hatte die Hand auf die Schulter gepresst. Frisches Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. »Das – war dumm …«

»Ja, mein Gott«, unterbrach Marco ihn. »Kommen Sie schon, wir müssen hier raus.«

Hinter dem Maschendrahtzaun krümmte sich ein Dutzend überlebender Leichen. Sie wurden gegen die Mauer gepresst und konnten ihnen nichts mehr anhaben – doch im Spiegel sah Marco, dass ein weiterer Schwarm in orangefarbenen Overalls auf den Lkw zuwankte. Die toten Aufständischen kehrten in der Hoffnung auf eine leichte Mahlzeit in den Hof zurück.

Marco stieg hastig aus dem Lkw. Die Toten waren noch etwa fünfzehn Meter entfernt. Von den Reitern war noch nichts zu sehen, doch der Lärm ihrer Quads wurde mit jeder Sekunde lauter.

Und der Zaun war auf breiter Front aufgerissen, als hätte man ihnen einen roten Teppich ausgerollt.

Verdammt.

»Diese Richtung«, sagte Marco mit einem Fingerzeig, als Wu ihn an der Rückseite des Lkw traf. Der Eingang des Gefängnisses war noch etwa drei Meter entfernt: Ein schwarzes rechteckiges Loch klaffte an der Stelle, wo die AAE die Türen herausgesprengt hatte. Er hatte noch keinen einzigen Schritt gemacht, als plötzlich ein lauter Knall auf dem Hof ertönte und Splitter aus der Mauer gesprengt wurden, die ihn wie schmerzhafte Stiche trafen.

»Mein Gott!«, schrie er und schützte den Kopf mit den Armen.

Am offenen Ende des Hofs war das Reiter-Quad zum Stehen gekommen. Auf dem Geschützturm ließ Monsterschädel grimmig den Blick über das Meer aus Leichen schweifen.

»Erledigt sie!«, rief er laut. Seine Stimme war so tief und wild, geradezu animalisch, dass Marco die Worte kaum verstand. »Macht sie fertig!« Und dann feuerte die Browning eine zweite Salve in die Menge. Leichen zerplatzten, und orangefarbene Gewebestreifen flatterten im Wind.

Wu rannte an Marco vorbei. »Rein da!«

Marco drohte die Nerven zu verlieren. Er rannte wie von der Tarantel gestochen los. Er spürte förmlich, wie die Browning seine wirbelnden Beine anvisierte, und rechnete jeden Moment damit, dass die Vollmantelgeschosse ihm die Knie zerschmetterten …

Er sprang in das schwarze Loch und wäre fast gestürzt, als er mit einem Fuß an der obersten Stufe hängen blieb. Kugeln zischten über seinen Kopf hinweg. Dann erlangte er das Gleichgewicht wieder und drang immer tiefer in die Dunkelheit ein. Wus Schritte hallten vor ihm. Das ist doch verrückt, sagte Marco sich. Der totale Wahnsinn. Hier drin könnte alles Mögliche lauern. Blindlings lief er einen Gang entlang, der zweimal eine Biegung machte, und dann gelangte er zu einer Sicherheitsschleuse mit einer Gittertür – die Gott sei Dank offen stand.

Er rannte hindurch und spürte, dass der Raum sich um ihn herum weitete.

Der zentrale Zellenblock. Das erste Sonnenlicht durchdrang die Finsternis, und Marco versuchte angestrengt, irgendwelche verdächtigen Schatten in der weitläufigen Halle auszumachen. Er suchte schnell die Ecken ab und fragte sich, von wo aus die erste Leiche wohl angreifen würde. Es war wirklich eine gewaltige Anlage – sie glich einer riesigen Lagerhalle mit unzähligen Zellen, die sich über weit mehr als hundert Meter erstreckten, bis sie in einem dunklen Vakuum verschwanden, das auch das Licht verschluckte. Echos hallten aus diesen Tiefen wider und warfen das Trampeln der Stiefel auf dem harten, gefliesten Boden zurück. Marco blieb neben Wu stehen, und die beiden Männer verharrten an der Schwelle zur Dunkelheit und peilten die Lage.

»Sehen Sie etwas?«, fragte er Wu.

»Genauso viel wie Sie.«

Draußen ebbten die gedämpften Geräusche der Schüsse ab und verstummten dann ganz.

»Vielleicht haben die Leichen sie gefressen«, mutmaßte Marco.

»Das bezweifle ich. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass die Reiter den Hof gesäubert haben. Sie werden uns jetzt folgen.«

»In welche Richtung sollen wir weitergehen?« Marco blinzelte und ließ schnell den Blick durch den Block schweifen. Trübes Licht fiel durch die mit Stahlstäben vergitterten Fenster im Dach hoch über ihnen. Staub schwebte in den Lichtstrahlen, und irgendwo hörte er Flügelschläge von Vögeln, die in dem Gewirr aus Stahlstreben nisteten. Es lag ein widerwärtiger Gestank in der Luft – als wären Erbrochenes und Dung vermischt worden. Im Erdgeschoss sah er keine Zellen, doch links und rechts von ihm waren schmale Aufgänge, die zu drei Etagen mit Zellen hinaufführten. Hier und da hing ein skelettierter Arm über eine Brüstung. Der Boden vor ihnen war mit einzelnen Knochen übersät, die Nagespuren aufwiesen. Etwa drei Meter von Marco entfernt lag die verstümmelte Leiche eines Gefängniswärters – Tischabfälle von einer Fressorgie. Man hatte dem armen Teufel die Beine abgerissen; das Rückgrat ragte schätzungsweise dreißig Zentimeter über den Nacken hinaus, sodass er wie ein grausiger menschlicher Lolli aussah.

Marco erinnerte sich an das Video, das Osbourne ihm gezeigt hatte. War das etwa derselbe Ort? Derselbe Wachposten, der im Film aufgefressen wurde? Vielleicht, vielleicht auch nicht; wahrscheinlich glichen die Blöcke sich wie ein Ei dem anderen. Falls es sich aber um dasselbe Gebäude handelte, dann wäre Roger – Marco ließ den Blick über die Laufstege schweifen – über dieses Geländer gestürzt und genau … ungefähr … dort gelandet.

Er sah zu Boden und wünschte sich beinahe, dass Roger sich bei dem Sturz das Genick gebrochen hätte. Das wäre ein leichterer Tod gewesen. Dann hätte er nicht ins Labor fliehen müssen, hätte keine geheime E-Mail senden müssen, und überhaupt wäre dieser ganze Scheiß dann nicht nötig gewesen.

Das plötzliche laute Grollen eines Quad-Motors holte ihn in die Wirklichkeit zurück.

»Sie sind hier drinnen«, sagte Wu. Seine Stimme hallte in der ganzen Halle wider … und das Echo brachte noch ein anderes Geräusch mit sich.

Ein Stöhnen.

Und das langsame Schlurfen von Füßen.

Marco brach der kalte Schweiß aus. Am anderen Ende gerieten die Schatten in Wallung, und er sah entsetzt, wie Arme und Beine und phantomartige weiße Gesichter sich aus der Dunkelheit schälten – sie quollen in Trauben aus den schwarzen Gefilden des Gefängnisses wie eine monströse Armee auf einem Nachtmarsch. Es waren Hunderte, soweit Marco es zu sehen vermochte.

Und noch Hunderte mehr, die er nicht sah.

»Scheiße, Wu. Sie haben sie aufgeweckt.« Hinter sich hörte er das Quad durch die leere Halle rasen. »Kommen Sie, wir gehen eine Etage höher!«

Er rannte an Wu vorbei, wandte sich nach rechts und lief zu einer Wendeltreppe aus Metall. Dann hetzte er in den ersten Stock hinauf. Bei jedem Schritt schossen ihm Gedankenfetzen durch den Kopf …

Die Reiter können nicht hochfahren, die Treppen sind zu schmal.

Achte auf Leichen in den Zellen.

Oh Gott.

… und während er weiterlief, kehrte auch sein Denkvermögen zurück. Auf dem Satellitenbild hatte die Krankenstation sich auf der anderen Seite dieses Blocks befunden. Also … die obere Galerie würde dorthin führen oder zumindest in die Nähe. Von dort würden sie schon den richtigen Weg finden. Dessen war er sich sicher. Das heißt, ziemlich sicher.

Nun ja, vielleicht doch nicht so sicher.

Am oberen Treppenabsatz blieb er stehen und zog seine Pistole. Er kontrollierte das Magazin. Es war voll mit fünfzehn Schuss. Im Wachturm hatte er sich die erstbeste Waffe geschnappt – das verdammte Schrotgewehr hatte er nicht mehr gefunden – und sie ins Holster gesteckt, während die Reiter die Plattform unter Beschuss nahmen. Bei näherer Betrachtung identifizierte er sie nun als eine M9, eine halbautomatische Pistole, wie er sie schon oft von toten Soldaten erbeutet hatte. Doch diese hier unterschied sich in einem Detail. Eine kleine Stange war am Abzugsbügel montiert, direkt unter dem Lauf. Ein Schalter ragte an der Seite hervor.

Er betätigte ihn.

Ein stecknadelkopfgroßer Lichtpunkt tanzte in einer Entfernung von vielleicht zwei Metern auf dem Betonboden. Er schwenkte die Pistole, und das Licht folgte ihr – nun als ein heller Punkt. An der Wand neben der Galerie und jetzt auf dem gefliesten Hallenboden unter ihm. Der Punkt war immer dort, wo er hinzielte.

Ein Laservisier.

»Super«, sagte er just in dem Moment, als die zwei Reiter-Quads in der Halle auftauchten. Die Soldaten rasten unter dem Gitterrost-Laufsteg entlang, ohne zu ahnen, dass die Leichen in der Dunkelheit lauerten. Reflexartig richtete Marco den roten Punkt auf den Helm des ersten Fahrers. Es war der Reiter in der ledernen Motorradjacke; Marcos Finger krümmte sich um den Abzug, während er das sich bewegende Ziel verfolgte. Er leckte sich die trockenen Lippen.

Tu es, sagte er sich nachdrücklich, denk nicht

Doch er kam nicht mehr zum Schuss.

Blitzschnell flog ein Gegenstand über seine rechte Schulter, ein rundes metallisches Objekt. Ein rotierendes Projektil wie eine fliegende Untertasse. Eine gebogene Klinge – Wus Messer. Es flog in einer geraden Linie zum einsitzigen Quad und grub sich mit einem satten schmatzenden Geräusch in den Nacken des Fahrers. Mit einem erstickten Schrei fiel der Reiter vom Fahrzeug, ruderte mit den Armen und schlitterte rücklings über die Fliesen, direkt vor die Füße der toten Häftlinge.

Der Mob saugte ihn wie mit einem riesigen Mund ein, und als er einmal drin war, traten die Reißzähne in Aktion und häuteten und zerkauten ihn bei lebendigem Leib.

Das Massaker dauerte noch an, als die Todesschreie des Mannes als hundertfache Echos widerhallten. Das führerlose Quad brach nach links aus, dann nach rechts und überschlug sich schließlich. Fast wäre das zweite Quad, auf dem Monsterschädel mitfuhr, mit ihm kollidiert; der Fahrer konnte gerade noch ausweichen und bremsen. Er kam etwa sechs Meter vor den Leichen zum Stehen. Monsterschädel stieß ein Brüllen aus und richtete die Browning auf die Menge. Doch im letzten Moment überlegte er es sich anders. Er zeichnete mit dem Finger einen Kreis in die Luft, und der Reiter-Chauffeur wendete das Quad und raste davon, als die Leichen angriffen.

Sie kamen auf dem Rückzug wieder unter dem Laufsteg vorbei, und Monsterschädel schaute finster zu Marco hinauf. Die Augen des Kommandanten leuchteten wie glühende Kohlen in der Dunkelheit – ein hasserfüllter Blick, der Schmerz und Leiden verhieß –, und dann verschwand das letzte Quad mit brüllendem Motor im Seitengang.

Als wütenden Abschiedsgruß hinterließen sie Qualm und übel riechende Dieselabgase.

»Der Block ist eine geschlossene Schleife«, sagte Wu und stellte sich neben Marco. »Sie werden aus der anderen Richtung kommen und hoffen, dass dort weniger Leichen sind.«

Marco stieß die Luft aus. »Ein guter Wurf. Nur schade, dass Sie Ihr cooles Messer verloren haben.«

»Deswegen habe ich immer zwei dabei.« Wu fuchtelte mit dem ihm noch verbliebenen Messer in der Luft und lief dann den Laufsteg entlang. Die Zellen glichen düsteren rechteckigen Käfigen, und die Türen waren alle in der geöffneten Stellung verriegelt. »Laufen Sie weiter. Der Weg ist frei …«

Ohne Vorwarnung schossen zwei Arme durch die Gitterstäbe neben Wu. Aus dem Inneren der Zelle packte ein toter Häftling Wu am Hemd und zog ihn gegen das Gitter, obwohl dieser sich mit Händen und Füßen wehrte.

Verdammte Scheiße

Perplex rannte Marco zur Zelle. Die Leiche zischte ihn durch die Gitterstäbe an. Es war ein dürrer, nackter Mann mit Platzwunden am Kopf. Eine gelbliche Rippe ragte ihm wie der Stoßzahn eines Elefanten aus der Brust. Er hielt Wu in einem verzweifelten Würgegriff und presste mit gefletschten Zähnen die Stirn gegen die Gitterstäbe. Aber es gelang ihm einfach nicht, Wu zu beißen.

Marco zentrierte den roten Punkt der M9 zwischen den blutunterlaufenen Augen und feuerte.

Es gab einen Rückstoß, der aber nicht allzu stark war – die Waffe hatte eine geringere Durchschlagskraft als seine Glock –, und ein Loch öffnete sich im Schädel des toten Mannes. Gehirnmasse quoll aus dem Hinterkopf. Die Leiche verdrehte die Augen, dann sackte sie zusammen, die Arme noch immer um Wu geschlungen. Schließlich ließ sie ihn los und schlug auf dem Zellenboden auf.

Wu zog sein Hemd glatt und stieß heftig und unter Schmerzen die Luft aus. »Seien Sie vorsichtig mit Ihrem neuen Spielzeug, Doktor. Sie hätten mich beinahe erschossen …«

Er versteifte sich, als der rote Punkt über seine Brust wanderte. »Doktor!«

»Entschuldigung«, sagte Marco und nahm den Laufsteg ins Visier. »Sehen Sie.«

Die Zellenreihe war aufgewacht – ein Haufen beschissener Leichen kroch aus den Eingängen. Die grauenhaften Kriminellen versammelten sich auf der Galerie. Zwanzig, dreißig tote Männer schlurften im Gänsemarsch auf ihn zu. Marco richtete den Laser auf die vorderste Leiche, einen männlichen Asiaten, dem beide Ohren fehlten.

Aber es sollte noch schlimmer kommen – ein ersticktes Stöhnen ertönte auf der Treppe.

Die Toten kamen vom Erdgeschoss herauf.

Ist doch nicht so schlimm, oder?, dachte Marco mit bitterem Sarkasmus. Die Pistole zitterte in seinen Händen. Hunderte von Leichen, die uns von beiden Seiten in die Zange nehmen. Wie eine Schrottpresse mit Zähnen.

Und noch vierzehn Kugeln in der M9.

»Vielleicht«, sagte er zu Wu, »hätten wir doch die bösen Buben um eine Mitfahrgelegenheit bitten sollen.«

11.2

Mit wenig Hoffnung blickte Marco über das Geländer der Galerie. Ich könnte springen wie Roger, sagte er sich. Dann runzelte er die Stirn. Und unten auf hundert Leichen landen.

Super Idee. Lass dir was anderes einfallen. Und zwar schnell

Die Toten waren inzwischen auf dem Laufsteg vorgerückt und nur noch fünf Zellen entfernt. Der Pulk kam auf ihn zu wie eine Schlange mit vielen Gesichtern. Sie waren verschrumpelt und schuppig – einfach unmenschlich.

Zu seiner Linken war eine düstere Zelle; eine dunkle Box mit zwei zerwühlten Betten und einer Metalltoilette. Schutz würde er dort nicht finden – es wäre eher eine Todesfalle.

Es sei denn

Die Betten.

Na, wer sagt’s denn. Mit neuem Mut nahm er die führende Leiche mit dem Laser-Zielgerät ins Visier und schoss ihr eine Kugel ins Gesicht. Matsch schoss aus den Löchern, wo sich einmal die Ohren befunden hatten. Das sah beinahe komisch aus. Noch bevor der Mann zu Boden gegangen war, betätigte Marco erneut den Abzug und nietete die nächste Leiche in der Linie um. Und er schoss immer weiter. Der rote Punkt erleichterte die Sache. Es machte fast Spaß, wie auf einem Kirmes-Schießstand – peng, peng, peng, bis er sechs Leichen auf dem Laufsteg niedergestreckt hatte. Genug, dachte er und zwang sich aufzuhören.

Damit haben wir ein paar Sekunden gewonnen.

»Kommen Sie!«, rief er Wu zu und huschte in die Zelle. Ein übler Gestank brandete ihm entgegen. Es roch wie mit Pisse mariniertes Gammelfleisch, und er wunderte sich dann auch nicht mehr über den Anblick der Toilette, aus der eine zähflüssige rote Brühe lief. Er würgte, und seine Augen tränten heftig.

»Hat man jemals …« Er hustete und musste sich übergeben. Dann schlug er eine verdreckte Decke auf dem Bett zurück und hätte sich fast wieder übergeben; die Matratze wimmelte nur so von feuchten, glitschigen Kakerlaken. Angeekelt packte er die Matratze an den genähten Kanten. »Haben Sie schon mal Football gespielt?«, fragte er Wu.

Wu sah ihn von der Zellentür aus an, als hätte er den Verstand verloren. »Doktor …«

»Ich auch nicht«, sagte Marco und riss die Matratze vom verrosteten Bettfedergestell.

Kakerlaken sprangen ihm ins Gesicht, fielen auf den Betonboden und huschten unter das Bettgestell. Die Matratze war feucht und hatte sich mit Kakerlakenexkrementen vollgesogen. Sie war ziemlich dünn, nicht viel dicker als eine Bettrolle, aber es würde funktionieren. »Ich war nicht kräftig genug«, krächzte er und unterdrückte die wieder aufsteigende Übelkeit. »Ich habe es einmal versucht, als ich zehn war, aber nur zwei Trainingseinheiten durchgehalten. Und jedes Mal geflennt.«

Er warf Wu die Matratze zu. Der fing sie überrascht auf. Marco wandte sich dem nächsten Bett zu und nahm die Matratze für sich. Draußen auf dem Laufsteg wankten die Leichen weiter auf sie zu und näherten sich schon der Tür.

»Zeit für eine Blocking-Übung«, verkündete Marco.

Er warf Wu ein unsicheres Lächeln zu – und bevor er seinen eigenen Geisteszustand infrage stellen konnte, schob er sich an dem Sergeant vorbei aus der Zelle.

Auf dem Laufsteg hielt er die Matratze wie einen Ganzkörperschild vor sich. Inzwischen hatten die Leichen, die von rechts kamen, die Treppe erklommen. Doch er ignorierte sie und attackierte stattdessen mit einem albernen schrillen Schrei, als wäre er wirklich wieder ein zehn Jahre alter Junge, mit vorgehaltener Matratze die Häftlinge, die sich von links näherten. Vier Schritte, fünf, und ihm wurde die Luft aus der Lunge gepresst, als wäre sie eine Papiertüte. Er rammte die erste Leiche – er sah den toten Mann nicht einmal, sondern spürte nur die Masse eines Körpers auf der anderen Seite der Matratze. Er verspürte einen stechenden Schmerz in der Schulter.

Scheiße. Das tat weh.

Er stürmte weiter vorwärts und erinnerte sich nun auch wieder, weshalb er Football damals aufgegeben hatte – jetzt fang bloß nicht wieder an zu heulen, ja? –, doch die Spieltaktik hatte Erfolg. Die Leiche, ein Mann mit eingefallener Brust, fiel auf den Rücken, und Marco sprang mit einem weiten Satz über sie hinweg – das hatte er auch beim Football gelernt –, um sich den Händen zu entziehen, die ihn an den Knöcheln packen wollten. Er hatte sich kaum vom ersten Aufprall erholt, als auch schon der zweite erfolgte – mit der nächsten Leiche in der Reihe. Diesmal schleuderte er die Leiche gegen das Geländer des Laufstegs. Als Marco an ihr vorbeirannte, versuchte der verrottete Häftling, ihm in den Rücken zu springen …

… doch in diesem Moment kam Wu mit seiner Matratze angestürmt und rannte die Leiche um, sodass sie auf den Hintern fiel.

Marco zog eine Augenbraue hoch. »Gut gemacht. Sie haben es soeben in die Uniauswahl geschafft.«

Die Matratze wackelte in seinen Händen, als eine Leiche gegen die andere Seite schlug; er hörte, wie Gewebe mit einem zischenden Geräusch riss, und wurde sich bewusst, dass der tote Mann in die Matratze gebissen hatte.

Er verstärkte den Griff. Lass sie jetzt nur nicht fallen. Sonst bist du im Arsch.

»Los!«, rief er.

Er ging etwas in die Knie und stürmte vorwärts. Er legte die ganze Kraft in die Beine, als ob er ein Auto anschob, und schleuderte die matratzenfressende Leiche aus dem Weg und dann mit Schwung die nächste Leiche und die nächste und wieder die nächste. Die toten Häftlinge schlugen gegen das Geländer, ohne dass sie imstande gewesen wären, an das leckere Fleisch hinter dem gepolsterten Schild zu gelangen. Wu folgte ihm und gab den schon angeschlagenen Leichen mit kräftigen Schlägen den Rest. Marco sprang über ein zuckendes Gewirr toter Gliedmaßen, als absolvierte er einen Hürdenlauf.

»Wir sind fast da«, sagte er atemlos halb zu Wu, halb zu sich selbst.

Sie mussten noch an fünf Zellen vorbei, dann hätten sie das Ende des Laufstegs erreicht. Dort führte wieder eine Treppe nach unten.

Drei Zellen … zwei …

Er walzte die nächste Leiche nieder und wollte schon einen Triumphschrei ausstoßen …

… doch dann verging ihm die Feierlaune schlagartig, als aus der letzten Zelle die größte gottverdammte Leiche wankte, die er jemals gesehen hatte. Zweihundert Kilo schwer und so breit wie der verfluchte Laufsteg. Ihr Kopf glich dem von Jabba the Hutt, und das Gesicht war mit einem dichten, bluttriefenden Bart bedeckt.

Das ist gar kein Bart, wurde Marco sich dann bewusst, und ihm wurde speiübel, während er wie ein wilder Stier weiterrannte. Eine tote Ratte hing der Leiche aus dem Mund, zwischen den Zähnen festgeklemmt …

Marco kollidierte frontal mit dem Riesen. Er verspürte einen stechenden Schmerz, sein Brustkorb wurde gestaucht und drohte die Lunge zu zerquetschen. Die Matratzenfedern wurden zusammengedrückt. Und dann prallte auch noch Wu gegen seinen Rücken, sodass er nun wie in einem grotesken Sandwich zwischen den Matratzen eingeklemmt war – fertig zum Verzehr. Doch dann geriet die fette Leiche ins Wanken und kippte um. Marco und Wu gingen mit der monströsen Qualle zu Boden und rollten auf die freie Seite des Laufstegs. Die Männer schlugen mit den Matratzen auf dem Gitterrost auf und blieben darauf liegen, alle viere von sich gestreckt. Keuchend lagen sie neben dem feisten Mann auf dem Boden.

Hinter ihnen – dort, wo sie hergekommen waren – war der Laufsteg schon wieder brechend voll. Die Leichen kamen in einer schier endlosen Prozession aus der Dunkelheit die Treppe herauf.

Wu kam mühsam wieder auf die Füße und fasste sich an die Schulter. »Was jetzt, Coach?«

»Wir müssen zur Treppe, die wieder nach unten führt«, sagte Marco. »Kommen Sie mit, hier geht’s lang.«

Sie ließen die Matratzen liegen und rannten vor den Toten davon. Der Laufsteg führte noch ungefähr dreißig Meter weiter. Hier war alles ruhig. Die Zellen waren leer, und die Männer erreichten nach kurzer Zeit das andere Ende. Die nächste Treppe führte einladend nach unten.

»Sehen Sie«, sagte Marco atemlos. »Kein Problem.«

Die Leichen rückten auf dem Laufsteg vor, doch er und Wu hatten nun einen freien Fluchtweg. Sie liefen mit einem deutlichen Vorsprung vor der Menge die Treppe hinunter und gelangten an der Rückseite des Zellenblocks wieder ins Erdgeschoss. Die Halle war still. Die Armee der hungrigen Häftlinge, die sich vor Kurzem noch hier befunden hatte, war verschwunden und verfolgte das Reiter-Quad durch die weitläufige Gefängnisanlage. Sie waren sicher. Zumindest fürs Erste.

Ohne Zeit zu verschwenden, liefen die Männer den leeren Gang entlang. Von hinten hörte Marco das Knurren der Toten, die in einer langsamen Verfolgung die Treppe herunterkamen. Schnell weiterlaufen, sagte er sich. Sie werden uns nicht mehr einholen. Wir dürfen nur keine anderen anlocken. Trotz aller Vorsicht hallte das Geräusch seiner gestiefelten Füße auf den Fliesen wider, und Wus schwerer Atem erhöhte den Geräuschpegel zusätzlich.

An der nächsten Ecke entdeckten sie eine Spur aus eingetrocknetem Blut und glitschigen braunen Eingeweiden. Sie führte fünfzig Meter weit durch die Halle und endete schließlich vor der zerfetzten Uniform eines Wärters.

Es steckte nichts mehr in den Kleidern, nicht einmal Knochen.

Das war richtig unheimlich.

Und dahinter ging ein dunkler Korridor vom Hauptblock nach rechts ab. Eine Metallplatte war an die Wand geschraubt. Darauf stand:

Block A

Block B

Krankenstation

Der Pfeil deutete den Quergang entlang.

»Wir sind schon da?«, sagte Marco. Er hörte Zweifel in seiner Stimme mitschwingen. Als hätte er eigentlich sagen wollen: Ist es schon zu spät, um umzukehren?

Und dann runzelte er die Stirn, als ein vertrautes Geräusch ihn aus den Gedanken riss. Es wurde lauter. Ein Motor …

»Sie haben uns gefunden«, sagte er nur.

Mit dem Kreischen eines aufgespießten Schweins schlingerte das Reiter-Quad am anderen Ende von Zellenblock B um die Ecke. Es brach aus und wäre fast gegen die Wand geprallt; doch es stabilisierte sich sofort wieder und raste mit schwarzen Abgaswolken auf Marco und Wu zu.

Monsterschädels aus Stein gemeißeltes Gesicht war auf dem Turm zu erkennen. Er sieht mich, dachte Marco.

»Weg hier«, sagte Wu eindringlich und rannte in den Korridor.

Marco folgte ihm und sah noch flüchtig, wie die Armee der Toten in den Zellenblock flutete. Sie befand sich dicht hinter dem Quad. Die ganze Gesellschaft war auf dem Weg zur Krankenstation.

Er machte sich vor Angst fast in die Hosen und sprintete den Verbindungsgang entlang. Es war ein langer, gerader Tunnel, der die Zellenblöcke mit der Krankenstation verband – es gab hier weder Fenster noch Licht, und er fühlte sich wie eine Maus, die von einer schwarzen Schlange verschluckt wurde. Wus Schatten flitzte ungefähr drei Meter vor ihm durch den Gang, und Marco folgte ihm. Einmal verlor er das Gleichgewicht und strauchelte; er betete, dass er nicht über irgendetwas Totes stolpern würde, das sich in der Dunkelheit verbarg.

Doch dann sah er etwas noch viel Schlimmeres.

Ach du Scheiße.

Der Schweiß auf seiner Haut verwandelte sich in Eiswasser.

Ach du Scheiße Scheiße Scheiße Scheiße.

Der Korridor wurde von einem Gitter blockiert – eine Sicherheitsschleuse, deren Tür geschlossen war. Wu erreichte die Tür als Erster, packte die dicken Stangen und zerrte daran.

Dann ließ er die Arme sinken und stieß einen frustrierten Schrei aus.

Sie saßen in der Falle.

Marco schaute entsetzt. Langsam drehte er sich um und ließ den Blick durch den Korridor zurückschweifen. Hundert Meter hinter ihnen war das Reiter-Quad in den Gang eingebogen und fuhr mit dröhnendem Motor durch die Dunkelheit – eine gespenstische Silhouette, die mit jeder Sekunde größer wurde. Und dahinter …

… folgten die Toten.

Auferstandene Häftlinge blockierten den Ausgang – den einzigen Fluchtweg. Eine undurchdringliche Masse aus verwesten, übel riechenden, blutverschmierten Kadavern wankte hinter dem Quad durch den Korridor, als ob die Reiter eine Halloween-Parade anführten. Marco war zum Lachen zumute – und dann hätte er sich beinahe übergeben. Monsterschädel hatte soeben Selbstmord begangen. Nur dass er es noch nicht wusste.

Und er reißt uns mit rein.

Marco sackte an der unüberwindlichen Tür zusammen; die kalten Eisenstangen gruben sich ihm in den Rücken.

Sackgasse.

11.3

So sinnlos. Das war alles, was Marco zu denken vermochte. Es war alles so sinnlos. Da hatte er nun diesen ganzen Mist überlebt – die letzten drei Tage, die letzten vier Jahre –, war so weit gereist und hatte so hart gekämpft. Nur um mehr als sechshundert Kilometer von zu Hause entfernt in einem muffigen Gefängniskorridor zu sterben, ohne auch nur das Geringste erreicht zu haben. Kein Roger. Keine Danielle. Scheiße, da hätte er sich am Tag eins der Auferstehung auch genauso gut in Stücke reißen lassen und sich den ganzen Ärger ersparen können. Denn das musste natürlich ein böses Ende nehmen; er hatte es von Anfang an gewusst. Mein Gott, wieso hatte er sich wider besseres Wissen auf die ganze Sache eingelassen?

Er geriet in Panik. Ein Panoptikum von Bildern erschien vor seinem geistigen Auge. Er sah sich selbst auf seinem Dachboden in Arizona in der Woche der Evakuierung. Wie er sich vor den Evakuierungs-Patrouillen versteckte, die seine Wohngegend durchkämmten. Wie er sich die Hände auf die Ohren presste, um ihr heftiges Klopfen an der Vordertür nicht hören zu müssen. Er hatte sich allein im Dunkeln verkrochen, schweißgebadet, mit eingetrocknetem Blut überzogen und von Angst gequält. Er würde Danielle finden, sagte er sich. Er würde hierbleiben und sie suchen. Irgendwo auf der Straße stieß ein Mann einen langen gequälten Schrei aus. Er presste sich die Hände noch fester auf die Ohren, bis sie schmerzten. Und er hörte seinen panischen Herzschlag, der selbst wie eine Stimme klang: Aber du bist doch kein Held, Henry

Halt’s Maul, rief er zurück. Ich werde sie schon finden. Halt’s Maul!

Und als ihn nun hier, im Gefängnis, nur noch wenige Momente von seinem Tod trennten, spürte er, wie seine Gedanken sich verselbstständigten, wie das Bewusstsein sich vom Körper löste – vom Gehirn und dem Schädel, den Knochen und Muskeln – und zum gottlosen Nichts emporstieg, von dem er wusste, dass es auf der anderen Seite des Lebens auf ihn warten würde. Er gab den Körper auf, damit er nicht den Schmerz spüren musste, wenn man ihm die Zähne ins Fleisch schlug und der heiße Hauch des Todes über die Organe streifte, wenn die Leichen ihn wie eine Ratte zerrissen …

Oder, wenn er Glück hatte, würde Monsterschädel ihn vorher erschießen.

So sinnlos.

Das Reiter-Quad hatte inzwischen die Hälfte des Korridors hinter sich gelassen und beschleunigte. Monsterschädel hatte die Gittertür nun auch gesehen. Der Kommandant stieß einen unverständlichen Fluch aus und schlug mit der Faust auf die Verkleidung des Turms. Hinter ihm setzten die hungrigen Leichen ihren Vormarsch unaufhaltsam fort …

Wu ging neben Marco in Kampfstellung und streckte dem Feind sein Messer entgegen. Sein Gesicht war grimmig, die Haut verschwitzt. »Ich glaube«, sagte er ohne jede Gefühlsregung, »dass das hier bald vorbei ist.«

Marco umklammerte den geriffelten Griff der M9. Er erinnerte sich nicht mehr, wie viele Patronen er noch übrig hatte. Fünf, sechs? Spielte keine Rolle. Nicht genug. Nicht annähernd genug.

Er schloss die Augen und schwor sich, sie nicht wieder zu öffnen. Geschehe, was da wolle.

Doch dann wurde er plötzlich durch ein penetrantes, lautes Summen aufgeschreckt.

ZRRRRRRRRRRRRR.

Er riss die Augen auf. Über ihm an der Decke war unter einer zylindrischen Abdeckung ein flackerndes rotes Licht angegangen.

Das gibt’s doch nicht.

Im Rücken spürte er, dass sich die Tür öffnete.

»Heilige Scheiße …«, sagte er atemlos.

»Sie ist offen«, bestätigte Wu. Sein Gesicht reflektierte das rote Licht der Lampe. Schweißperlen glühten auf seiner Stirn wie Tropfen geschmolzenen Bleis.

Marco zögerte nicht, stellte auch keine Fragen; er war einfach nur heilfroh über diese völlig unerwartete Wendung. Er drückte fest gegen die Gitterstäbe, und während der penetrante Summer oben weiter blökte – ein Geräusch, das lieblicher in seinen Ohren klang als sämtliche Hymnen, die er je gehört hatte –, glitt die Tür ruckartig zur Seite und eröffnete ihnen einen über einen halben Meter breiten Fluchtweg. Er schlüpfte hindurch, und Wu folgte ihm auf dem Fuß.

»Zumachen!«, sagte Wu schnaufend und außer Atem und warf sich mit dem gesunden Arm mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Das Reiter-Quad war inzwischen auf der anderen Seite angekommen. Das Fahrzeug kam etwa drei Meter entfernt schlitternd zum Stehen, und Monsterschädel stieß einen bellenden Schrei aus. Er und sein Fahrer stiegen vom Quad herunter, rannten los und versuchten verzweifelt, die halb offene Tür zu erreichen …

… und Marco kam Wu zu Hilfe, packte die Eisenstangen mit seinen verbrannten Händen und zerrte an der Tür. Stöhnend bewegte die rostige Tür sich auf den Rollen und schlug gegen den eisernen Türrahmen, gerade als Monsterschädel sie mit seinen dicken, behaarten Fingern packte …

… und der Summer verstummte, und das rote Licht erlosch. Die Tür fiel mit einem lauten metallischen Klicken ins Schloss, die Riegel schnappten ein.

Benommen und schnaufend lugte Marco durch die Gitterstäbe. Monsterschädel erwiderte seinen Blick finster. Er war nicht einmal dreißig Zentimeter von ihm entfernt, aber durch diese schicksalhafte Wendung unaufhebbar von ihm getrennt – ein Mann war verdammt, der andere erlöst. Aus der Nähe funkelten die schwarzen Augen des Kommandanten wie glühende Kohlen – wenn Blicke hätten töten können. Seine vernarbten Lippen verzogen sich zu einem hasserfüllten Grinsen. Er war bereit, seine Strafe anzunehmen.

Der Reiter-Chauffeur sah das aber nicht so gelassen. Er stieß einen entsetzten Schrei aus und zerrte an den Stangen, doch die Tür gab keinen Millimeter nach. Er war noch jung, hatte große Ohren, picklige Wangen und einen flaumigen Bart. Er trug eine olivgrüne Montur, die ihm um die schmächtige Brust schlackerte. Er war noch ein Teenager, irgendjemandes Kind, das keine zwanzig Jahre alt werden würde. Seine Augen weiteten sich bei dieser Erkenntnis, und er zog seine Pistole und betrachtete sie, schwenkte sie und fragte sich, wie er sie am besten einsetzen sollte – sollte er die Leichen oder Marco oder doch sich selbst erschießen? Und dann wirbelte er keuchend herum und rannte zum Quad zurück, um sich der Feuerkraft der Browning zu bemächtigen, doch zu spät …

So sinnlos.

… denn die Leichen fielen über ihn her, drückten ihn unaufhaltsam gegen die Stangen und begannen, ihn aufzufressen. Er stieß einen schrillen Schrei aus, ein Ausdruck höchster Qual, der Marcos Trommelfelle wie blutige Nägel durchstach; und Marco taumelte entsetzt vier, fünf, zehn Schritte zurück, als die toten Häftlinge den Jungen regelrecht zerfetzten. Eine Leiche mit einem Warzengesicht biss dem Soldaten in sein großes Ohr und riss es ab; das Körperteil, an dem Knorpelstränge und Fleischfetzen hingen, knirschte wie ein blutiger Krapfen zwischen den Zähnen des Kadavers. Der Junge stieß einen gurgelnden Laut aus und erbrach gelb-braune Galle und Blut …

… und neben dem sterbenden Teenager war Monsterschädel, der von der Horde gegen die Gitterstäbe gedrückt wurde. Er hatte die Arme weit ausgebreitet, als würde er gekreuzigt. Die toten Münder bissen ihm in die Schultern, in den Bizeps, die Unterarme, die Finger, und er schaute Marco noch immer unverwandt und trotzig an. Er weigerte sich aufzuschreien; der ganze Körper des Mannes verkrampfte sich, als hätte man ihm einen Stromschlag versetzt, und die Adern an den Schläfen des kahlen Kopfes schlängelten sich wie Blitze. Er biss sich so fest auf die Lippe, dass er Blut spuckte und die Unterlippe abriss. Er spuckte sie durch die Gitterstäbe auf Marco.

Und dann ereilte ihn der Tod.

Klauenartige Hände gruben sich in die knochigen Schläfen des Kommandanten – über den Ohren, unter den Augenbrauen und in die Augenhöhlen –, und mit einem langsamen, furchtbaren, feuchten, schmatzenden Knacken brach der große Schädel auseinander. Die Leichen zertrümmerten die Schädeldecke und lösten Bruchstücke ab, als schälten sie ein hart gekochtes Ei, und das Gehirn quoll heraus, und Marco würgte, als das Gesicht des Mannes förmlich umgestülpt wurde – wie ein roter, feuchter Lappen mit unglaublich runden, weißen Augäpfeln.

Einen letzten Moment lang sahen die Augäpfel ihn noch hasserfüllt an. Und dann rollten die beiden Kugeln zurück in die blutige Masse, die einmal das Gesicht des Mannes gewesen war, und die Nervenimpulse in den zuckenden Gliedmaßen erstarben. Monsterschädel bewegte sich nicht mehr. Sein Blut bildete eine Pfütze auf dem Boden, drang unter der Tür hindurch und floss auf Marco und Wu zu, während die Leichen ihre Beute verschlangen.

Unzählige tote Häftlinge schlugen gegen die Tür, streckten ihre verfärbten Arme durch die Gitterstäbe und fuchtelten in der Luft herum. Bettelten um Fleisch.

Marco machte einen Satz, als Wu ihn am Ellbogen berührte.

»Wir sollten besser weitergehen«, sagte Wu. »Für den Fall, dass die Tür sich doch wieder öffnet.«

»Aber … wie?«

»Ich weiß nicht, Doktor. Lassen Sie uns einfach gehen.«

»Auf dieser Seite gibt es Strom.« Marco runzelte die Stirn und erinnerte sich daran, was er in der Nacht zuvor gesehen hatte, als er den Blick über das Gefängnisgelände hatte schweifen lassen. »Letzte Nacht habe ich ein Licht bemerkt.«

Er sah sich um und stellte fest, dass Wu schon den Gang entlanglief. Er rannte ihm nach und war froh, der Übelkeit erregenden Geräuschkulisse an der Gittertür zu entgehen – den schmatzenden Mündern, dem glitschigen Fleisch. Und man hörte ein Knacken, als ob jemand herzhaft in einen saftigen Apfel biss. Schrille Schreie, als die Leichen sich um eine Handvoll Fleischfetzen stritten. Und am schlimmsten überhaupt war ein tiefes, zufriedenes Murmeln – mmmm, mmmm – das Geräusch von Tafelnden, die ihre Mahlzeit genossen. Ein delikates, hervorragendes Essen.

Mehr sind wir auch nicht für sie, dachte Marco. Nur Essen. Keine Menschen.

Überwältigt von diesem Horror ergriff er die Flucht.

11.4

Er rannte ungefähr fünfzehn Meter weit, bis der Korridor in einen kleinen Vorraum mündete. Es schien sich um eine Art Empfangsbereich zu handeln. Hier drin war es heller; es war bereits Frühstückszeit, und das Sonnenlicht fiel durch ein Oberlicht in der gewölbten Decke und zeichnete ein weißes Rechteck auf den ansonsten noch dunklen Boden. Ein hüfthoher Tresen stand rechts neben Marco und teilte den Raum in zwei Hälften; die nackte Oberfläche war mit roten Handabdrücken übersät.

Wu beugte sich über den Tresen und verkrampfte sich. Dann entspannte er sich wieder.

Auf dem Boden lag die kopflose Leiche eines Wärters neben einem umgekippten Drehstuhl. Leere Patronenhülsen einer Pumpgun waren auf den Fliesen verstreut. Die Waffe selbst war nicht sehen.

»Nun wissen wir zumindest, dass er uns nicht durchgelassen hat«, sagte Marco.

Ein leises Summen lenkte seine Aufmerksamkeit auf ein Regal hinterm Tresen. Er beugte sich hinüber und sah eine Reihe von acht Überwachungsmonitoren, auf denen wie bei einem Miniatur-Filmfestival mehrere Übertragungen simultan liefen. Es handelte sich aber nur um unscharfe Schwarz-Weiß-Bilder. Er sah den Hof aus zwei verschiedenen Blickwinkeln – auf einem Bildschirm den verlassenen Militär-Lkw an der Ziegelsteinmauer und auf dem zweiten Leichen, die durch den zerrissenen Zaun strömten. Daneben war das Erdgeschoss des Zellenblocks B, der nun wieder leer war und geradezu unheimlich wirkte, und die obere Galerie, mit den Leichen übersät, die Marco mit der M9 niedergemäht hatte. Und da war auch die fette Leiche, die noch immer wie eine Schildkröte auf dem Rücken lag und mit ihren kurzen, dicken Gliedmaßen in der Luft zappelte.

Auf dem nächsten Bildschirm sah er die verriegelte Sicherheitsschleuse. Die Leichen hatten noch nicht aufgegeben. Sie stürmten zornig und mit voller Wucht gegen die Tür; tote Gesichter lugten durch die Gitterstäbe, und ihre desolaten Körper drängten sich so dicht, dass sie eher einer festen Masse glichen als einzelnen Individuen. Wie eine tausendköpfige Hydra.

Marco drehte sich zu Wu um. »Wir haben eine gute Show für die Kamera geboten. Action pur.«

»Einer fehlt.«

»Was?«

»Ein Monitor«, sagte Wu. »Sehen Sie doch.«

Er hatte recht. In der unteren Reihe der Bildschirme klafften eine Lücke und ein Loch in der Platte, wo ein Kabel befestigt gewesen war.

»Interessant«, sagte Marco. »Irgendjemand hat ihn sich ausgeliehen.«

Eine in der Ecke der Decke montierte Überwachungskamera registrierte seine Reaktion mit einem stummen schwarzen Auge. Ein kleines rotes Licht blinkte an der Seite. Marco stellte sich vor, dass von dieser Linse tentakelartige Kabel ausgingen, die sich durch die schimmligen Wände zogen und in der Krankenstation verzweigten – ein mechanischer Torwächter, der dem verborgenen Hausherrn die beiden Neuankömmlinge vorstellte.

Plötzlich verspürte Marco ein Unbehagen und verengte die Augen, als könnte er mit der richtigen Fokussierung die Linse durchdringen. Sein Puls raste im Takt des roten Blinklichts.

»Wir sind da«, murmelte er. »Wir kommen jetzt rauf.«

Am Ende des Empfangsbereichs stand noch eine Gittertür offen und gewährte ihnen Einlass in einen leeren, kahlen Gang mit hallender Akustik; Marco räusperte sich, und das Echo dröhnte durch den Korridor. Ein Gestank lag in der Luft. An der rechten Wand stand eine fahrbare Krankentrage. Die Auflage wurde durch einen hässlichen Fleck verunstaltet, bei dem es sich vielleicht um Blut oder Exkremente handelte. Als die Männer näher kamen, huschte eine Ratte quietschend zwischen den Rädern der Bahre hindurch und rannte im Zickzack zum anderen Ende des Flurs. Dort bog sie mit einer Zuckung des Schwanzes um die Ecke. Es sah aus, als hätte die Ratte ihnen den Stinkefinger gezeigt.

Die Männer folgten ihr. Der Korridor mündete in einen Quergang, der nach links und rechts abzweigte. Marco sicherte mit der M9 in beide Richtungen. Aber es war alles ruhig, und nicht einmal die Ratte zeigte sich. Da waren nur Reihen von … Zellen, wie er nun sah. Doch sie unterschieden sich von denen in dem Gefängnisblock. Diese Zellen waren nicht vergittert – sie hatten Metalltüren mit kleinen Gucklöchern auf Augenhöhe, um inhaftierte Patienten zu beobachten.

Die Türen waren geschlossen und, wie Marco inständig hoffte, auch verschlossen.

»Welche Richtung?«, fragte Wu.

Marco zuckte die Achseln. »Die Ratte ist nach links gelaufen. Ob das etwas zu bedeuten hat?«

Wu warf ihm einen Blick zu. »Mein Onkel hätte gesagt, dass Ratten Glück bringen.«

»Ob man sich bei einer Frage von Leben und Tod von einem chinesischen Aberglauben leiten lassen sollte? Ach, wieso nicht, zum Teufel. Also nach links.«

Sie bogen in den muffigen Gang ein. Er war verlassen und die Deckenbeleuchtung ausgeschaltet. Stromsparen, vermutete Marco. Ein ungutes Gefühl legte sich wie eine Klammer um seine Brust und erschwerte ihm das Atmen. Vorsichtig lugte er durch das Guckloch in der ersten Tür. Es war dunkel, doch er vermochte das Innere zumindest schemenhaft zu erkennen. Die Zelle war leer. Kein Häftling drin. Nur ein unordentliches Krankenhausbett mit einem aufgestellten Kopfteil und einem einsamen Infusionsständer, der wie ein Kleiderständer in der Ecke stand. Auf dem Boden lag ein umgedrehtes metallenes Esstablett. Er betätigte die Türklinke.

Verschlossen.

Die nächsten zwei Zellen waren auch unbelegt; doch als Marco an der dritten vorbeiging, stieg ihm schlagartig ein übler Gestank in die Nase. Es roch nach abgestorbenem Gewebe – ein medizinischer Horror, den er in seiner Dienstzeit am Cedars-Sinai erlebt hatte und den er niemals vergessen würde. Als würde einem ein heißer Schneebesen durch die Nase geschoben und das verdammte Gehirn verquirlt. Mein Gott, dachte er würgend. Der Gestank klebte förmlich an ihm. Er hielt sich die Hand vor die Nase.

Das rechteckige Fenster in der Tür wimmelte nur so von Fliegen, und aus dem Inneren der Zelle hörte er eine Bewegung … ein leises, klimperndes Geräusch, als würden Münzen in ein Sparschwein geworfen.

Er warf Wu einen Blick zu. Der Sergeant hatte die Lippen fest zusammengepresst und die Kiefermuskulatur angespannt, als ob er einen Brechreiz unterdrückte.

Vorsichtig wischte Marco die Fliegen vom Guckloch und blickte durch die Öffnung ins dunkle Innere. Der Gestank wurde noch intensiver, und er musste den Kopf drehen und erst einmal durchatmen.

»Ach du Scheiße …«

Eine Leiche lag auf dem Krankenhausbett in der Zelle. Sie war nackt, die Haut rissig wie Rinde. Es war ein Mann, ohne Zweifel, doch wo sich einmal seine Genitalien befunden hatten, war nur noch eine Vertiefung. Die atrophierten Arme und Beine waren mit Handschellen an das Bettgestell gefesselt – zu fest, denn die Hände und Füße waren durch den Blutstau wie schwarze Kürbisse aufgebläht. Fliegen summten um den Mund herum, und die Leiche schnappte mit der vertrockneten Zunge nach ihnen, erwischte jedoch keine. Sie grunzte, und die Handschellen klimperten an den Gliedmaßen – das metallische Geräusch, das Marco zuvor gehört hatte.

Ein Infusionsständer stand wie eine Krankenschwester am Bett. Am Haken baumelte ein Polyvinyl-Beutel, der prall mit einer öligen, braunen Flüssigkeit gefüllt war; von der Unterseite des Beutels ging ein Schlauch aus, der unter einem blutigen Verband am kahlen Kopf der Leiche verschwand.

»Was gibt’s denn da?«, fragte Wu besorgt.

»Sehen Sie selbst.« Marco trat zur Seite, und Wu sah durch das Guckloch.

Wu genügte ein flüchtiger Blick, um sich ein Bild zu machen. »Ein Patient?«, fragte er und trat zurück. »Den man ruhiggestellt und vergessen hat, als das Gefängnis gestürmt wurde.«

Marco schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie einen Patienten mit einer Infusion im Kopf gesehen. Jedenfalls nicht so.«

»Wie dann?«

Marco schluckte mühsam, ignorierte die Frage und ging weiter den Korridor entlang. Das Unbehagen, das sich schon die ganze Zeit in ihm aufgestaut hatte, ergriff nun völlig von ihm Besitz. Der üble Gestank im Flur wurde noch schlimmer; er stellte sich vor, wie er sich durch einen Tunnel aus Bakterien, Eiter und verfaultem, von Maden befallenem Fleisch wühlte. Er hörte auch in anderen Zellen Bewegung – klimper, klimper –, doch er warf keinen Blick mehr hinein. Das musste wirklich nicht sein.

Er wusste auch so schon Bescheid.

Ihm traten Tränen in die Augen – wegen des Gestanks, versuchte er sich einzureden. Es ist alles in Ordnung. Geh einfach weiter. Er lief an drei weiteren Zellen vorbei. Vorne bog der Korridor wieder nach links ab.

Er atmete tief durch, um sich für den Anblick zu wappnen, mit dem er vielleicht gleich konfrontiert würde, und bog um die Ecke.

Noch mehr Zellen, die sich vielleicht auf einer Länge von etwa dreißig Metern durch die Finsternis zogen. Dunkle, verschlossene Türen.

Bis auf die letzte Tür, die Zelle ganz hinten am Ende des Korridors. Sie stand offen. Gelbes Licht drang aus der Türöffnung und tanzte auf dem Boden.

Los geht’s, sagte Marco sich. Seine Hand zitterte, und er wurde sich bewusst, dass seine Finger sich um den Griff der M9 verkrampft hatten. Das Herz schien irgendwo außerhalb seiner Brust zu schlagen; irgendwie hatte es sich selbstständig gemacht und galoppierte nun den Gang entlang.

»Seien Sie vorsichtig«, flüsterte Wu.

»Ich gebe mir Mühe«, sagte Marco. Er ging langsam weiter, doch seine Schritte waren immer noch zu laut – obwohl es darauf auch nicht mehr ankam. Damit würde er niemanden täuschen können.

Gefolgt von Wu ging er angespannt und in banger Erwartung den Gang entlang.

Sein letzter Gang. Sagten das nicht immer Wärter in Knaststreifen, wenn sie jemanden in die Hinrichtungszelle geleiteten? Marco war zum Lachen zumute. Hier hatten allzu viele den letzten Gang angetreten. Und war da nicht auch immer ein Priester, der mit ernster Mine aus der Bibel vorlas?

Und wenn ich auch wanderte durchs Tal der Todesschatten

Er erreichte die Grenze des Lichtkegels, die offene Tür, und atmete noch einmal durch.

Dann trat er ins Licht.

Er hatte schon mit der Stimme gerechnet, die ihn begrüßte.

»Hallo, Henry.«

Marco rang sich ein Lächeln ab.

»Hallo, Roger.«